Multinationale Unternehmen in Westeuropa seit dem Ende des Booms. Von der deutsch-französischen Kooperation zwischen Hoechst und Roussel Uclaf zu Sanofi-Aventis (1968–2004)[1]
Von Christian Marx
Als Jean-Jaques Servan-Schreiber 1968 vor der amerikanischen Herausforderung – Le Défi américain – warnte, zielte er weniger auf die technologische Überlegenheit der US-Firmen, vielmehr richtete er sein Augenmerk auf die Eroberung zentraler europäischer Industriestrukturen durch US-Konzerne. Demnach bestand die Gefahr, dass in der Rangfolge der industriellen Weltmächte nach den USA und der Sowjetunion bald nicht mehr die europäischen Staaten, sondern die US-Unternehmen in Europa auf Platz drei stünden. Diskussionen über das Für und Wider amerikanischer Direktinvestitionen in Westeuropa waren nicht neu, gleichwohl hatte deren Bestand seit der Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) 1958 stark zugenommen. In einigen Schlüsselbereichen des technisch-industriellen Fortschritts nahmen US-Unternehmen schon Mitte der 1960er-Jahre in Europa eine beherrschende Stellung ein. Das Buch verdeutlichte damit die Notwendigkeit einer grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in Westeuropa, wenn man sich nicht vollständig in die Abhängigkeit der USA begeben wollte.[2]
Mit seiner These erreichte Servan-Schreiber ein breites Publikum. Dabei kann die dem Buch zuteil gewordene hohe Aufmerksamkeit vor dem Hintergrund fallender ökonomischer Wachstums- und Beschäftigungszahlen am Ende des Booms mit einer Mischung aus tagespolitischer Aktualität, latentem Antiamerikanismus und Bedenken gegenüber der Macht multinationaler Konzerne erklärt werden. In einer Serie des Magazins Der Spiegel wurde 1974 ebenfalls vor der „Macht der Multis“ gewarnt, die sich aufgrund ihrer nationalen Ungebundenheit rechtlichen Sanktionen entziehen und sowohl souveräne Staaten als auch einzelne Gewerkschaften gegeneinander ausspielen könnten. Obwohl die Spiegel-Serie vor allem Konzerne mit ausländischen Mutterunternehmen ins Visier nahm – besonders Ölkonzerne wie BP, Shell oder Texaco –, wurde hier bereits auf den Kauf eines amerikanischen Anilinwerks durch den deutschen Chemiefabrikanten Friedrich Bayer im Jahr 1865 verwiesen.[3] Multinationale Unternehmen und ausländische Direktinvestitionen waren somit kein Novum der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, auch wenn ihre Bedeutung hier deutlich zunahm. Deutsche Firmen hatten schon im 19. Jahrhundert ausländische Distributionswege erschlossen und Produktionskapazitäten aufgebaut. Zwar enteigneten die Alliierten nach dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg zahlreiche deutsche Unternehmen im Ausland, dennoch gelang es der westdeutschen Industrie in den Boomjahren nach 1945 wieder Fuß auf dem Weltmarkt zu fassen.[4]
Die Verhandlungen über eine deutsch-französische Kooperation am Ende des Booms
Das Ende des europäischen Nachkriegsbooms fiel zeitlich mit der stufenweisen Realisierung der 1958 in Kraft getretenen Römischen Verträge und dem wachsenden internationalen Wettbewerb ab Mitte der 1960er-Jahre zusammen. In Verbindung mit dem Vordringen multinationaler Konzerne aus den USA schuf dies einen erheblichen Anreiz für eine grenzüberschreitende Zusammenarbeit europäischer Unternehmen. Schon kurz nach Entlassung aus alliierter Zwangsverwaltung 1952 hatten sich die westdeutschen Unternehmen bemüht, erneut auf die europäischen Märkte vorzustoßen, und Mitte der 1960er-Jahre bauten Bayer und BASF neue Großanlagen in Antwerpen auf, gleichwohl erhöhte sich das Tempo der Multinationalisierung am Ende des Booms noch einmal.[5]
