Zwischen Einwanderung und Zwangsrotation. Europäische Migrationspolitik zum Ende des ‚Booms‘ (1972–1975)[1]
Von Marcel Berlinghoff
[Überarbeitete Version: 2021]
Das exorbitante Wirtschaftswachstum, das die westeuropäischen Industriestaaten in den 1950er- bis 1970er-Jahren erlebten, wurde von einer umfangreichen Arbeitsmigration begleitet, die diesen Teil des Kontinents zu einer Einwanderungsregion machte.[2] Hatte im 19. und frühen 20. Jahrhundert noch die Auswanderung nach Übersee dominiert, so zogen nun vermehrt nicht nur Arbeitskräfte aus den agrarisch geprägten Peripherien innerhalb sondern zunehmend auch Menschen von außerhalb des Kontinents in die Industriezentren Europas. Verbesserte Verkehrsverbindungen und imperiale Freizügigkeitsregime sorgten zudem dafür, dass koloniale und postkoloniale Mobilität zunehmend auch Einwohnern der (ehemaligen) Kolonien möglich war, die nicht als „europäisch“ oder „weiß“ galten: Seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges, in dem Soldaten aus den Kolonien für die Interessen ihrer „Mutterländer“gekämpft hatten, verstärkt aber im Zuge der Dekolonisation, kamen so Menschen aus den wirtschaftlich schwachen, lange kolonial beherrschten Gebieten Asiens, Afrikas sowie Mittel- und Südamerikas in die Metropolen. Dabei wurden „Rückkehr“, Schutz und Zuwanderung verschiedener Gruppen in den ehemaligen Kolonialmächten Frankreich, Belgien, Niederlande und dem Vereinigten Königreich sehr unterschiedlich diskutiert und politisch gerahmt.
Während sich die spezifischen Migrationsregime der einzelnen Staaten Westeuropas abhängig von traditionellen Migrationsbeziehungen sowie kolonialen, ethnischen oder arbeitsmarktbezogenen Freizügigkeitsbestimmungen zwar zum Teil deutlich voneinander unterschieden, einte sie das migrationspolitische Prinzip der ‚Gastarbeit‘ bzw. der Rotation.[3] Ausländische Arbeitskräfte wurden von Unternehmen, privaten Vermittlern und staatlichen Behörden angeworben oder suchten sich mit Hilfe von Migrationsnetzwerken und auf eigene Faust Arbeitsstellen, um dort für eine begrenzte Zeit zu arbeiten, anschließend wieder zurückzukehren oder weiterzuwandern. Eine dauerhafte Niederlassung war häufig weder beabsichtigt noch erlaubt und die beteiligten staatlichen Akteure bemühten sich mit wechselndem Elan und Erfolg diese ‚freiwillige Rotation‘ zu kontrollieren und zu steuern. Hierzu gehörten beispielsweise bilaterale Anwerbeabkommen, wie sie bereits in der Zwischenkriegszeit geschlossen worden waren, Vereinbarungen zum Transfer von Sozialversicherungsansprüchen oder Meldepflichten für einheimische Arbeitgeber und zugewanderte Arbeitnehmer.[4]
Das jeweilige Kontrollniveau war dabei recht unterschiedlich: Während beispielsweise das bundesdeutsche Anwerbeverfahren Auswahl und Verteilung von ausländischen Arbeitskräften in die Hand der Arbeitsverwaltung legte, die diese im Auftrag der Unternehmen vermittelte, beschränkten sich die Schweizer Behörden auf eine strikte Kontrolle des regulären Aufenthalts.[5] Dessen Genehmigung konnte für unterschiedliche Laufzeiten erfolgen und Beschränkungen der Arbeitsplatz- und Wohnortwahl beinhalten. In Frankreich wiederum stieß das bürokratische staatliche Anwerbeverfahren schnell an seine Grenzen, weshalb der Arbeitsminister bereits 1956 die nachträgliche ‚Regularisierung‘ des Arbeitsaufenthalts zum legitimen Anwerbeweg erklärte[6]: Was später als illegale Einwanderung verfolgt wurde, nämlich die unkontrollierte Einreise und Arbeitssuche sowie nachträgliche Meldung bei den Behörden, war bis in die späten 1960er-Jahre der französische Normalfall der Arbeitsmigration. Hier wie auch in anderen (ehemaligen) Kolonialstaaten erfolgte zudem ein Großteil der temporären Arbeitsmigration im Rahmen freier Mobilität von Einwohnern der (ehemaligen) Kolonialreiche.[7]
