Europa im Bann der Ölpreiskrise 1973/74 Energie-, Sicherheits- und Einigungspolitik im Spannungsfeld

Energiekrisen begleiten die Moderne. Sie sind zugleich Ausdruck und Folge sich verändernder Produktions- und Verbrauchsmuster in der Moderne. Aus rein ökonomischer Sicht basieren Energiekrisen meist auf einem einfachen Wirkmechanismus, bei dem Verknappung zu Preisanstieg führt. So sind die in der publizistischen Öffentlichkeit viel diskutierten Ölkrisen, die Europa und die Welt in den 1970er-Jahren und erst jüngst wieder in ihrem Bann hielten, treffender mit dem Begriff der Ölpreiskrisen zu beschreiben. [...]

Europa im Bann der Ölpreiskrise 1973/74. Energie-, Sicherheits- und Einigungspolitik im Spannungsfeld[1]

Von Ingo Köhler

Energiekrisen begleiten die Moderne. Sie sind zugleich Ausdruck und Folge sich verändernder Produktions- und Verbrauchsmuster in der Moderne. Aus rein ökonomischer Sicht basieren Energiekrisen meist auf einem einfachen Wirkmechanismus, bei dem Verknappung zu Preisanstieg führt. So sind die in der publizistischen Öffentlichkeit viel diskutierten Ölkrisen, die Europa und die Welt in den 1970er-Jahren und erst jüngst wieder in ihrem Bann hielten, treffender mit dem Begriff der Ölpreiskrisen zu beschreiben.

Das Öl vollzog im Verlauf des 20. Jahrhunderts einen eindrucksvollen Aufstieg zur wichtigsten Energiequelle der Welt und verwies die beiden ebenfalls fossilen Brennstoffe Kohle und Erdgas auf die Plätze. Zudem revolutionierte es als chemischer Grundstoff die Alltags- und Konsumwelten. Zahlreiche neue Produkte basierten auf ihm – von Joghurtbechern und Legosteinen, Schaumstoffen, Farben und Lacke, über Medikamente, Körperlotionen, Shampoo und Haushaltsreinigern bis hin zu Düngemitteln und Pestiziden in der Wertschöpfungskette der Agrar- und Nahrungsmittelindustrie. Allein die große Vielfalt der Nutzungsformen lässt den Historiker rasch von einseitigen ökonomischen Interpretationen der Ölpreiskrisen abkehren. Es muss darum gehen, die komplexen Ursachen für die reale oder auch nur imaginierte Verknappung des ‚Treibstoffs der Moderne‘ zu analysieren.

Als ein Erklärungsmuster mag die Tendenz westlicher Massenkonsumgesellschaften herhalten, in Energiefragen ‚über ihre Verhältnisse‘ zu leben; den Verbrauch zugunsten des kurzfristigen Bedarfs über das langfristig verfügbare Angebot auszudehnen. Der Schweizer Umwelthistoriker Christian Pfister hat für dieses Phänomen das eingängige Schlagwort des „1950er Syndroms“[2] geprägt. Er zeigt, dass es in einer Phase nach dem Zweiten Weltkrieg, in der genug Öl gefördert und die Preise niedrig gehalten werden konnten, zu einer Entgrenzung des Konsums kam. Kollektive gesellschaftliche Werte der Sparsamkeit und Nachhaltigkeit schienen den modernen Industriestaaten verloren zu gehen. Wie groß aber waren und sind die Ölreserven wirklich? Die Frage, wann eine Verknappung des nicht-regenerativen Rohstoffs Öl eintreten werde, geriet spätestens mit den düsteren Prognosen des Club of Rome über die „Grenzen des Wachstums“ in die Diskussion.[3] Auch wenn bis heute bei weiter steigenden Fördermengen ein tatsächliches Versiegen der Ölquellen kaum absehbar ist, prägten die Diskurse über die Verfügbarkeit des Öls den politischen und gesellschaftlichen Raum nachhaltig. Dabei wurden Szenarien drohender Ressourcenkonflikte von Skeptikern und Optimisten wissenschaftlich inszeniert und im Machtkampf um Deutungshoheiten politisch instrumentalisiert.[4] Faktisch handelte es sich bislang bei keiner der Ölpreissteigerungen der letzten Jahrzehnte tatsächlich um eine Folge versiegender Energievorkommen. Immer ging es vielmehr um eine Neuverteilung der Zugriffs- und Gewinnrechte.