Neben Auseinandersetzungen um lukrative Unternehmensbeteiligungen mit den beiden anderen großen IG Farben Nachfolgern, BASF und Bayer, stellte die Rückeroberung der Auslandsmärkte für die Farbwerke Hoechst AG ein zentrales Unternehmensziel während der Wirtschaftswunderjahre dar. Ähnlich wie die Leverkusener Bayer AG drang auch Hoechst über Handels- und Verkaufsvertretungen ins Ausland vor und konnte an seine Erfahrungen aus der ersten Jahrhunderthälfte anknüpfen.[6] In Frankreich und Großbritannien begann die Rückerschließung der Märkte über Vertriebsvertretungen, wie die Société Peralta oder die Lawfer Chemical Company, die sich in den folgenden Jahren zu den typischen Landesgesellschaften (Société Française Hoechst bzw. Hoechst U.K. Ltd.) entwickelten.[7] In den USA gründete Hoechst 1953 die Intercontinental Chemical Corporation (ICC) und übernahm zahlreiche Vertriebsgesellschaften, bevor ICC 1961 in American Hoechst Corporation (AHC) umbenannt wurde.[8]
Da unternehmerisches Wachstum nach dem Boom vorrangig auf Unternehmensakquisitionen beruhte, entwickelten sich die spezifischen Fähigkeiten und Eigenschaften des Übernahmekandidaten oder Fusionspartners zu entscheidenden Motiven. Die Gründe für die Zusammenarbeit mit dem französischen Pharmakonzern Roussel Uclaf lagen vor allem in dessen Kenntnissen in der Pharmaforschung und dessen Stellung auf dem französischen Markt, aber auch in dem Ziel, mit einer starken deutsch-französischen Gruppe auf dem zusammenwachsenden europäischen Markt präsent zu sein. Dies wird aus dem 1988 entstandenen Bericht anlässlich der 20-jährigen Kooperation zwischen Hoechst und Roussel Uclaf ersichtlich, der in der von der Unternehmensleitung herausgegebenen Mitarbeiterzeitschrift Uclafilm abgedruckt wurde und diesem Artikel als Quelle beigefügt ist.[9] Der Ursprung des Unternehmens Roussel Uclaf ging auf die Gründung des Familienbetriebs Laboratoire du Docteur Roussel durch Gaston Roussel vor dem Ersten Weltkrieg 1911 zurück. Dieser hatte mit Albert Caldairou und Alfred Lindeboom 1920 zunächst das Institut de Sérothérapie Hémopoïétique (ISH) ins Leben gerufen, 1928 erfolgte mit dem Bau der Usines Chimiques des Laboratoires Françaises (Uclaf) in Romainville als erster Produktionsstätte für Pharmazeutika aus chemischen Grundstoffen ein entscheidender Schritt in der Unternehmensentwicklung. Unter der Leitung von Jean-Claude Roussel, dem Sohn von Gaston Roussel, wurden die bestehenden Fabriken und Laboratorien 1961 zur Roussel Uclaf-Gruppe zusammengeschlossen. Noch in den 1920er-Jahren waren Filialen in Spanien, Italien und Belgien eröffnet worden, in den 1930er-Jahren folgten weitere Gründungen in Mexiko, Brasilien und Argentinien. Bei der Ende der 1960er-Jahre zwischen Hoechst und Roussel Uclaf vereinbarten Zusammenarbeit standen sich somit zwei Unternehmen mit zahlreichen ausländischen Beteiligungen gegenüber, auch wenn der Kern des Geschäfts in beiden Fällen auf Europa ausgerichtet war.[10]