Dieser über die Grenzen des Kontinents hinausreichende Arbeitsmarkt ermöglichte nicht nur den von stetem Arbeitskräftemangel gefährdeten Wirtschaftsboom, der als Trentes Glorieuses, Wirtschaftswunder oder Golden Age of Capitalism erinnert wird, er zeichnete sich auch durch eine bemerkenswerte Mobilität aus: Allein in die Bundesrepublik kamen seit Ende der 1950er- bis Mitte der 1970er-Jahre etwa 15 Millionen ‚Gastarbeiter‘[8]. 11 Millionen kehrten in der gleichen Zeit wieder zurück oder wanderten weiter.[9]
Mit dem stetig wachsenden Umfang der Arbeitskräftemigration verlängerte sich auch die Aufenthaltsdauer vieler Migranten, die zunehmend Familienangehörige nachholten und sich auf einen längeren Aufenthalt einrichteten. Diese Einwanderungssituation verschärfte zum Teil vorhandene soziale Probleme, insbesondere der Unterkunft, zum Teil schuf sie neue, etwa in der Frage des Schulunterrichts für die Kinder von Migranten, deren Rückkehr ins Herkunftsland ja allgemein als sicher galt. Daneben wurden zu Beginn der 1970er-Jahre – in der Schweiz schon wesentlich früher – die Stimmen wieder lauter, die vor ökonomischen Nachteilen eines schier unerschöpflichen Angebots gering qualifizierter Arbeitskräfte warnten, da dieses zum Überleben unrentabler Wirtschaftsbereiche beitrage und Investitionen behindere.
Auf internationalen Konferenzen beispielsweise der OECD und des Europarats wie auch in den für die Arbeitnehmerfreizügigkeit in der Europäischen Gemeinschaft zuständigen Ausschüssen der EG-Kommission diskutierten die in den nationalen Behörden zuständigen Beamten regelmäßig über die jeweiligen Erfahrungen mit der grenzüberschreitenden Arbeitsmigration, ihrer Steuerung und möglichen Kontrolle. Anfang der 1970er-Jahre intensivierte sich dieser Austausch durch Botschaftsberichte, gegenseitige Besuchsreisen, den Austausch von Beamten der zuständigen Ministerien und Behörden sowie auf Konferenzen internationaler Organisationen, Gewerkschaften, Kirchen, anderer Verbände und zivilgesellschaftlicher Zusammenschlüsse. Da die dort geführten Diskussionen aber entweder von diplomatischer Zurückhaltung geprägt oder als zu öffentlich empfunden wurden, lud die deutsche Bundesregierung im Herbst 1972 Vertreter der europäischen Anwerbestaaten, der EG-Kommission, der OECD und des Europarats sowie der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) nach Bonn ein, um ungestört und in Ruhe über die Probleme der Ausländerbeschäftigung zu diskutieren. Als damals einziger Herkunftsstaat umfangreicher Arbeitsmigration in der EG nahm auch Italien an dem Treffen teil, das jedoch bis dato nur geringe Erfahrungen mit vermeintlich ungeregeltem Zuzug von Arbeitsmigranten aus Afrika und Jugoslawien gemacht hatte.[10]
Das Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung (BMA) veröffentlichte Anfang 1973 einen Bericht über diesen Erfahrungsaustausch im Bundesarbeitsblatt.[11] Die Hauszeitschrift des Ministeriums diente nicht nur der Veröffentlichung amtlicher Mitteilungen sondern auch der Diskussion aktueller und grundsätzlicher Themen aus Arbeitswelt und Sozialpolitik. Der Autor des Beitrags Helmut Heyden war seinerzeit als Referent für ausländische Arbeitnehmer maßgeblich an einer Rekonzeption der Ausländerbeschäftigungspolitik im BMA beteiligt.