So handelte es sich auch bei den beiden Ölpreiskrisen der 1970er-Jahre letztlich um Ereignisse, die von einer politisch und ökonomisch motivierten, künstlichen Verknappung des Angebots ausgingen. Erstmals sahen die westlichen Hauptverbraucherländer die Wachstumspotentiale ihrer Volkswirtschaften durch konkurrierende Interessen der in der Organization of Petroleum Exporting Countries (OPEC) zusammengeschlossenen Förderländer konfrontiert. Die Staaten der Europäischen Gemeinschaft rangen um eine gemeinsame Position, um dieser Herausforderung zu begegnen. Dabei ging es nicht allein darum, die kurzfristigen Gefahren der Ölteuerung für die „Produktion, die Beschäftigung und die Zahlungsbilanz der Gemeinschaftsländer“[5] abzuwehren. Vielmehr wurde der sogenannte Ölpreisschock von 1973 zum Lackmustest für die wirtschaftliche und politische Zusammenarbeit in Europa. „An der Energiefrage wird sich zeigen, was die Europäische Gemeinschaft wert ist“[6], formulierte Willy Brandt in seiner Regierungserklärung vom 29. November 1973. Die Kernfrage lautete, ob die Staaten weiter energiepolitische Einzelstrategien verfolgen oder sich auf konzertierte Maßnahmen zur Absicherung ihrer Versorgungslage würden einigen können.

Die Krisenszenarien, mit denen sich die europäischen Staatschefs im Umfeld des Gipfeltreffens von Kopenhagen konfrontiert sahen, waren vielfältig: Das Inflationsgespenst geisterte nicht erst mit der Verdopplung der Welthandelspreise für Rohöl seit Oktober 1973 durch Europa und belastete den Welthandel. Wenige Monate zuvor war das internationale Währungssystem von Bretton Woods endgültig zusammengebrochen. Der US-Dollar, an dem sich die internationalen Währungen in der Rekonstruktionsphase der Nachkriegszeit in festen Wechselkursen gebunden hatten, war schon seit Ende der 1960er-Jahre zunehmend unter Abwertungsdruck geraten. Die USA hatten eine inflationäre Ausdehnung ihrer Geldmenge betrieben, unter anderem um ihren Einsatz in Vietnam und die hohen Militärausgaben des Kalten Krieges zu finanzieren. Sie bauten nach und nach eine hohe Staatsverschuldung auf. Zugleich waren die Warenexporte, die die wiedererstarkten Industrienationen Europas nach Übersee lieferten, deutlich angewachsen, sodass die Handels- und Zahlungsbilanz der USA ins Defizit rutschte. Weltweit begannen Geldanleger und Währungsspekulanten aus der schwächelnden Leitwährung zu flüchten. Insbesondere in Deutschland, das mit der stabilen Deutschen Mark (DM) einen attraktiven Zielort der internationalen Kapitalströme bildete, sprach man bald von einer importierten Inflation. Das feste Wechselkurssystem erwies sich als zu starr, um diese strukturellen Deformationen aufzufangen. Die US-Währung wertete mehrfach ab und löste sich schließlich aus der Goldbindung. Im März 1973 sahen sich die westeuropäischen Länder gezwungen, ihre Bindung an den US-Dollar aufzugeben und einen eigenen Wechselkursverbund zu verabreden – ein erster Schritt auf dem Weg zur European Currency Unit (ECU) und einer gemeinsamen europäischen Währung.[7]

