Die ausgezeichnete Natur Europas. Zur Geschichte eines Labels[1]
Von Anna-Katharina Wöbse
Es ist ein visuell eingängiges Symbol und schnell zu erfassen: ein stilisierter Baum mit runder Krone, geraden Ästen und kräftigen Blättern (vgl. Abb.1). Dieser grüne ‚Tree of Life‘ ist das älteste Markenzeichen europäischen Naturschutzes: das Label des Europadiploms, dessen offizielle Bezeichnung „European Diploma of Protected Areas of the Council of Europe“ lautet. 1965 wurde es aus der Taufe gehoben, um die herausragendsten Naturschutzgebiete im wachsenden Wirkungskreis des Europarates auszuzeichnen. Heute verbindet es so unterschiedliche Landschaften wie die norddeutsche Lüneburger Heide, die italienischen Seealpen, die estnische Meeresbucht von Matsalu, den türkischen Kuscenneti-Nationalpark und das rumänische Donaudelta.[2] Diese Auszeichnung war weder mit Geld noch mit Sanktionsmöglichkeiten, weder mit verbindlichen Standards noch mit Gesetzestextes verbunden. Es handelte sich bei der Verleihung des Europadiploms vornehmlich um Symbolpolitik.
Abb. 1: Council of Europe, European Diploma of Protected Areas of the Council of Europe.
Als Logo hat es keinen besonders prominenten Platz auf dem Markt öffentlicher Wiedererkennung besetzen können. Und dennoch: Das Logo ist die visuelle Markierung einer europäischen Natur- und Umweltschutzpolitik, die nach dem Zweiten Weltkrieg begann, Raum zu gewinnen. Es wurde zu einem prototypischen Instrument zur Lenkung medialer Aufmerksamkeit und zum Auftakt des Konstruktionsprozesses einer gemeinsamen europäischen Natur.[3] Tatsächlich bietet die Entstehungsgeschichte des Europadiploms einen bisher kaum beachteten Ausgangspunkt für die Untersuchung jüngerer europäischer Umweltgeschichte.[4] Es ist aufschlussreich, sich in die Frühzeit dieser grenzüberschreitenden Debatten im Europarat zurückzubegeben, und damit auch an die Wurzeln des Symbols. Warum entstand dieses europäische Logo, wozu diente die visuelle Markierung, wovon kündigten diese ökologischen Vorzeigeobjekte als europäisches Netz?
Der Ursprung einer gemeinschaftlichen Naturschutzpolitik Europas reicht bis in die Frühzeit des Europarats zurück. Diese erste europäische Staatenorganisation war 1949 auf amerikanische Initiative hin von zehn westeuropäischen Ländern gegründet worden. Sie bezog ihren Sitz im Herzen Europas – in Straßburg. Die Gründung war ein Resultat der Kriegserfahrungen: Die Organisation zielte darauf ab, die Einheit und Zusammenarbeit in Europa zu fördern, auf den Gebieten Wirtschaft, Soziales, Kultur und Wissenschaft zu kooperieren und zur Demokratisierung und Durchsetzung der Menschenrechte beizutragen. In der Satzung wurden explizit Ideale und Grundsätze als gemeinsames europäisches Erbe hervorgehoben.[5] Und im Kontext eines solchen gemeinsamen europäischen Erbes sollte bald auch der Schutz der Natur zum Thema in Straßburg werden. Nach einem längeren Vorlauf nahm der Ministerrat 1961 auf Empfehlung der Beratenden Versammlung einhellig eine Resolution an, eine ad-hoc-Expertenkommission zusammenzustellen, die den Naturschutz als Aufgabe des Europarates sondieren und konkretisieren sollte.[6] Diese Kommission hatte Aufgaben, Formen und Kooperationsmöglichkeiten zu skizzieren. Die Kosten für die Entsendung von zwei Experten pro Mitgliedsland würde der Europarat übernehmen. Die Agenda war rasch festgeklopft: Es würde sowohl um die Erhaltung von Natur und natürlichen Ressourcen als auch um den Schutz von Landschaften, natürlichen Habitaten und Gebieten von außerordentlicher Schönheit und wissenschaftlicher Bedeutung gehen. Als dritter Themenkomplex war bereits der zukünftige Aufgabenbereich des kommenden Europadiploms angelegt: Die Expertenkommission würde sich um die Einrichtung neuer Naturreservate und „national and intra-European parks“ bemühen.[7] Im Februar 1963 legte das Expertenkomitee, das sich aus 36 entsandten Beamten und international aktiven Protagonisten aus 15 Nationen zusammensetzte, seinen ersten Bericht vor – heute eine aufschlussreiche Quelle zur frühen europäischen Umweltgeschichte.