War in der Vorbereitung noch ein Schwerpunkt auf den Austausch über den Umgang mit sozialen und Integrationsfragen der Anwerbung geplant, so entwickelte sich der „Erfahrungsaustausch“ zu einer offen geführten Diskussion über die Möglichkeiten und Grenzen einer administrativen Steuerung und Kontrolle der Arbeitsmigration. Dabei empfanden die Teilnehmer insbesondere die Möglichkeit des offenen Wortes als hilfreich, vermeintliche Probleme deutlich anzusprechen und öffentlich so nicht sagbare Strategien zu diskutieren. „Zum ersten Mal“, so der Leiter der schweizerischen Delegation Georg Pedotti, sei „eine offene Aussprache über die aus der Sicht der Einwanderungsländer sich stellenden vielfältigen Probleme möglich“[12] gewesen. Eine Einschätzung, die von der französischen Delegation geteilt wurde[13] und die im Bericht Heydens ebenfalls erwähnt wird.[14] Offenbar fürchteten die mit der Anwerbepolitik betrauten Regierungsbeamten zivilgesellschaftliche Kritik sowie Proteste der Herkunftsländer, sollte die rassistische Einteilung in erwünschte ‚europäische‘ und unerwünschte ‚außereuropäische‘, das heißt nicht-‚weiße‘ Migration publik werden. Zudem widersprachen allzu restriktive Maßnahmen zur Steuerung der Arbeitsmigration bzw. zur Rückgängigmachung der Einwanderung der offiziellen Position sowie dem liberalen Selbstbild der westeuropäischen Staaten.
Für die Untersuchung der damaligen Debatten über einen Kurswechsel in der Migrations- und Arbeitsmarktpolitik ist der Bericht aus mehreren Gründen interessant. Zum einen gibt er einen Überblick über die damaligen Diskussionen auf nationaler und europäischer Ebene und zeugt von dem Austausch, der zwischen diesen Ebenen stattfand. Zum anderen liegen Entstehungs- und Veröffentlichungszeitpunkte in einer Phase, in der der neue Kurs der bundesdeutschen ‚Gastarbeiter‘-Politik zwischen Ministerien und Verbänden ausgehandelt und eine Reform vorangetrieben wurde. Im Folgenden soll auf beide Aspekte eingegangen werden.
Gemeinsames Anliegen der versammelten Regierungsvertreter war es laut dem Bericht, die vermeintlich verlorene Kontrolle über das Migrationsgeschehen zurückzuerlangen: Die „Entwicklung [dürfe] sich nicht völlig selbst überlassen bleiben“ und „der weitere Zustrom ausländischer Arbeitnehmer [müsse; M.B.] wirksamer beeinflußt und gesteuert werden“. Dabei waren sich die Delegierten einig, dass die umfassende Beschäftigung ausländischer Arbeitnehmer aus ökonomischen Gründen auf absehbare Zeit weiter dringend notwendig sei, in ihrem Umfang jedoch nicht mehr unbegrenzt wachsen könne. Hierfür seien insbesondere soziale Probleme verantwortlich, die sich aus der längeren Aufenthaltsdauer der ‚Gastarbeiter‘ und dem zunehmenden Familiennachzug ergäben und die in den industriellen Ballungsgebieten ohnehin angegangen werden müssten. Hierzu gehörten die Bereiche Unterkünfte, ärztliche Versorgung und berufliche Bildung ebenso wie die Betreuung der Kinder in Kindergärten, Horten und Schulen.
Daneben ergäben sich spezifische nationale Problemlagen, etwa die hohe soziale und kulturelle Heterogenität der Ausländerbevölkerung in Frankreich: „Allein 10 Nationen sind mit 70 000 und mehr Ausländern vertreten, Algerien, Portugal, Spanien und Italien sogar mit weit über 500 000.“ Da dies eine „angemessene soziale Integration der ausländischen Arbeitnehmer“ erschwere, wolle Frankreich die bisherige Einwanderungspolitik aufgeben und „auf eine ausgewogene soziale Gesellschaftsstruktur hinzielen. Hierzu [werde] die staatlich organisierte Anwerbung verstärkt und die Heterogenität abgebaut.“ In der Praxis, und in Heydens Bericht nicht erwähnt, bedeutete dies für Migranten aus den ehemaligen Kolonien die Abschaffung der „Regularisierung“, also der Möglichkeit, die selbstorganisierte Arbeitswanderung behördlich zu legalisieren. Für Spanier und Portugiesen wurden diese Migrationswege jedoch offen gehalten, was zusammen mit der EG-Freizügigkeit für Italiener zu einer „Europäisierung“ der Einwandererbevölkerung führen sollte. Damit zeichnete sich eine Entwicklung ab, in der aus zuvor als unzivilisiert ausgegrenzten Süditalienern, Südspaniern und Portugiesen, echte Europäer wurden, und den nord- oder schwarzafrikanischen Migranten vorgezogen wurden.