So bedrohlich die latenten Währungsrisiken für Westeuropa waren, so schmerzhaft war die Dollarabwertung für die Rohstoffe und Agrargüter exportierenden Länder in Südamerika, Afrika oder dem Mittleren Osten. Der Großteil des weltweiten Ölhandels wurde in Petro-Dollars abgewickelt. Als diese an Wert verloren, schmälerten sich die Einkommen der Förderländer. Die Folge war ein zunehmender Drang zur Nationalisierung der Ressourcenquellen und der Versuch, die Verluste durch eine künstlich herbeigeführte Preissteigerung für ihr wichtigstes Exportgut zu kompensieren. Der Einsatz der ‚Ölwaffe‘ war vor diesem Hintergrund bei weitem nicht nur ein politisches, sondern auch ein ökonomisches Instrument.

Am 17. Oktober 1973 beschlossen die arabischen Ölstaaten, ihre Fördermengen und Exportquoten zu drosseln. Dabei legitimierten sie diesen Schritt einerseits mit dem Argument, die westliche Welt auf die Endlichkeit ihrer fossilen Ressourcen aufmerksam machen zu müssen. Die Ölvorkommen seien über Jahre aus gutem Willen gegenüber den auf ihrem Staatsgebiet agierenden multinationalen Konzernen über Gebühr verbraucht worden. Nun aber, in einer Zeit der zunehmenden Unsicherheit, müssten sich die arabischen Staaten auf ihre eigenen nationalen Interessen konzentrieren.[8] Damit verband sich andererseits der Verweis auf den einige Tage zuvor ausgebrochenen sogenannten Jom-Kippur-Krieg, bei dem Syrien und Ägypten gegen Israel vorgingen, um die seit dem Sechstagekrieg von 1967 besetzten Gebiete auf dem Sinai und den Golanhöhen zurückzugewinnen.[9] Die Intensität ihrer Lieferungsbeschränkungen machten die Förderländer von der Frage abhängig, inwieweit die jeweiligen Importländer in diesem Konflikt Israel unterstützten. Die USA, Südafrika und die Niederlande, das Drehkreuz des europäischen Ölhandels, wurden mit einem vollständigen Embargo belegt. Der Bedarf der traditionell mit dem arabischen Raum verbundenen Länder Frankreich, Großbritannien oder Spanien sollte dagegen weiterhin voll gedeckt werden, während unter anderem Deutschland gemeinsam mit weiteren Ländern bis zu 20-prozentige Lieferungseinschränkungen hinzunehmen hatten. Dieses gestufte Embargo-Regime, gepaart mit der Drohung, die Exportschraube weiter anzuziehen, trieb einen bewussten Keil zwischen die Staaten der Europäischen Gemeinschaften (EG). Die ersten nationalstaatlichen Reaktionen waren von einer „Rette-sich-wer kann-Mentalität“[10] geprägt, die das Finden einer gemeinsamen energie- und sicherheitspolitischen Linie erschwerte.

Allein aufgrund seiner besonderen historischen Verantwortung, aber auch aus Sorge vor weiteren ökonomischen Verwerfungen beschritt die Regierung der Bundesrepublik einen Kurs strikter politischer Neutralität im Nahostkonflikt. Mit dem am 9. November 1973 erlassenen Energiesicherungsgesetz[11] entschloss sie sich zu einer passiven Strategie der Sparappelle und staatlichen Rationierung von Produktion, Lagerung und Transport der Treibstoffe. Dabei brannten sich insbesondere die temporären Tempolimits und Sonntagsfahrverbote für den privaten Autoverkehr in das kollektive Gedächtnis der bundesrepublikanischen Gesellschaft ein.[12] Belgien ging sogar soweit, den gesamten Erdölsektor unter staatliche Aufsicht zu stellen, um die noch vorhandenen Ölressourcen zentral zu bewirtschaften. Sich mit einer verminderten Versorgung zu arrangieren, war jedoch keine Dauerlösung. Früh begannen einzelne Staaten in Einzelverhandlungen mit den arabischen Exporteuren einzutreten, um bilateral möglichst günstige Lieferungsbedingungen zu vereinbaren. Mit Frankreich setzte sich auch eines der Kernstaaten der EG vehement für einen Dialog mit den Förderländern ein, verurteilte allerdings zugleich rein nationalstaatliche Lösungswege und forderte ein gemeinschaftliches Handeln der europäischen Partner. An der Frage der energie- und wirtschaftspolitischen Koordination entbrannte somit im Herbst 1973 eine Grundsatzdebatte um die zukünftige geopolitische Positionierung Europas.