Neben Marktzugangschancen und Wissen in der Pharmaforschung spielten unternehmensspezifische Entwicklungen auf der Eigentumsebene des französischen Unternehmens eine entscheidende Rolle, die von wirtschaftswissenschaftlichen Erklärungsansätzen zur Multinationalisierung – wie John Dunnings eklektischem Paradigma[11] – nur unzureichend erfasst werden. Als sich der Miteigentümer Henri Roussel dazu entschloss, seine Firmenanteile zu veräußern, fädelte sein Bruder und Firmenchef Jean-Claude Roussel 1968 im Zuge einer Kooperationsvereinbarung den Verkauf von 43 Prozent der Roussel Uclaf kontrollierenden Holding Compagnie Financière Chimio an Hoechst ein. Persönliche Gespräche zwischen Jean-Claude Roussel und Hoechst-Vorstand Kurt Lanz hatten ein Vertrauensverhältnis geschaffen, das eine zuvor erwogene Abgabe des französischen Pakets an den westdeutschen Konkurrenten Bayer verhinderte. Die Bayer-Direktoren Walter Salzer, Kurt Hansen, Franz J. Geks und Ernst Schraufstätter hatten im April 1968 die Fabriken von Roussel Uclaf im Raum Paris besichtigt, um sich ein Bild über den technischen Stand der Anlagen zu machen. Die Idee Jean-Claude Roussels, Bayer für 40 Millionen Dollar einen 40-prozentigen Minderheitsanteil an der Holding-Gesellschaft Chimio einzuräumen, stieß bei Bayer auf strikte Ablehnung. Der Bayer-Vorstand bestand auf eine Beteiligung von mindestens 51 Prozent, um dirigierend in das französische Unternehmen eingreifen zu können, und verhandelte parallel mit dem französischen Chemiekonzern Rhône-Poulenc über die Möglichkeit eines gemeinsamen Vorgehens bei Roussel Uclaf. Doch noch im Juni 1968 traf Roussel Uclaf mit Hoechst eine Vereinbarung, wonach etwas mehr als 40 Prozent des Aktienkapitals an Hoechst übergingen, sodass Bayer seine Bemühungen einstellen musste. Jean-Claude Roussel erwartete bei dieser Konstruktion keine Einwände des französischen Staates, da die Mehrheit in Händen französischer Aktionäre blieb, und zeigte sich über die geplante Koalition von Bayer und Rhône-Poulenc verärgert.[12] Einer geheimen Nebenvereinbarung zufolge war Hoechst im Fall eines Ablebens des Roussel Uclaf-Präsidenten das Recht eingeräumt worden, die Mehrheit des französischen Pharmaunternehmens zu erwerben. Dieses Vorkaufsrecht wurde dem französischen Staat zunächst nicht angezeigt; vor dem Hintergrund der europäischen Integration rechneten beide Vertragspartner in absehbarer Zeit ohnehin mit einem freien Geldaustausch zwischen den EWG-Staaten. Als Jean-Claude Roussel 1972 bei einem Unfall unerwartet verstarb, machte Hoechst von diesem Recht Gebrauch und verleibte sich bis 1974 die Aktienmehrheit ein. Mit dieser Akquisition – der bis dahin größten Einzelinvestition von Hoechst im Pharmabereich – stieg der westdeutsche Konzern zum weltweit größten Pharmahersteller auf.[13]
Die europäische Chemie- und Pharmaindustrie in den Krisen der 1970er-Jahre (1968–1981)
Die 1970 bei Hoechst etablierte multidivisionale Unternehmensstruktur umfasste neben Fasern, Filmen und Folien organische und anorganische Chemikalien, Farbstoffe, Kunstharze und Lacke, die Pharmazeutik, die Agrochemie sowie Kunststoffe und Kosmetik.[14] Im Vergleich hierzu war das Produktspektrum des französischen Partnerunternehmens Roussel Uclaf wesentlich homogener. Etwa drei Viertel des Umsatzes entfielen 1970 auf pharmazeutische und therapeutische Mittel, daneben stellte das Unternehmen lediglich einige Produkte für die Landwirtschaft und die mechanische Industrie her.[15] Die westdeutschen Unternehmen waren hingegen stärker in unterschiedlichen Bereichen der Chemieindustrie tätig. Sie nutzten den technologischen Vorsprung gegenüber ihren Konkurrenten, hatten die Diversifikation vorangetrieben und waren deshalb – anders beispielsweise als ihre US-Wettbewerber – oft parallel im Pharmageschäft präsent. Alfred Chandler zufolge blieben die deutschen und schweizerischen, chemischen und pharmazeutischen Industrieunternehmen nach dem Zweiten Weltkrieg deshalb die Hauptkonkurrenten amerikanischer Firmen. Die Markteintrittsbarrieren in der Chemieindustrie waren nach 1920 so groß, dass es für Newcomer nur schwer möglich war, Marktanteile zu erobern.[16]