Gemeinhin werden die 1950er- und 1960er-Jahre in der Umweltgeschichte immer noch als die Jahrzehnte der Planungs- und Technikeuphorie betrachtet, in denen für Skepsis und alternative Entwürfe zur Dominanz des westlichen Wachstums- und Wirtschaftsparadigmas kaum öffentlicher Raum bestand. Erst mit dem Europäischen Naturschutzjahr von 1970 wird eine aktive europäische Formierung in Sachen Natur- und Umweltschutz wahrgenommen.[8] In dem Expertenbericht für den Europarat zeichnete sich allerdings bereits in den frühen 1960er-Jahren sehr deutlich die Intensivierung kritischer und ökologischer Debatten ab. 1961 war beispielsweise zur Finanzierung des internationalen Naturschutzes der WWF International gegründet worden. 1962 erschien das bahnbrechende und auflagenstarke Werk The Silent Spring der amerikanischen Biologin und begnadeten Publizistin Rachel Carson. Sie hatte mit ihrem Narrativ einer durch Pestizide devastierten Umwelt eine bis dahin unbekannte öffentliche Aufmerksamkeit für komplexere ökologische Zusammenhänge geschaffen. Im gleichen Jahr hatte sich eine kleine aber sehr effektive und gut vernetzte Akteurskoalition um den Schweizer Biologen Luc Hoffmann konstituiert, die sich ab 1962 mit dem sogenannten MAR-Projekt gegen den Flächenfraß der Modernisierungs- und Entwicklungslogik positionierte und eine weltweite Kampagne für den Schutz von peripheren und brachliegenden Sümpfe und Moore initiierte. Smog und augenfällige Verschmutzung von Gewässern wurden immer häufiger zum Gegenstand der Medienberichterstattung der Industriestaaten in Westeuropa. Ereignisse und Aktionsnetzwerke verdichteten sich.[9]
Das Ministerkomitee des Europarates bewies das notwendige Gespür für diese Intensivierung des Problemdrucks, um sich des Themas anzunehmen – und langfristig auf die Fahnen zu schreiben. Die Impulse fanden sich unmittelbar in den Texten und Programmen des Europarates wieder.[10] Die Expertinnen und Experten diagnostizierten eine hohe Dringlichkeit, die sich aus der Problematik des Bevölkerungswachstums, dem Fortschritt der Wissenschaften, der Industrialisierung und der Ausbeutung der natürlichen Rohstoffe ergäbe. Angesichts dieser Dringlichkeit werde man sich auf einen begrenzten Themenkreis beschränken, für den eine europäische Zusammenarbeit wirklich wesentlich sei. Pragmatisch müsse man handeln: So wolle man sich auf Aktionen beschränkten, die zu greifbaren Ergebnissen in einer angemessenen Zeit führten. Vor allem aber müsse man die vorhandenen Kräfte sinnvoll nutzen und sie nicht für Arbeitsfelder verschwenden, die von anderen Organisationen bereits behandelt würden. Die beteiligten Experten und Expertinnen wussten, wovon sie redeten: Es war ein kleiner Zirkel, der die internationale Kooperation koordinierte und die Vorsitzenden des Komitees, der Belgier Jean-Paul Harroy und der Schwede Kai Curry-Lindahl, waren mit dem Mangel an Personal und Geldern für die grenzüberschreitende Zusammenarbeit längst vertraut.