Zu diesem Zeitpunkt stockte insbesondere die institutionelle Weiterentwicklung der europäischen Idee bereits seit Jahren. Ihre Wurzeln lagen mit der Etablierung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) 1951, der Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) sowie der Europäischen Atomgemeinschaft (Euratom) auf Basis der Römischen Verträge von 1957 maßgeblich im Feld der Energiepolitik. Obwohl zumindest die Organe dieser supranational-europäischen Organisationen 1965 in der Europäischen Kommission und dem Ministerrat der EG zusammengeführt worden waren, mangelte es weiterhin an einer nachhaltigen Koordinierung des energie- und wirtschaftspolitischen Instrumentariums. Die Nachrichten des deutschen Fernsehens kommentierten 1973 folgerichtig: „Die drohende Ölkrise traf die EWG tatsächlich wie ein Schock. Plötzlich nach […] verschlafenen Jahren wird den Europäern bewusst, was es bedeutet, keine gemeinsame Energiepolitik zu haben.“[13] Die Herausforderung lautete nun, die europäische Öldiplomatie zu harmonisieren und sie zugleich mit außenpolitischen Bündnisverpflichtungen in Einklang zu bringen. Hier waren Konflikte vorprogrammiert.

Wie etwa sollte sich die Gemeinschaft gegenüber dem Totalboykott eines ihrer Mitgliedsstaaten verhalten? Die Niederlande erwarteten ein Zeichen der Solidarität. Die Regierung forderte die europäischen Partner auf, die arabische Blockade etwa durch Öllieferungen aus ihren Lagerbeständen zu unterlaufen, um durch eine Umverteilung die Energiesicherheit des Landes im Winter 1973/74 absichern zu helfen.[14] Da der Benelux-Staat Israel unumwunden diplomatisch und militärlogistisch unterstützte – und damit eine in der EG weitgehend isolierte nahostpolitische Position einnahm –, scheuten sich die Nachbarstaaten jedoch vor einem solchen Schritt. Man fürchtete als Gegenreaktion der arabischen Staaten selbst von härteren Sanktionen getroffen zu werden. Insbesondere Frankreich und Großbritannien beharrten darauf, die Wege des Dialogs mit den Förderländern nicht zu verschließen, auch wenn man hierfür von einer europäischen Geschlossenheit abrücken musste.

Auch im ohnehin komplizierten Verhältnis zum transatlantischen Bündnispartner USA kam es zu erheblichen Spannungen. Der Außenminister der Nixon-Administration, Henry Kissinger, orientierte sich vornehmlich an sicherheitspolitischen und geostrategischen Erwägungen des ‚Kalten Krieges‘. Die Weltmacht verteidigte Israel mit Worten und Rüstungslieferungen im Nahostkonflikt, um durch eine Politik der Stärke zu verhindern, dass die Sowjetunion politischen Zugriff auf diese (und andere) Weltregionen erhielt. Von den europäischen Partnern im westlichen Verteidigungsbündnis forderte Kissinger eine ähnlich klare Haltung. Bemühungen aus Paris oder London, die diplomatischen Beziehungen zur arabischen Welt und auch zum sogenannten Ostblock auszubauen, wertete man in der US-Hauptstadt als verfehlte Signale einer eigenmächtigen Entspannungspolitik. Kissinger mahnte die Europäer, sich nicht aus ökonomischen Motiven ihrer sicherheitspolitischen Verantwortung für das Westbündnis zu entledigen. Treffend kommentierte Andrew Pierre in der Zeitschrift The World Today: „They [the Americans] saw in European behaviour, not only in the Middle East but in earlier diplomacy, a parochialism which augured poorly for joint efforts to help solve the common problems of the advanced industrialized states. The energy crisis, fears of a world recession, doubts about the viability of détente with the Soviet Union, and questions of the future course of Western Europe created an unusual degree of uncertainty and tension in the Atlantic connection.“[15]