Der Zusammenschluss bestehender Chemieunternehmen war deshalb eine Form der Unternehmensexpansion, die im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts an Bedeutung gewann. Die Verbindung zwischen Hoechst und Roussel Uclaf erwies sich vor allem als „belle alliance“, da sich der Hoechster Pharmabereich mit Präparaten gegen Zuckerkrankheiten sowie Herz- und Kreislaufmitteln und die Stärken von Roussel Uclaf bei Hormonen, Psychopharmaka und Naturstoffen gut zusammenfügten.[17] Der Rückblick auf die 20-jährige Kooperation zwischen Roussel Uclaf und Hoechst verweist neben Cross-Licensing, also auf Abkommen zur wechselseitigen Nutzung von Patenten, vor allem auf die gemeinsamen Forschungsanstrengungen, die bei Roussel Uclaf 15 bis 20 Prozent des Forschungsbudgets ausmachten und sich besonders in Erfolgen von Antibiotika-Produkten niederschlugen. Seitens Roussel Uclaf hob man immer wieder die Unabhängigkeit und Komplementarität beider Unternehmensgruppen hervor. Nicht nur die Produktgruppen ergänzten sich, vielmehr wurden auch Absprachen hinsichtlich der geografischen Aufteilung von Märkten getroffen. Während Hoechst in Südostasien, Ägypten und Nordeuropa für Roussel Uclaf produzierte, übernahm Roussel Uclaf die Pharma-Fabrikation in Großbritannien und Belgien. Gleichzeitig profitierte Roussel Uclaf von den zahlreichen Distributionswegen des westdeutschen Konzerns im Bereich der Agrochemie.[18] Die Unabhängigkeit beider Unternehmen zeigte sich zum einen im Fortbestehen paralleler Strukturen im Ausland – wie in Japan –, zum anderen in der Besetzung der Leitungsorgane von Roussel Uclaf. Hoechst beanspruchte lediglich einige Posten im Aufsichtsrat, wohingegen das Direktorium weiterhin durch Franzosen geprägt war.[19]
Obschon das pharmazeutische Produktportfolio der beiden Unternehmen harmonierte, war der neue multinationale Konzern nicht vor den Krisen der 1970er-Jahre gefeit. Sowohl der Zusammenbruch des Währungssystems von Bretton Woods und die hierdurch ausgelösten Währungsschwankungen als auch der Anstieg der Rohstoffpreise Anfang der 1970er-Jahre und die beiden Ölpreiskrisen erschwerten den geschäftlichen Erfolg. Im Vergleich mit anderen Sparten erwies sich die Pharmaproduktion zwar als krisenresistenter, dennoch ging auch der Nettogewinn von Roussel Uclaf 1975 um mehr als 40 Prozent gegenüber dem Vorjahr zurück. Umfangreiche Anpassungen in Form eines Kapazitätsabbaus und der Umstellung auf höherwertige Produkte musste Hoechst vor allem in der Chemiefaser- und Kunststoffproduktion vornehmen. Der zunehmende internationale Wettbewerb durch neue Faserkapazitäten in Asien sowie hohe Kostensteigerungen konnten nicht aufgefangen werden und verursachten 1975 in der Hoechst-Fasersparte einen Verlust von einer Viertelmilliarde DM, wodurch der Jahresgewinn des Gesamtkonzerns deutlich zusammenschmolz.[20] Sowohl bei Hoechst als auch bei Roussel Uclaf stiegen die Gewinnzahlen am Ende der 1970er-Jahre wieder deutlich an, doch die mit der zweiten Ölpreiskrise verbundene Wirtschaftskrise wirkte sich abermals negativ auf die Ertragslage aus.