Die Unterscheidung zwischen postkolonialen Einwanderern, die von imperialen Freizügigkeitsregelungen profitierten, und „‚echten‘ Ausländern“ traf der Bericht auch für Großbritannien. Zwar gebe es hier zumeist keine auf Sprachschwierigkeiten beruhenden „Eingliederungsprobleme“, doch hätten die Commonwealth-Bürger „ihre sehr spezifischen Probleme (Farbige).“ Interessant ist, dass der Bericht auf die Rassismusprobleme im Vereinigten Königreich explizit eingeht, die im Falle Frankreichs nur angedeutet werden. Dagegen wird der eigentliche turn der britischen Migrationspolitik jener Zeit nicht erwähnt: So trat mit dem EG-Beitritt am 1. Januar 1973 ein Gesetz in Kraft, das strengere Regeln für die Einwanderung von Commonwealth-Bürgern festlegte und nur einer Minderheit das „right of abode“ (Niederlassung in Großbritannien) zugestand, das zugleich die Arbeitnehmerfreizügigkeit in der Europäischen Gemeinschaft beinhaltete. Während also für ‚farbige‘ Untertanen der Krone die Zuwanderung beschränkt wurde, erhielten ‚echte Ausländer‘ aus den EG-Staaten freien Zugang zum britischen Arbeitsmarkt. Damit erfüllte die britische Regierung Forderungen der EG-Delegation, eine Regelung zur britischen Staatsbürgerschaft zu finden, die die Freizügigkeit innerhalb der Europäischen Gemeinschaft auf Einwohner des Vereinigten Königreichs beschränkte.[15]
Rassistische Ausgrenzungsmuster prägten auch die Diskussion um die Ausländerbeschäftigung in den Niederlanden.[16] Zwar sei, wie Heyden notierte, der Anteil der ausländischen Arbeitnehmer an der Gesamtzahl der abhängig Erwerbstätigen mit drei Prozent nur sehr gering, die politische Auseinandersetzung darüber jedoch „sehr lebhaft“. Ebenso wie in der Schweiz würde zwar über wirtschaftliche und soziale Folgen der Einwanderung diskutiert, die angestrebte Stabilisierung des ausländischen Bevölkerungsanteils folge jedoch vor allem „politischen“ Überlegungen, die einer weit verbreiteten fremdenfeindlichen Stimmung zu begegnen suchten. Ein ebenfalls im Bundesarbeitsministerium entstandener Bericht über eine Studienreise von BMA-Beamten in die Schweiz und in die Niederlande hatte ein halbes Jahr zuvor übereinstimmend festgestellt, dass in den beiden Ländern bezüglich der Beschäftigung ausländischer Arbeitsnehmer „die innenpolitische vor der ökonomischen Schallgrenze“ erreicht werde.[17]
In der Schweiz sei man daher zu einer Gesamtplafondierung übergegangen, womit eine Kontingentierung der Arbeitsgenehmigungen gemeint war. Um die Zahl der Ausländer in der Eidgenossenschaft nicht weiter ansteigen zu lassen, wurden diese Kontingente seit 1970 an den Ausreisen im Vorjahr orientiert – de facto eine Art Anwerbestopp. Auch Schweden und Österreich berichteten auf der Konferenz von ihren Erfahrungen mit Kontingenten, die hier in den Vorjahren jedoch noch gewachsen waren.