Fixpunkt in den Debatten war die Nichtregierungsorganisation International Union for Conservation of Nature (IUCN), die trotz ihrer hoffnungslosen Unterfinanzierung und einem eklatanten Mangel an Infrastruktur nicht zuletzt aufgrund ihrer Nähe zur UNESCO einer erstaunliche Autorität entwickelt hatte.[11] Bereits 1962 hatte sie mit dem Europarat eine Kooperation vereinbart. Dessen Naturschutzpolitik würde in Absprache mit der internationalen Organisation, die im schweizerischen Morges ansässig war, entworfen. Und so verwundert es nicht, dass deren Präsident, der Schweizer Jean Baer, ebenso als Beobachter des Expertenkomitees nach Straßburg geladen war wie die Vorsitzende des International Committee for Bird Protection (ICBP), Phyllis Barclay-Smith, und ein Abgesandter der OECD. Letztlich waren es meist dieselben „willigen Pferde“ der kleinen internationalen Naturschutz-Community, die die gemeinsame Mission zu tragen schienen.[12] Die Naturschützer hatten kaum Auswahl hinsichtlich ihrer Waffen: Sie betrieben aktiven Lobbyismus und suchten sich zentrale Sendestationen für ihre Botschaften – der Europarat schien dabei eine Plattform mit vielversprechender Ausstrahlung. Tatsächlich schrieb das Expertenkomitee dem politischen Europa ins Aufgabenbuch, sich grundlegenden Fragen des Mensch-Natur-Verhältnisses zu widmen und Naturschutz zu einer verbindenden, verbindlichen und grenzüberschreitenden Angelegenheit zu machen. Gleichwohl machten sie sich keine Illusionen, dass die Mitgliedsstaaten das Arbeitsfeld finanziell angemessen ausstatten würden. Aber man wollte sie zumindest an die Defizite erinnern.[13]
Es gab viele drängende Themen und die Expertinnen und Experten verständigten sich auf elf Kernthemen, die von der Synopse der Naturschutzgesetzgebung und der entsprechenden Institutionen der Mitgliedsstaaten, über Bildungsstrategien, Reservatstypen, Feuchtgebietsschutz, Vogelschutz, Gefahren der Chemisierung der Landwirtschaft, Boden- und Landnutzung, Artenschutz, Luft- und Frischwasserverschmutzung bis zur Ölproblematik, der Erfassung ökologischer Komplexe und klassischem ästhetisch motiviertem Landschaftsschutz reichte. Dazwischen wurde die Idee, ein „European Label“ für Schutzgebiete zu vergeben, in den Kanon des Europarates eingeschrieben.[14]
Das Label sollte an Reservate vergeben werden, die mehr als ein nur ‚nationales Interesse‘ hervorriefen. Sie würden, falls auszeichnungswürdig, Brief und Siegel des Europarates bekommen. Für die Verleihung sollten nun Kriterien entwickelt werden. Im Kern ging es um die naturwissenschaftliche und ästhetische Bedeutung eines Gebietes im europäischen Kontext. Es musste zudem sichergestellt sein, dass ein verlässlicher staatlicher Schutzstatus vorhanden war.[15] 1965 lag die entsprechende Resolution vor, die die Minister der Mitgliedsstaaten guthießen und umzusetzen versprachen.[16] Innerhalb von zwei Jahren wurde aus der Idee Wirklichkeit – nicht zuletzt dank der Unverbindlichkeit und gewollten Niedrigschwelligkeit des Diploms. Denn hier ging es vor allem um symbolische Akte – nicht um die Verhandlung von Gesetzestexten oder Grenzwerten. Genau genommen war das Europa-Diplom in erster Linie eine Geste. Der Europarat konnte nicht in die nationale Natur- und Umweltschutzpolitik eingreifen. Einziges Sanktionsmittel war, dass es nach einem Zeitraum von fünf Jahren nicht wieder verliehen werden konnte – ein vergleichsweise schwaches Druckmittel. Aber der Europarat besaß eine normative Kraft. Seine Stärke, die er besaß, war die Aura des europäischen Integrationsprojektes und die damit verbundenen Aufmerksamkeit.