Sicherheitspolitisch sahen sich der deutsche Regierungschef Willy Brandt und der französische Präsident Georges Pompidou sicherlich an die gewachsene transatlantische Bündnispartnerschaft mit den USA gebunden. Zugleich teilten die Regierungen der beiden Motoren des Integrationsprozesses jedoch auch die Befürchtung, dass Europa in seiner politischen Eigenständigkeit zwischen den Großmächten des ‚Kalten Krieges‘ marginalisiert zu werden drohte. Die Forderung der USA, dem Ölembargo mit einem geschlossenen Gegenboykott der Verbraucherländer zu begegnen, lehnten die meisten europäischen Partnerstaaten aus Sorge vor noch heftigeren ökonomischen und politischen Folgen ab.[16]

Die Konferenz von Kopenhagen stand ganz im Zeichen dieser inneren und äußeren Spannungen. Mit der geopolitischen Positionierung und der Frage, wie die Integration der westeuropäischen Staaten revitalisiert werden sollte, stand viel mehr auf dem Verhandlungsplan als nur ein energiepolitisches Krisenmanagement. Programmatisch hatten sich die Mitgliedsländer der EG bereits auf ihrer Pariser Gipfelkonferenz im Oktober 1972 darauf verständigt, dass Europa im Stande sein müsse, „seiner Stimme in der Weltpolitik Gehör zu verschaffen“ und neue Wege zur „Verbesserung der politischen Zusammenarbeit“ zu gehen.[17] Diesem Plädoyer waren jedoch nur wenig konkrete Fortschritte zur Stärkung der Institutionen der Europäischen Gemeinschaften gefolgt, die nun als Zukunftsvision einer engen wirtschafts-, gesellschafts- und sicherheitspolitischen Kooperation erstmals offiziell mit der Bezeichnung Europäische Union (EU) tituliert wurden. Es waren Pompidou und sein Berater Jean Monnet, die schließlich noch vor dem Ölpreisschock im Sommer 1973 vorschlugen, dass die Staats- und Regierungschefs zukünftig zu regelmäßigen Konsultationen zusammenkommen sollten, um gemeinsame Grundlinien der europäischen Politik zu entwickeln. Die Initiative sah vor, die nationalen Staatsoberhäupter zu einer Art provisorischen Regierung Europas zusammenzuführen. Die Treffen der neun obersten Repräsentanten sollten die oft äußerst schwerfällige Entscheidungsfindung im Ministerrat aufbrechen und mittels direkter persönlicher Kommunikation dynamisieren helfen. Unterstützt vom deutschen Bundeskanzler und dem britischen Premierminister Edward Heath wurde die Kopenhagener Gipfelkonferenz für den 14. und 15. Dezember 1973 als Auftakt für eine Neuausrichtung der politischen Zusammenarbeit in Europa anberaumt.[18]