Als denkbare Möglichkeiten zukünftiger Migrationspolitik stellte der Bericht zwei Alternativen nebeneinander: Einwanderung und forcierte Rotation. Eine an demografischen Interessen orientierte ‚echte‘ Einwanderungspolitik stelle jedoch nur für das kleine Luxemburg eine akzeptable Option dar, das aufgrund starker Geburtenrückgänge auf dauerhafte Einwanderung angewiesen sei. Für alle anderen beteiligten Länder komme eine solche Politik jedoch nicht in Frage – „selbst nicht mehr für Frankreich“, das bereits im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert aus demografischen Gründen die Einwanderung gefördert hatte.[18]
Dem wurde als ideales Gegenmodell eine forcierte Rotationspolitik gegenübergestellt, die jedoch nicht auf die freiwillige Rückkehr der Migranten vertraute, sondern staatlich durchgesetzt werden müsse. Auf den ersten Blick, so der Bericht, habe diese Lösung nur Vorteile: „Die zunächst ungelernten ausländischen Arbeitnehmer können mit Industrieerfahrung in ihre Heimat zurückkehren, sie werden nicht mehr für längere Zeit ihrem Heimatland und der dortigen Wirtschaft entzogen. Ein von vornherein begrenzter Aufenthalt vermindert die sozialen Schwierigkeiten. Die Familienzusammenführung wird keine große Rolle mehr spielen und damit werden auch die jetzt drängenden Probleme wie Wohnungen, Schulen, Kindergärten, weitgehend an Bedeutung verlieren.“ In der Praxis, sei diese vermeintlich ideale Lösung jedoch kaum durchzusetzen, da „sie eine ständige Abschiebung mit allen ihren unerfreulichen Begleiterscheinungen notwendig [mache]“, also politisch nicht durchsetzbar sei. Auch stünden betriebs- und volkswirtschaftliche Argumente einer Zwangsrotation entgegen und schließlich werde „eine konsequent durchgeführte Rotationspolitik zu einer weiteren Zunahme der Zahl der illegalen ausländischen Arbeitnehmer führen.“ Dieses letzte Argument führte zu der Einsicht, dass Migration nur zu einem gewissen Grad staatlich gesteuert werden kann und ein überhöhter Kontrollanspruch schnell zum Verlust derselben führt: „Das Problem der Illegalen wird sich in verstärktem Maße ohnehin bei allen restriktiven ausländerpolitischen Maßnahmen stellen.“
Daraus ergäben sich zwei Notwendigkeiten: Erstens seien vor allem die sozialen Folgeprobleme der vermeintlich ungesteuerten Einwanderung anzugehen. Dies sei allerdings nur bei strikterer Kontrolle und Einschränkung der Neuzuwanderung möglich. Und zweitens seien dringend gemeinsame europäische Anstrengungen zur Bekämpfung der illegalen Beschäftigung notwendig. Schließlich hätten Maßnahmen in einem Land stets direkte Auswirkungen auf die (ungesteuerte) Migration in den Nachbarländern. Tatsächlich wurden in den folgenden Jahren beide Politikbereiche auf verschiedenen europäischen Ebenen breit diskutiert. Während jedoch das „Europäische Übereinkommen zur Rechtsstellung der Wanderarbeitnehmer“[19] des Europarats von 1977 zahnlos blieb, da es von den wichtigen Aufnahmeländern nicht ratifiziert wurde und das „Sozialpolitische Aktionsprogramm für Wanderarbeitnehmer und ihre Familien“[20] der EG von 1974 im Sande verlief, einigten sich die nationalen Regierungen schnell auf gemeinsame Aktionen um irreguläre Migration und Beschäftigung ausländischer Arbeitnehmer zu unterbinden.[21]
Die Veröffentlichung des Berichts im Bundesarbeitsblatt fiel in eine Zeit der Neuorientierung der bundesdeutschen Migrationspolitik. War bis Mitte 1972 eine restriktive Begrenzung der Ausländerbeschäftigung vor allem aus ökonomischen aber auch aus außenpolitischen Gründen stets abgelehnt worden, so hatten Vertreter der Regierungsparteien bereits im Bundestagswahlkampf im Herbst jenen Jahres öffentlich ‚Besorgnis‘ über den starken Anstieg der Ausländerbeschäftigung geäußert.[22] Bundeskanzler Willy Brandt mahnte in seiner Regierungserklärung im Januar 1973 an „daß wir sehr sorgsam überlegen, wo die Aufnahmefähigkeit unserer Gesellschaft erschöpft ist und wo soziale Vernunft und Verantwortung Halt gebieten.“[23] Und zwischen den mit der Migrationspolitik befassten Bundesministerien entspann sich erneut ein Wettstreit um die Führungskompetenz in diesem Politikfeld. Der Bericht lässt sich daher auch als Stellungnahme des Arbeitsministeriums lesen, das mit der Hervorhebung seiner internationalen Vernetzung und der Autorität europäischer Lösungsmodelle seine Position zu festigen suchte. Zudem diente die vernichtende Beurteilung der Zwangsrotation als Argument im Streit um die restriktive Ausländerpolitik Bayerns und Schleswig Holsteins, die in dieser Zeit vermehrt Aufenthaltsgenehmigungen von Migranten nicht verlängerten, bevor diese einen Rechtsanspruch darauf erlangen konnten.