Die Vergabe des Europadiploms diente zum einen der Produktion einer europäischen Identität, zum anderen der Popularisierung des grenzüberschreitenden Naturschutzes. Der Europarat suchte zu diesem Zeitpunkt noch nach aussagekräftigen und öffentlichkeitswirksamen Symbolen für die Kennzeichnung seiner Arbeit, die zudem den integrativen Anspruch der Organisation nach innen und außen vermitteln sollte. 1955 hatte man sich auf eine Flagge geeinigt, die zwölf Sterne auf blauem Grund zeigte. Die Einführung des jährlichen Europa-Tages am 5. Mai erfolgte 1964. Um eine Hymne wurde noch gerungen (erst 1972 einigte man sich auf Beethovens Ode an die Freude). Auch ein Siegel, das die Urkunde des Europa-Diploms verifizieren sollte, war bereits vorhanden. Und nun das Diplom selbst: Was genau war der Sinn und Zweck? In der Resolution hieß es einigermaßen nebulös, das mit dem Diplom ausgezeichnete Gebiet erhalte die Unterstützung des Europarats. Detaillierter wurden Akt und Format der Auszeichnung beschrieben: Es würde sich dabei um ein Dokument handeln, das die Unterstützung seitens des Europarats zertifiziere, unterzeichnet von dessen Generalsekretär und autorisiert durch das besagte Siegel der Institution. Das ganze Repertoire an offiziellen Markierungen war damit genutzt. Hinsichtlich seiner institutionellen Ausgestaltung war das Diplom ganz und gar an der machbaren Umsetzung orientiert: Das Ziel war konfliktfrei, die Realisierung nahezu kostenneutral. Das Label selbst erhielt ein multithematisches Design – der eingangs beschriebene stilisierte Baum kennzeichnete gleichermaßen Objekt als auch Subjekt. Er diente als visuelle Metapher sowohl für die zu schützende Natur als auch für das europäische Projekt an sich: ein Gewächs mit starken Ästen und vielen Blättern.
Ein besonders spannendes Element dieses – eigentlich doch so schwachen – Instrumentes war die neue Form der ideellen Aneignungspolitik. Das Projekt sollte aktiv zur Schaffung europäischer Räume und Orte beitragen. Die bereits erwähnte diffuse Aussage, Gebiete, die mehr als nur von nationalem Interesse seien, würden in den Genuss der Auszeichnung kommen, konnte verhältnismäßig beliebig angewandt werden. Vielmehr wurde hier eine mentale Karte Europas entworfen, die ein räumliches Äquivalent zu den gemeinsamen Werten und dem gemeinsamen Erbe des Kontinents liefern sollte. Der Europarat schuf sich mit dieser ideellen Flächenpolitik ein weitläufiges transnationales Territorium, dessen Koordinaten in der Liste der Europadiplom-Gebiete angezeigt würden.
Im Jahr nach der Auslobung wurden die ersten drei Gebiete in den europäischen Adelsstand erhoben. Es war eine sorgfältige Auswahl. Ganz offenkundig handelte es sich dabei um drei geschichtsträchtige Flächen mit starken europäischen Narrativen. Die Liste wurde angeführt vom 1957 eingerichteten belgischen Naturschutzgebiet Parc Naturel Hautes Fagnes. Die Hochebene mit den großen Hochmooren lag geografisch inmitten der damaligen Mitgliedsländer des Europarates und setzte sich naturräumlich in der Bundesrepublik Deutschland fort. Die Region Hohes Venn war uraltes Grenzland, die Brücke zwischen den wechselnden nationalen Grenzziehungen aber war und blieb die Natur – ein idealtypischer Fall für den integrativen Anspruch Europas. Dem Hohen Venn folgte ein Reservat am Mittelmeer: Im Süden Frankreichs, im sumpfigen und teilweise sehr unwegsamen Flussdelta der Rhone liegt der Landstrich der Camargue. Es handelt sich um eine alte Kulturlandschaft, die sich von jeher durch eine einzigartige Flora und Fauna auszeichnete.[17] Sie gehörte zu den Identitätsflächen des französischen Naturschutzes und hatte zudem früh internationale Aufmerksamkeit bekommen, weil es sich bei dem Delta um einen zentralen Rast- und Brutplatz für Zugvögel auf der Nord-Süd Transitstrecke handelte. Die Sümpfe galten als Eldorado für Ornithologen. Bereits 1949 war auf Initiative französischer Naturschützer bei einer internationalen Naturschutzkonferenz der UNESCO und International Union for the Protection of Nature (IUPN) die Forderung laut geworden, die Camargue unter globalen Schutz zu stellen, da die Regierung in Paris das Delta nicht seiner grenzüberschreitenden Bedeutung angemessenen beschütze.