Als die Regierungschefs schließlich in Kopenhagen eintrafen, wurde die Tagesordnung jedoch längst durch die aktuellen Ereignisse rund um den arabisch-israelischen Krieg überschattet. Die Energiepolitik wurde zum Prüfstein für die neuen Einigungsinitiativen. Dementsprechend bemüht zeigte sich die in einer „Anlage Energie“ zum Konferenzprotokoll veröffentliche Kopenhagener Verlautbarung, die komplexen Interessendivergenzen der unterschiedlich stark vom Embargo betroffenen Industrienationen in gemeinsame Kompromissformeln zu gießen. Im Endergebnis entschieden sich die Staaten der EG zu einem selbstbewussten Mittelweg: Einerseits hielten sie sich die Option offen, „mit anderen Erdölverbraucherländern im Rahmen der OECD Mittel und Wege zur Behandlung gemeinsamer kurz- und langfristiger Energieprobleme […] zu prüfen.“ Hiermit kamen sie der Forderung der USA zu einem abgestimmten Vorgehen der Verbraucherregionen entgegen. Andererseits unterstrichen die Staats- und Regierungschefs jedoch mit aller Deutlichkeit ihren Willen zu eingehenden Verhandlungen mit den Förderländern. Sie stellten letzteren „Industrieinvestitionen“ und „eine weitgespannte Zusammenarbeit im Hinblick auf die wirtschaftliche und industrielle Entwicklung“ ihrer Volkswirtschaften in Aussicht. Die europäischen Staaten folgten damit der Strategie ihrer Kernländer Frankreich, England und Deutschland, sich in einer geopolitischen Vermittlerrolle zu positionieren. Während man sich in einer gemeinsamen Erklärung zur Nahostpolitik einmütig zu den legitimen Sicherheitsansprüchen des Staates Israel bekannte, unterbreitete man den Ölstaaten zugleich wirtschaftliche Aufbauhilfe.[19]

Aufgrund der Unsicherheit, ob die Krise tatsächlich auf diplomatischem Parkett abgemildert werden könne, verließen sich die europäischen Partner jedoch nicht allein auf Verhandlungsofferten. Parallel suchten sie ein Paket von Maßnahmen zu schnüren, um ihre Energiesicherheit zu erhöhen. Hierzu zählte, dass Rationalisierungs- und Energiesparmaßnahmen der einzelnen Länder so miteinander abgestimmt wurden, dass der innereuropäische Handel und das „ordnungsgemäße Funktionieren des gemeinsamen Energiemarktes“ nicht gefährdet wurden. Stark dirigistische Staatseingriffe, wie sie die französische oder belgische Regierung befürworteten, setzten sich maßgeblich aufgrund der Gegenwehr aus Deutschland nicht als Leitlinie durch. Planung, aber nicht zu starke Regulierung, lautete das Werkzeug, das auserkoren wurde, die Versorgungssicherheit auf Grundlage umfassender statistischer Projektionen langfristig zu garantieren. Auf diesem Weg wollten die Mitgliedstaaten „den Problemen der sich entwickelnden Energiekrise konzertiert begegnen.“ Ein neu einberufener Energieausschuss der Europäischen Kommission sollte schließlich die Energiepolitiken der Mitgliedsländer steuern helfen.