Inhaltlich folgte der Bericht dem von der Bundesregierung ausgegebenen Ziel der ‚Konsolidierung der Ausländerbeschäftigung‘. Gemeint war damit wahlweise ein abgebremster Anstieg der Ausländerzahlen, eine Stabilisierung oder sogar eine Verringerung des ausländischen Bevölkerungsanteils.[24] Als erste Maßnahmen wurden eine Verschärfung der zugelassenen Anwerberegeln genannt: Die Sperrung des sogenannten „zweiten Weges“, einem Arbeitserlaubnisvermerk im Pass, der direkt von den Konsulaten erteilt wurde, und der Zulassung über Konsulate von Drittstaaten. Darüber hinaus erwähnte der Bericht bereits die wesentlichen Punkte, die das Anfang Juni vom Kabinett verabschiedete „Aktionsprogramm Ausländische Arbeitnehmer“ enthalten sollte: Verteuerung der Anwerbung für Arbeitgeber, Verschärfung der Strafen bei irregulärer Beschäftigung ausländischer Arbeitnehmer, Sozial- und Integrationsprogramme sowie regionale Zuzugsverbote, die sich „an der Aufnahmefähigkeit der sozialen Infrastruktur“ orientieren sollten.
Der Bericht des Arbeitsministeriums über den internationalen Erfahrungsaustausch in Bonn zeigt, dass bereits 1972, also lange vor der Ölkrise, über Anwerbestopps in Europa diskutiert und im Falle der Schweiz als Globalplafondierung bereits durchgeführt wurden. Dabei festigten die Gespräche, die in diesem Rahmen offen und ungezwungen geführt werden konnten, ein gemeinsames Problembewusstsein über soziale und politische Folgen der Einwanderung ein Gefühl des Kontrollverlustes, die jeweils auf die nationalen Diskussionen zurückwirkten. Wenngleich also Migrationssteuerung zu diesem Zeit noch allein Sache der nationalen Regierungen war, die zudem mit sehr spezifischen Migrationsformen und
-debatten konfrontiert waren, so wird doch erkennbar, dass Migration zunehmend als Phänomen betrachtet wurde, dessen Probleme nur im europäischen Rahmen sinnvoll angegangen werden konnten. Hier wird ein europäisches Problembewusstsein erkennbar, das die Voraussetzung für eine spätere europäische Migrationspolitik war.
Für die bundesdeutsche Migrationspolitik ist die Quelle zudem ein erkenntnisreicher Zwischenbericht über den Stand der Diskussionen und deren internationale Verwobenheit. Während die sozialen Probleme in Folge der ungewollten Einwanderung erkannt und benannt wurden, wurden restriktive Maßnahmen wie Zwangsrotation oder ein allgemeiner Anwerbestopp zu Beginn des Jahres 1973 seitens des Arbeitsministeriums noch vehement abgelehnt. Erst als im Sommer erneut die von den Gewerkschaften unabhängige, „wilde“ Streikbereitschaft der ‚Gastarbeiter‘ für Diskussionen sorgte und erstere sich angesichts einer drohenden Rezession gemeinsam mit den Arbeitgebern für eine Unterbrechung der Anwerbung stark machten, nutzte Arbeitsminister Walter Arendt diese Möglichkeit für einen vorläufigen Schnitt. Mit der Anweisung an die Bundesanstalt für Arbeit, die Vermittlung ausländischer Arbeitnehmer vorübergehend auszusetzen, stoppte er die Anwerbung von ‚Gastarbeitern‘. Dies sollte der Regierung eine Atempause verschaffen um gemeinsam mit den Bundesländern in Ruhe eine neue Ausländerpolitik zu entwickeln. Die Entscheidung reihte sich unter die anderen Anwerbe- und Einwanderungsstopps, die alle am Bonner „Erfahrungsaustausch“ beteiligten Staaten zwischen 1972 und 1975 erließen und die das Kontrollbedürfnis der europäischen Migrationspolitik bis heute prägen.