[18] Diese Idee war nicht von Erfolg gezeitigt, wohl aber die Auszeichnung mit dem Europa-Diplom. Dabei sollte auch schon eine der wichtigsten Funktionen des Labels zum Tragen kommen: Die Auszeichnung diente immer auch der Legitimation der Reservate nach innen. Mit dem Verweis auf die europäische Bedeutung schien es leichter, auf nationaler Ebene politischen Druck zur Erhaltung der Flächen auszuüben. 1970 jedenfalls erhielt die Camargue nach Jahrzehnten des Ringens um Anerkennung den Status eines Parc Naturel Régional mit einem verbindlicheren Schutzstatus. Es handelte sich also durchaus um eine strategische Kollaboration zwischen europäischer Institution und den nationalen Räumen: Der Europarat konnte sie in seine mentale Karte eintragen, die Gebiete konnten dank der Auszeichnung auf ihre transnationale Bedeutung im europäischen Kontext verweisen. Noch ein weiteres Gebiet erhielt 1966 die Weihen des Europadiploms: Der Peak District im Herzen Großbritanniens. Auch dabei handelte es sich um einen historisch aufgeladenen Raum: Hier waren 1932 von vornehmlich linken Aktivisten das Betretungsrecht des weithin privaten Landes und so der öffentliche Zugang erzwungen worden, und 1951 richtete man ebenda den ersten englischen Nationalpark ein.[19]
Die Auszeichnung mit dem Diplom folgte dem einmal eingeschlagenen Weg der symbolischen Handlung. Es verfestigte sich die Strategie bereits etablierte und hochkarätige Flächen in den Kanon aufzunehmen – 1967 folgten beispielweise traditionelle Naturschutzgebiete wie die österreichischen Krimmler Wasserfälle, die Lüneburger Heide, der Abruzzen Nationalpark in Italien und der Schweizer Nationalpark – allesamt Ikonen der Naturschutzbewegung des frühen 20. Jahrhunderts. Die Liste glich immer mehr einer Sammlung ausgewählter Natur-Prunkstücke, die zudem auch die Expansion der europäischen Idee und Integration verzeichnete. Das Ende der europäischen Ost-West-Teilung spiegelte sich nicht zuletzt darin wider, dass mit einer leichten zeitlichen Verzögerung das Europa-Diplom an Gebiete ging, die vorher durch den Eisernen Vorhang für das westeuropäische Netzwerk unzugänglich gewesen waren: Ab 1994 kamen in rascher Folge Flächen aus Russland, Weißsrussland, Polen, der Slowakei und andere dazu.
Die Idee der Visualisierung und des Brandings herausragender Landschaften machte Schule. Bei manchen Gebieten konkurrieren eine Vielzahl an Naturschutz-Logos um die Aufmerksamkeit, bisweilen geht das Europadiplom zwischen Natura 2000, Weltnaturerbe und Nationalparkemblem fast unter. Das Label hat in seiner Bedeutung als Distinktionsmerkmal und europäisches Kennzeichen angesichts der Vielzahl anderer und glanzvolleren Signets vermutlich nachgelassen. Nichtsdestotrotz ist es der visuelle Auftakt einer Geschichte der Verdichtung europäischer Naturschutzbeziehungen. Vor allem symbolisierte es den wachsenden Anspruch des jungen Europas Themenfelder zu besetzen, die von der Öffentlichkeit als allgemeingültig und identitätsstiftend empfunden wurden. Bewahrung natürlicher Schönheit und die Zusicherung ökologischer Unversehrtheit einzelner Gebiete fügte sich nahtlos in den zu etablierenden Werte- und Erbediskurs der Europapolitik ein. Der Schutz einigermaßen unverletzter Natur wurde in diesem Auszeichnungsprozess als konstituierendes Element gemeinsamer Haltung präsentiert. Lange ungeliebte Orte wie Moore oder Heiden, die nun als ökologische Refugien galten, fungierten als unverdächtiger Kitt im Integrationsprozess. So wurde ohne finanziellen oder gesetzgeberischen Aufwand ein räumliches Band kreuz und quer durch den Kontinent gezogen. Diese ökologische Normenbildung gleicht einem Anreicherungsprozess: Die heute im Planungsalltag unumgänglichen Flora-Fauna-Habitat- und Vogelschutz-Richtlinien gehen auf die Berner Konvention von 1979 zurück, die ihrerseits starke Impulse aus dem Europäischen Naturschutzjahr von 1970 erhielt.[20] Der Ursprung liegt im Europarat. Auch die letzten Refugien mehr oder minder wilder Natur wurden allmählich in den Regelkatalog des politischen Kontinents eingeordnet. 2015 feierte das Europadiplom seinen 50. Geburtstag.[21] Inzwischen tragen 74 Schutzgebiete in 28 Ländern das Label mit dem zu schützenden und beschützenden Baum: eine weit-reichende Sammlung europäisierter Natur.[22]
[1] Essay zur Quelle: Council of Europe, European Diploma of Protected Areas of the Council of Europe.