Nationalisierung und Chemieboom in den 1980er-Jahren (1981–1994)
Nach Überwindung der Wirtschaftskrise 1982/83 erlebte die westeuropäische Chemieindustrie einen in den 1970er-Jahren kaum für möglich gehaltenen Aufwärtstrend. Beide Unternehmensteile konnten ihre Erträge enorm steigern und die Hoechst AG verzeichnete 1989 mit weit über einer Milliarde DM einen Rekordgewinn. Doch nach dem Wahlsieg der französischen Sozialisten unter François Mitterand 1981 musste der deutsche Konzern zunächst um seine Einflussmöglichkeiten beim französischen Partnerunternehmen bangen. In Übereinstimmung mit gewerkschaftlichen Forderungen legte die neue französische Regierung eine Liste mit zu verstaatlichenden Unternehmen vor, unter denen sich auch Saint-Gobain, Pechiney Ugine Kuhlmann, Rhône-Poulenc und Roussel Uclaf befanden. Auch wenn die starke ökonomische Stellung des Staates und die französische Nationalisierungspolitik nach 1945 auf einem breiten gesellschaftlichen Konsens aufbauten, so handelte es sich hierbei doch primär um sozialistische Symbolpolitik, die einerseits einen Gegenpol zur zeitgenössischen britischen und amerikanischen Wirtschaftspolitik darstellte, andererseits aber nur von begrenzter Dauer und Reichweite war. Bereits ab 1986 wurden die Verstaatlichungen wieder im großen Umfang rückgängig gemacht. Im Fall von Roussel Uclaf bedeutete dies, dass Hoechst seine Beteiligung leicht herabsetzen musste und der französische Staat einen Minderheitsanteil von 40 Prozent erwarb, der mit dem Vorschlagsrecht für den Präsidenten des Aufsichtsrats verbunden war. Mit der Wende in der Verstaatlichungspolitik änderten sich auch die Regeln bei Roussel Uclaf wieder. Im Juni 1987 wurde Hoechst bemächtigt, seine auf einer Beteiligung von 54,5 Prozent basierenden Mehrheitsrechte auszuüben und sieben der zwölf Aufsichtsratsmitglieder zu benennen, die das Direktorium beriefen. Drei Jahre später übernahm die verstaatlichte Chemiekonzern Rhône-Poulenc die staatlichen Anteile an Roussel Uclaf und verringerte damit nochmals die direkten Einflussmöglichkeiten des Staates.[21] Damit hatte sich Hoechst wieder seine Verfügungsrechte gesichert, doch erst 1994 trat mit Ernst G. Afting ein Deutscher an die Vorstandsspitze von Roussel Uclaf. Insofern blieben die nationalen Identitäten beider Unternehmen lange erhalten.[22] Gleichwohl standen bald neue Herausforderungen vor der Tür. Während Roussel Uclaf den Gewinn nach 1990/91 nochmals deutlich steigern und 1994 mit einem Nettoergebnis von über 1.800 Millionen FF einen Rekord feiern konnte, gingen die Umsatz- und Gewinnzahlen der Hoechst AG in den fünf Jahren nach 1989 kontinuierlich zurück und zogen einschneidende Maßnahmen nach sich.[23]
Von der Strategischen Management Holding zum europäischen Pharmakonzern (1994–2004)
Im Unterschied zu den Vorstandsvorsitzenden Rolf Sammet und Wolfgang Hilger, die aufgrund ihres Chemiestudiums als Techniker an der Spitze des Hoechst-Konzerns galten, orientierte sich ihr seit 1994 amtierender Nachfolger Jürgen Dormann zunehmend am Konzept des Shareholder Value. Dormann richtete den Konzern stärker nach den Interessen der Aktionäre und den Bedingungen des Kapitalmarkts aus, gab eine Nettoeigenkapitalrendite in Höhe von 15 Prozent als Ziel aus und veräußerte mehrere traditionelle, aber wenig rentable Geschäftsbereiche. Indem das Management das Portfolio auf möglichst gewinnbringende Sparten konzentrierte, ging die weltweite Belegschaft von Hoechst zwischen 1994 und 1999 von 172.000 auf 97.000 Beschäftigte zurück. Mit der konsequenten Adaption des Shareholder Value-Prinzips und der Verlagerung einer Forschungsabteilung in die USA entfernte sich Hoechst wesentlich weiter vom Modell des Rheinischen Kapitalismus als dies bei Bayer oder der BASF der Fall war, auch wenn der Großteil der Forschung weiterhin in Europa angesiedelt war.