Die neuen energiepolitischen Zielsetzungen umfassten ein ganzes Paket von Maßnahmen. Zum einen suchten die Staaten mittels steuerlicher Stimuli sowie neuen umwelt- und energiepolitischen Vorgaben den Ressourcenverbrauch in Industrie, Transportwesen und privaten Haushalten zu reduzieren. Der Rat der EG sollte die notwendigen „Vorkehrungen treffen, um sicherzustellen, dass alle Mitgliedstaaten gleichwertige und abgestimmte Maßnahmen zur Einschränkung des Verbrauchs ergreifen.“ Tatsächlich entkoppelten sich die Wachstumsraten der industriellen Leistungserstellung in der Folgezeit zunehmend vom aufgewandten Ressourceneinsatz. Die Energieintensität der Produktion sank in den westeuropäischen Industrienationen allein in der Phase von 1973 bis 1982 um weit über dreißig Prozent.[20] Zum anderen wurde Diversifizierung zum neuen Schlagwort. Vorhandene Ressourcen sollten besser genutzt, alternative Energiequellen erforscht und neue Produktionskapazitäten geschaffen werden.[21] Dies galt im Hinblick auf den Bezug von Öl, da sich die Energiediplomatie nun darauf konzentrierte, sich aus der Importabhängigkeit von einzelnen arabischen Staaten zu lösen und die Lieferungen aus politisch stabileren Regionen zu erhöhen. Auch die Ausweitung der heimischen Energieträgerproduktion schien nicht nur für die ressourcenreichen USA, sondern auch für die europäischen Staaten als Weg aus der drohenden Knappheit. Selbst die teure Förderung des schwer erschließbaren Nordseeöls etwa erschien vor dem Hintergrund explodierender Weltmarktpreise nun lohnendes Projekt. Diversifizierung bezog sich aber auch auf das Bemühen, das Öl so weit wie möglich durch alternative Energieträger zu substituieren. Erstmals wurden umfangreiche Forschungsprogramme zur Nutzung erneuerbarer Energien, wie der Solar- und Windenergie oder auch der Geothermie, aufgelegt, die aber aufgrund zu langfristiger Gestehungszeiten und mangelnder technischer Reife rasch wieder ad acta gelegt wurden. So konzentrierten sich die staatlichen und privatwirtschaftlichen Bemühungen letztlich stark auf fossiles Naturgas und allen voran auf die Kernenergie. Die Atomkraft, die bereits seit den 1950er-Jahren als Energie der Zukunft propagiert wurde, avancierte im Zuge eines massiven Ausbaus kommerzieller Reaktoren zum Nutznießer der Ölpreiskrise. Nicht nur die USA oder Großbritannien, die schon vor 1973 höhere Nuklearkraftkapazitäten aufgebaut hatten, intensivierten ihre Anstrengungen. Insbesondere ressourcenarme Länder bauten die Kernkraft nun entscheidend aus. In Frankreich steigerte sich ihr Anteil an der gesamten Elektrizitätserzeugung von etwa 8 Prozent (1973) auf nahezu 40 Prozent (1982). In Deutschland erhöhte sich die Quote im gleichen Zeitraum von rund 6 Prozent auf 17 Prozent. Dabei wurde „der Tausch von Energieversorgungsrisiken in unkalkulierbare technologische Sicherheitsrisiken an den heimischen Produktionsstandorten […] bewusst in Kauf genommen“[22] und trotz der katastrophalen Reaktorunfälle der 1980er-Jahre vorerst nicht revidiert.

Bereits in der Verlautbarung der Kopenhagener Konferenz fand die Förderung der Kernenergie ausdrückliche Erwähnung als zentraler Bestandteil der konzertierten europäischen Antwort auf die energiepolitischen Herausforderungen des Ölpreisschocks. Das Gipfeltreffen markierte damit nicht nur einen Wechsel in den Strategien zur Erlangung von Energiesicherheit. Im Moment hohen äußeren politischen und ökonomischen Drucks gelang es den westeuropäischen Partnerstaaten, neue Impulse für den Integrationsprozess zu setzen. Energiepolitisch zeigte sich dies in der Implementierung europäischer und schließlich auch suprakontinentaler Institutionen, wie der Gründung der Internationalen Energieagentur (IEA) im Dezember 1974. Geopolitisch emanzipierte sich die Europäische Union mit einer eigenständigen Außenpolitik zumindest partiell von den Weltmächten. Mit den nun regelmäßigen Gipfeltreffen schuf sie eine wichtige Grundlage, um neue gemeinsame Regierungsinstitutionen zu schaffen, die in den Folgejahren das Projekt einer Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion entscheidend voranbrachten. Die Europäische Idee hatte ihre Feuerprobe bestanden.



[1] Essay zur Quelle: Verlautbarung der Konferenz der Staats- und Regierungschefs der EG in Kopenhagen (14. und 15. Dezember 1973).