[2] Die aktuelle Liste der mit dem Europa Diplom ausgezeichneten Länder findet sich auf der entsprechenden Seite des Europarates, vgl. Council of Europe, European Diploma Areas, URL: <http://www.coe.int/de/web/bern-convention/european-diploma-areas> (29.01.2016).
[3] Zur Konstruktion von Natur in nationalen Kontexten vgl. Kupper, Patrick, Wildnis schaffen. Eine transnationale Geschichte des Schweizerischen Nationalparks, Bern 2012.
[4] Delort, Robert; Walter, François, Histoire de l’environnement européen, Paris 2001.Wie Frank Uekötter in einem Beitrag dieser Plattform bereits feststellt, ist eine moderne europäische Umweltgeschichte nach wie vor ein Desiderat. Gleichwohl wächst das Interesse massiv, vgl. dazu die Vernetzungsansätze auf der Webseite der European Society for Environmental History (ESEH), URL: <http://www.eseh.org> (29.01.2016). Auch das enzyklopädische Projekt des Rachel Carson Centers und der ESEH ist Teil einer zunehmenden europäischen Umweltgeschichtsschreibung, vgl. Environment & Society Portal, URL: (29.01.2016).
[5] Im Artikel 1a der Satzung des Europarates vom 05.05.1949 hieß es: „Der Europarat hat die Aufgabe, einen engeren Zusammenschluß unter seinen Mitgliedern zu verwirklichen, um die Ideale und Grundsätze, die ihr gemeinsames Erbe sind, zu schützen und zu fördern und um ihren wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt zu begünstigen.“ Der Gesamttext der Satzung ist auf der Webseite des Europarats einsehbar, vgl. Europarat, URL: <http://www.coe.int/de/web/conventions/full-list/-/conventions/rms/0900001680306051> (29.01.2016).
[6] Council of Europe: Resolution (61) 21 (14. September 1961) – (Adopted by the Ministers' Deputies): Nature conservancy in Europe – ad hoc Committee.
[7] Council of Europe: Resolution (62) 31 (adopted by the Ministers' Deputies on 5th December 1962), S. 54.
[8] Uekötter, Frank, Gibt es eine europäische Geschichte der Umwelt? Bemerkungen zu einer überfälligen Debatte, in: Themenportal Europäische Geschichte (2009), URL: <http://www.europa.clio-online.de/2009/Article=374> (29.01.2016).
[9] Dazu immer noch grundlegend: Hünemörder, Kai F., Die Frühgeschichte der globalen Umweltkrise und die Formierung der deutschen Umweltpolitik (1950–1973), Stuttgart 2004. Zum Europarat siehe S. 130–134.
[10] Alle in diesem Abschnitt folgenden Aussagen beziehen sich auf den Report des Expertenkomitees: Council of Europe: Report of the First Meeting of the Committee of Experts for the Conservation of Nature and Landscape held at Strasbourg, 22–25 January 1963. (CM (63) 29), 05.02.1963.
[11] Holdgate, Martin, The Green Web. A Union for World Conservation, London 1999.