[24] Gleichzeitig nahm die Börsenkapitalisierung der drei großen deutschen Chemieunternehmen wesentlich schneller zu als deren Geschäftstätigkeit oder deren erzielten Gewinne. Die Konzentration auf die sogenannten Life Sciences – Pharma und Landwirtschaft – führte vielmehr zu einem Rückgang der Überschüsse und brachte Dormann den Vorwurf ein, mit der einst innovativen und forschungsintensiven Hoechst AG, die zusammen mit Roussel Uclaf Anfang der 1980er-Jahre Weltmarktführer im Pharmabereich war, nicht hinreichend neue, umsatzstarke Medikamente entwickelt zu haben. Im Gegensatz zur BASF und zu Bayer lag der größte Kapitalanteil der Hoechst AG von knapp 25 Prozent seit 1982 bei der Kuwait Petroleum Corporation. Da sich diese Beteiligung zu einer reinen Finanzbeteiligung gewandelt hatte, die an einer überdurchschnittlichen Wertentwicklung interessiert war, musste Hoechst im Wettbewerb um Eigenkapital stärker als andere Chemiekonzerne eine kapitalmarktorientierte Unternehmenspolitik betreiben.[25]
Nach der Übernahme der Celanese Corporation 1987, dem sechstgrößten Chemiekonzern der USA, für fast sechs Milliarden DM,[26] verdeutlichte der Kauf des US-Pharmakonzerns Marion Merrell Dow (MMD) im Juli 1995 für 7,1 Milliarden DM zwei entscheidende Entwicklungen. Waren Hoechst und Roussel Uclaf bei ihrer Verbindung 1968 noch auf den entstehenden einheitlichen Binnenmarkt in Europa ausgerichtet, so bildete der große US-Markt spätestens seit den 1980er-Jahren einen immer bedeutenderen Referenzpunkt für die europäischen Chemie- und Pharmaindustrie. Zum anderen kennzeichnete der Kauf von MMD die wachsende Bedeutung des Pharmabereichs im Hoechst-Konzern, der 1996 seine eigenen Pharmaaktivitäten sowie Roussel Uclaf, die Behringwerke und MMD zum neuen Geschäftsbereich Hoechst Marion Roussel zusammenfasste. Die im gleichen Jahr ausgegebene Strategie einer auf Life Sciences ausgerichteten Strategischen Management Holding ging deshalb mit dem Verkauf des Spezialchemikaliengeschäfts, der Ausgliederung der verbliebenen operativen Einheiten in eigenständige Gesellschaften und der Übernahme der restlichen 43 Prozent an Roussel Uclaf 1997 einher. Trotz dieser umfangreichen Umstrukturierungen gelang es Hoechst zunächst nicht einen geeigneten Partner im Life Sciences-Geschäft zu finden. Erst 1998 verständigten sich Jean-René Fourtou, Vorstandsvorsitzender von Rhône-Poulenc, und Dormann auf einen Zusammenschluss, der zur Umbenennung in Aventis führte. Damit entstand ein neuer multinationaler europäischer Konzern im Pharmageschäft, dessen Fusion unter Einbeziehung von Roussel Uclaf, Rhône-Poulenc und einem deutschen Chemiekonzern in gewisser Weise an die Verhandlungssituation von 1968 erinnerte.[27]
Im Jahr 2004 richtete das französische Pharmaunternehmen Sanofi-Synthélabo dann ein feindliches Übernahmeangebot an Aventis. Nach massiven Interventionen der französischen Regierung einigten sich beide Parteien schließlich auf eine Vereinbarung, die auch von den Aventis-Aktionären akzeptiert wurde und die Gründung von Sanofi-Aventis nach sich zog. Obschon Sanofi-Aventis – 2011 in Sanofi umbenannt – am ehemaligen Standort des Stammwerks in Frankfurt-Höchst weiterhin produzierte sowie forschte, ging die deutsche Marke Hoechst und die Identifikation der Belegschaft mit dem Hoechst-Konzern infolge der Fusion weitgehend verloren, weshalb Belegschaftsvertreter die von Ausgliederungen und Veräußerungen geprägte Unternehmenspolitik Dormanns heftig kritisierten.[28] Ob dieser Weg so alternativlos war, wie dies seitens der Unternehmensleitung oftmals dargestellt wurde, mag angesichts der Unternehmensentwicklungen von Bayer und BASF zumindest Zweifel hervorrufen. Fest steht hingegen, dass sowohl die multinationale Kooperation von Roussel Uclaf und Hoechst als auch die Unternehmensgeschichten von Aventis und Sanofi nur in einem europäischen Kontext zu verstehen sind.
[1] Essay zur Quelle: Stratégie Internationale. Hoechst-Roussel Uclaf (1968–1988).