[1] Essay zur Quelle: Heyden, Helmut: Diskussion über die Ausländerbeschäftigung in Europa (Januar 1973).
[2] Vgl. Bade, Klaus J., Europa in Bewegung. Migration vom späten 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, München 2000.
[3] Vgl. Berlinghoff, Marcel, Das Ende der „Gastarbeit“. Europäische Anwerbestopps 1970–1974, Paderborn 2013.
[4] Vgl. Rass, Christoph, Institutionalisierungsprozesse auf einem internationalen Arbeitsmarkt. Bilaterale Wanderungsverträge in Europa zwischen 1919 und 1974, Paderborn 2010.
[5] Vgl. Herbert, Ulrich, Geschichte der Ausländerpolitik in Deutschland. Saisonarbeiter, Zwangsarbeiter, Gastarbeiter, Flüchtlinge, München 2001; Mahnig, Hans; Piguet, Etienne, Die Immigrationspolitik der Schweiz von 1948 bis 1998: Entwicklung und Auswirkungen. in: Hans-Rudolf Wicker (Hg.), Migration und die Schweiz. Ergebnisse des Nationalen Forschungsprogramms „Migration und interkulturelle Beziehungen“, Zürich 2003, S. 65–108.
[6] Vgl. Weil, Patrick, La France et ses étrangers. L'aventure d'une politique de l'immigration de 1938 à nos jours, Paris 2005.
[7] Vgl. Sturm-Martin, Imke, Zuwanderungspolitik in Großbritannien und Frankreich. Ein historischer Vergleich 1945–1962, Frankfurt am Main 2001; Lucassen, Leo; Lucassen, Jan, Gewinner und Verlierer. Fünf Jahrhunderte Immigration – eine nüchterne Bilanz, Münster 2014.
[8] Die zeitgenössisch allgemein übliche Bezeichnung ‚Gastarbeiter‘ wird hier als Quellenbegriff verwendet. Dieser hatte seit den 1950er-Jahren das bis dahin übliche ‚Fremdarbeiter‘ abgelöst, welches durch die Zwangsarbeiterbeschäftigung der NS-Zeit als diskreditiert galt. Seit den späten 1960er-Jahren geriet auch der ‚Gastarbeiter‘-Begriff zunehmend als euphemistisch in die Kritik, blieb jedoch bis in die 1980er-Jahre gebräuchlich. Die amtliche Bezeichnung für Arbeitsmigrantinnen und -migranten lautete „Ausländische Arbeitnehmer“. Zur früheren Verwendung in der deutschen Arbeitsverwaltung vgl. Rass, Insitutionalisierungsprozesse, 2010, S. 70–73.
[9] Oltmer, Jochen, Migration im 19. und 20. Jahrhundert, München 2010, S. 52.
[10] Als weiterer Herkunftsstaat von Arbeitsmigration trat zum 1. Januar 1973 Irland der Europäischen Gemeinschaft bei.
[11] Der Bericht liegt diesem Essay als Quelle zugrunde: Heyden, Helmut, Diskussion über die Ausländerbeschäftigung in Europa, in: Bundesarbeitsblatt 24 (1973), H. 1, S. 33–36. Im Folgenden stammen alle Quellenzitate, soweit nicht anders vermerkt, aus der hier mit veröffentlichten Quelle.
[12] Bundesarchiv Bern, E7175 (B) 1982/102/8, Notiz Pedotti an Grübel, 27.10.1972.