[12] „As usual, the willing horses rallied round and somehow made things work.“ Nicholson, Max, The Environmental Revolution, London 1970, S. 206. Zur Geschichte internationaler Naturschutznetzwerke vgl. Das Forschungsprojekt von Raf de Bont an der Universität Maastricht: Nature's Diplomats: Ecological Experts and the Conservation Policy of International Organizations, 1930–2000, URL: <http://www.maastrichtuniversity.nl/web/Profile/r.debont.htm> (29.01.2016).
[13] Zu den Defiziten des Naturschutz-Engagements der Mitgliedsstaaten Nicholson, Max, The Environmental Revolution, London 1970, S. 205–206.
[14] Council of Europe: Report of the First Meeting of the Committee of Experts for the Conservation of Nature and Landscape held at Strasbourg, 22–25 January 1963. (CM (63) 29), 5.2.1963.
[15] Der Kriterienkatalog sollte sich mit den Jahren gemäß den ökologischen Debatten weiterentwickeln. Heute werden beispielsweise als besondere Aufgabe von Europa Diplom-Gebieten der Schutz von Biodiversität und nachhaltige Entwicklung genannt, vgl. Council of Europe, Criteria for the Award of European Diploma for Protected Areas URL: <https://rm.coe.int/CoERMPublicCommonSearchServices/DisplayDCTMContent?documentId=0900001680479efd> (29.01.2016).
[16] Council of Europe: Resolution (65) 6, adopted by the Ministers' Deputies on 6th March 1965: European Diploma for Certain Protected Landscapes, Reserves and Natural Features.
[17] Pearson, Christopher, A ‚Watery Desert‘ in Vichy France: The Environmental History of the Camargue Wetlands, 1940–1944, in: French Historical Studies 32 (2009), H. 3, S. 479–509. Mathevet, Raphael et al., Using Historical Political Ecology to Understand the Present: Water, reeds, and Biodiversity in the Camargue Biosphere Reserve, Southern France, in: Ecology and Society 20 (2015), H.4, URL: <http://www.ecologyandsociety.org/vol20/iss4/art17/> (29.01.2016).
[18] Wöbse, Anna-Katharina, Framing the Heritage of Mankind: National Parks on the International Agenda, in: Gissibl, Bernhard; Höhler, Sabine; Kupper, Patrick (Hgg), Civilizing Nature. National Parks in Transnational Perspective, New York 2012, S. 140–156, S. 150f.
[19] Hey, David, A History of the Peak District Moors, o.O. 2014. Ditt, Karl, Naturschutz und Tourismus in England und in der Bundesrepublik Deutschland 1949–1980. Gesetzgebung, Organisation, Probleme, in: Archiv für Sozialgeschichte 43 (2003), S. 241–274.
[20] Meyer, Jan-Henrik, Zivilgesellschaftliche Mobilisierung und die frühe europäische Umweltpolitik. Die Vogelschutzrichtlinie der Europäischen Gemeinschaften von 1979, in: Themenportal Europäische Geschichte (2013), URL: <http://www.europa.clio-online.de/2013/Article=588>. Schulz, Thorsten, Das ‚Europäische Naturschutzjahr 1970‘. Beginn oder Wendepunkt des Umweltdiskurses?, in: Simonis, Udo, Jahrbuch Ökologie 2008, München 2008, S. 200–210.
[21] Council of Europe: European Diploma for Protected Areas, Straßburg 2014.
[22] Vgl. Council of Europe, European Diploma Areas, URL: <http://www.coe.int/de/web/bern-convention/european-diploma-areas> (29.01.2016).
Literaturhinweise
Gissibl, Bernhard, Sabine Höhler, Patrick Kupper (Hgg.), Civilizing Nature. National Parks in Transnational Perspective, New York 2012.
Holdgate, Martin, The Green Web. A Union for World Conservation, London 2008.
Hünemörder, Kai F., Die Frühgeschichte der globalen Umweltkrise und die Formierung der deutschen Umweltpolitik (1950–1973), Stuttgart 2004.
Lausche, Barbara J., Weaving a Web of Environmental Law, Bonn 2008.
Radkau, Joachim, Die Ära der Ökologie. Eine Weltgeschichte, München 2011.