[2] Servan-Schreiber, Jean-Jacques, Le Défi Américain, Paris 1968; Die Amerikanische Herausforderung, in: Die Zeit, 23.03.1979, S. 26.
[3] „Stärker als der Staat. Spiegel-Report über Einfluss und Arbeitsweise der multinationalen Konzerne“, in: Der Spiegel, 29.04.1974, S. 36–54, Der Spiegel, 06.05.1974, S. 60–77, Der Spiegel, 20.05.1974, S. 46–62.
[4] Kleedehn, Patrick, Die Rückkehr auf den Weltmarkt. Die Internationalisierung der Bayer AG Leverkusen nach dem Zweiten Weltkrieg bis zum Jahre 1961, Stuttgart 2007.
[5] Abelshauser, Werner, Die BASF seit der Neugründung 1952, in: ders. (Hg.), Die BASF. Eine Unternehmensgeschichte, München 2002, S. 359–637, hier S. 497–503.
[6] Bäumler, Ernst, Farben, Formeln, Forscher. Hoechst und die Geschichte der industriellen Chemie in Deutschland, München 1989, S. 211–266; Kleedehn, Weltmarkt, S. 226–231, S. 267–299, S. 349–351.
[7] Hoechst-Archiv (HA): Hoe. Ausl. 138, Länderblätter A-L: Frankreich, Großbritannien.
[8] HA: Hoe. Ausl. 139, Länderblätter M-Z: USA; van Vlaanderen, Edward, Pronounced Success. America and Hoechst 1953–1978, Bridgewater 1979.
[9] Archives Historiques du Groupe Sanofi (AHGS): Fonds Roussel Uclaf / RU-26, Stratégie Internationale. Hoechst-Roussel Uclaf 1968–1988. 20 ans de coopération exemplaire. Un état d’esprit européen, in: Uclafilm – Revue du Groupe Roussel-Uclaf, Nr. 70, November 1988, S. 3–5.
[10] Bartmann, Wilhelm, Zwischen Tradition und Fortschritt. Aus der Geschichte der Pharmabereiche von Bayer, Hoechst und Schering von 1935–1975, Stuttgart 2003, S. 273–275; Bäumler, Farben, S. 297; Seine-Saint-Denis Conseil Général (Hg.), De Gaston Roussel à Sanofi-Aventis. Près d’un siècle d’histoire et de patrimoine pharmaceutiques à Romainville, Bobigny Cedex 2007.
[11] Dunning, John H.; Lundan, Sarianna M., Multinational Enterprises and the Global Economy, Cheltenham ²2008.
[12] Bayer AG: Corporate History & Archives, Leverkusen (BAL): 387-1, IX, Bayer-Vorstandssitzung (07.05.1968, 21.05.1968, 27.06.1968, 16.07.1968).
[13] Bäumler, Farben, S. 297–300; Schreier, Anna Elisabeth; Wex, Manuela, Chronik der Hoechst Aktiengesellschaft 1863–1988, Frankfurt am Main 1990, S. 372.
[14] Wirtschaftsarchiv Universität zu Köln (WA): Geschäftsbericht Farbwerke Hoechst AG (1969), S. 14–15; Geschäftsbericht Farbwerke Hoechst AG (1970), S. 8.
[15] AHGS: Fonds Roussel Uclaf / RU-27, Roussel Uclaf Exercice (1970), S. 9.
[16] Chandler, Alfred D., Shaping the Industrial Century. The Remarkable Story of the Evolution of the Modern Chemical and Pharmaceutical Industries, Cambridge 2005, S. 114.
[17] Bäumler, Farben, S. 298.
[18] AHGS: Fonds Roussel Uclaf / RU-26, Stratégie Internationale. Hoechst-Roussel Uclaf 1968–1988. 20 ans de coopération exemplaire. Un état d’esprit européen, in: Uclafilm – Revue du Groupe Roussel-Uclaf, Nr. 70, Novembre 1988, S. 3–5; HA: Hoe. Ausl. 98b, Hoechst in Frankreich (1988); HA: Hoechst H0085494, Frankreich, Roussel Uclaf, Das Modell einer erfolgreichen Zusammenarbeit, in: Farbenpost (1988), H. 11, S. 8–9.