[13] Centre des Archives Contemporaines, Fontainebleau 19930317 Art. 4, DPM, Note sur le rencontre à Bonn (23.–27. octobre 1972), o.D.
[14] Wie wertvoll der Austausch auch von deutscher Seite gesehen wurde, lässt sich daraus schließen, dass die Protokolle und Berichte über den Erfahrungsaustausch vermutlich immer noch in den Gebrauchsakten der beteiligten Ministerien, allen voran des Arbeitsministeriums liegen. Zumindest ließen sich im Gegensatz zu den vorbereitenden Unterlagen weder im Bundesarchiv noch im Zwischenarchiv des Ministeriums Berichte über den Verlauf oder Ausgang der Verhandlungen finden (Stand: 2010).
[15] Vgl. Berlinghoff, Ende, 2013, S. 69f.
[16] Vgl. Lucassen, Gewinner, 2014.
[17] Bundesarchiv Koblenz B136 8844, Berié; Fendrich, Berichte über die Studienreise in die Niederlande vom 10.–12.04.1972 und in die Schweiz vom 12.–20.06.1972. Vgl. Berlinghoff, Ende, 2013, S. 183f.
[18] Vgl. Noiriel, Gérard, Immigration, antisémitisme et racisme en France (XIXe–XXe siècle). Discours publics, humiliations privées, Paris 2009.
[19] Vgl. Council of Europe, Europäisches Übereinkommen über die Rechtsstellung der Wanderarbeitnehmer, Strasburg 1977, URL: <http://conventions.coe.int/Treaty/GER/Treaties/Html/093.htm> (30.06.2015).
[20] Vgl. Entschliessung des Rates vom 21. Januar 1974 über ein sozialpolitisches Aktionsprogramm, URL: <http://www.europarl.europa.eu/brussels/website/media/Basis/InternePolitikfelder/Sozial/Pdf/sozialpol_aktionsprogramm_1974.pdf> (30.06.2015).
[21] Vgl. Berlinghoff, Marcel, Between Emancipation and Defence: The Failure of the Commission’s Attempt to Concert a Common European Immigration Policy, in: L'Europe en Formation. Journal of Studies on European Integration and Federalism (2009), H. 353–354, S. 183–195.
[22] Vgl. Knortz, Heike, Diplomatische Tauschgeschäfte. „Gastarbeiter“ in der westdeutschen Diplomatie und Beschäftigungspolitik 1953–1973, Köln 2008; Schönwälder, Karen, Einwanderung und ethnische Pluralität. Politische Entscheidungen und öffentliche Debatten in Großbritannien und der Bundesrepublik von den 1950er- bis zu den 1970er-Jahren, Essen 2001.
[23] Regierungserklärung Brandt, 18. Januar 1973.
[24] Bemerkenswert ist, dass der Bericht (ebenso wie die zeitgleiche Regierungserklärung Brandts) zwar die sozialen Probleme der ausländischen Bevölkerung als Grund für die Neuausrichtung der Anwerbepolitik nannte, dabei aber nicht die Gesamtzahl von 3,5 Millionen nannte, sondern nur die um ein Drittel geringere Zahl der ausländischen Beschäftigten angab.
Literaturhinweise
Bade, Klaus J., Europa in Bewegung. Migration vom späten 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart (Europa Bauen), München 2000.
Berlinghoff, Marcel, Das Ende der „Gastarbeit“. Europäische Anwerbestopps 1970–1974 (Studien zur Historischen Migrationsforschung 27), Paderborn 2013.
Lucassen, Leo; Feldman, David; Oltmer, Jochen (Hgg.), Paths of Integration. Migrants in Western Europe (1880–2004) (IMISCOE Research), Amsterdam 2006.
Ohliger, Rainer; Schönwälder, Karen; Triadafilopoulos, Triadafilos (Hgg.), European Encounters. Migrants, Migration and European Societies Since 1945 (Research in Migration and Ethnic Relations Series), Aldershot 2003.
Oltmer, Jochen; Kreienbrink, Axel; Sanz Diaz, Carlos (Hgg.), Das „Gastarbeiter“-System. Arbeitsmigration und ihre Folgen in der Bundesrepublik Deutschland und Westeuropa (Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 104), München 2012.