[19] Gareis, Hans, Lanz, Kurt, Wolfgang von Polnitz und Karl Winnacker waren 1974 im Aufsichtsrat von Roussel Uclaf als Hoechst-Repräsentanten vertreten; das Direktorium wurde von Jacques Machizaud (Präsident), Henri Monod, Édouard Sakiz und Pierre Joly geführt. Vgl. AHGS: Fonds Roussel Uclaf / RU-27, Roussel Uclaf Exercice (1974), S. 3.
[20] Bäumler, Farben, S. 386–391; WA: Geschäftsbericht Hoechst AG (1975); AHGS: Fonds Roussel Uclaf / RU-27, Roussel Uclaf Exercice. Comptes et Résultats Financiers (1976), S. 21.
[21] Bäumler, Farben, S. 299; HA: Hoe. Ausl. 98b, Hoechst in Frankreich (1988); Requate, Jörg, Frankreich seit 1945, Stuttgart 2011, S. 191–195; Rhône-Poulenc an Roussel Uclaf beteiligt, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20.02.1990.
[22] AHGS: Fonds Roussel Uclaf / RU-26, Stratégie Internationale. Hoechst-Roussel Uclaf 1968–1988. 20 ans de coopération exemplaire. Un état d’esprit européen, in: Uclafilm – Revue du Groupe Roussel-Uclaf, Nr. 70, Novembre 1988, S. 3–5; HA: Hoe. Ausl. 98: Der Deutsche an der Spitze von RU in Paris will eigene Akzente setzen, in: Welt am Sonntag 27.03.1994.
[23] AHGS: Fonds Roussel Uclaf / RU-32, Roussel Uclaf Exercice (1995), S. 5 ; WA: Geschäftsbericht Hoechst (1993), S. 52.
[24] WA: Geschäftsbericht Hoechst (1994), S. 19; Wengenroth, Ulrich, The German Chemical Industry after World War II, in: Galambos, Louis; Hikino, Takashi; Zamagni, Vera (Hgg.), The Global Chemical Industry in the Age of the Petrochemical Revolution, New York 2007, S. 141–167, hier S. 163–164.
[25] Becker, Steffen, Der Einfluss des Kapitalmarkts und seine Grenzen. Die Chemie- und Pharmaindustrie, in: Streeck, Wolfgang; Höpner, Martin (Hgg.), Alle Macht dem Markt? Fallstudien zur Abwicklung der Deutschland AG, Frankfurt am Main 2003, S. 222–248, hier S. 223, S. 235–240; Menz, Wolfgang; Becker, Steffen; Sablowski, Thomas, Shareholder-Value gegen Belegschaftsinteressen. Der Weg der Hoechst-AG zum „Life-Sciences“-Konzern, Hamburg 1999.
[26] Fasern und neue Werkstoffe waren der Anreiz, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 05.11.1986, S. 16.
[27] Wehnelt, Christoph, Hoechst. Untergang des deutschen Weltkonzerns, Lindenberg 2009, S. 162–174; Hoechst bietet 5,2 Milliarden DM für den Rest von Roussel Uclaf, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12.12.1996, S. 21.
[28] Wehnelt, Hoechst, S. 175–181.
Literaturhinweise
Jones, Geoffrey; Schröter, Harm G. (Hgg.), The Rise of Multinationals in Continental Europe, Aldershot 1993.
Marx, Christian, Die Internationalisierung der Chemieindustrie als Herausforderung für die Deutschland AG, in: Ahrens, Ralf; Gehlen, Boris; Reckendrees, Alfred (Hgg.), Die „Deutschland AG“. Historische Annäherungen an den bundesdeutschen Kapitalismus, Essen 2013, S. 247–273.
Schröter, Harm G., Competitive Strategy of the World’s Largest Chemical Companies, 1970–2000, in: Galambos, Louis; Hikino, Takashi; Zamagni, Vera (Hgg.), The Global Chemical Industry in the Age of the Petrochemical Revolution, New York 2007, S. 53–81.
Wengenroth, Ulrich, The German Chemical Industry after World War II, in: Galambos, Louis; Hikino, Takashi; Zamagni, Vera (Hgg.), The Global Chemical Industry in the Age of the Petrochemical Revolution, New York 2007, S. 141–167.