[2] Pfister, Christian, Das 1950er Syndrom. Der Weg in die Konsumgesellschaft, Bern u.a. 1995.

[3] Meadows, Dennis L. u.a., Limits to Growth. A Report for the Club of Rome's Project on the Predicament of Mankind, New York 1972.

[4] Graf, Rüdiger, Öl und Souveränität. Petroknowledge und Energiepolitik in den USA und Westeuropa in den 1970er Jahren, Berlin 2014.

[5] Vgl. die zu diesem Essay mit veröffentlichte Quelle Verlautbarung der Konferenz der Staats- und Regierungschefs der EG in Kopenhagen (14. und 15. Dezember 1973), Anlage: Energie, in: Bulletin, hg. vom Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, Nr. 165 vom 18. Dezember 1973, S. 1650–1651, hier S. 1650. Im Folgenden stammen alle Quellenzitate, sofern nicht anders ausgewiesen, aus der hier mit veröffentlichten Quelle.

[6] Brandt, Willy, Erklärung der Bundesregierung zu aktuellen Fragen der Wirtschafts- und Energiepolitik (29.11.1973), in: Verhandlungen des Deutschen Bundestages, 7. Wahlperiode, Stenographische Berichte, Bd. 85, Bonn 1973, S. 3911.

[7] Vgl. Eichengreen, Barry, Vom Goldstandard zum Euro, Berlin 2000, S. 183ff.

[8] Siehe Graf, Öl, S. 104f.

[9] Vgl. Miller, Rory, Inglorious Disarray. Europe, Israel and the Palastinians since 1967, London 2011; Pardo, Sharon; Peters, Joel (Hgg.), Israel and the European Union. A Documentary History, Lanham 2012.

[10] Hohensee, Jens, Der erste Ölpreisschock 1973/74. Die politischen und gesellschaftlichen Auswirkungen der arabischen Erdölpolitik auf die Bundesrepublik Deutschland und Westeuropa, Stuttgart 1996, S. 180.

[11] Gesetz zur Sicherung der Energieversorgung bei Gefährdung oder Störung der Einfuhren von Mineralöl oder Erdgas (Energiesicherungsgesetz) vom 09.11.1973, in: BGBl. I, 1973, S. 1585–1588.

[12] Vgl. Hohensee, Jens, „... und Sonntags wieder laufen.“ Die erste Ölkrise 1973/74 und ihre Perzeption in der Bundesrepublik Deutschland, in: Salewski, Michael (Hg.), Moderne Zeiten. Technik und Zeitgeist im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 1994, S. 175–196.

[13] Zitiert in: Hohensee, Ölpreisschock, S. 181.

[14] Hellema, Duco; Wiebes, Cees; Witte, Toby, Doelwit Rotterdam. Nederland en de Oliecrisis 1973–1974, Den Haag 1998, S. 108.

[15] Pierre, Andrew J., What happened to the Year of Europe?, in: The World Today 30 (1974), H. 3, S. 110.

[16] Vgl. Hiepel, Claudia, Willy Brandt und Georges Pompidou deutsch-französische Europapolitik zwischen Aufbruch und Krise, München 2012, S. 253.

[17] Erklärung der Pariser Gipfelkonferenz vom 19.–21. Oktober 1972, in: Bulletin der Europäischen Gemeinschaften, Nr. 148 (24. Oktober 1972), S. 16. Vgl. Schmalz, Uwe, Deutschlands europäisierte Außenpolitik. Kontinuität und Wandel deutscher Konzepte zur EPZ und GASP, Wiesbaden 2004, S. 344f.

[18] Vgl. Hiepel, Brandt, S. 248 u. 254.

[19] Vgl. Hohensee, Ölpreisschock, S. 185.

[20] Vgl. Göbel, Stefan, Die Ölpreiskrisen der 1970er Jahre. Auswirkungen auf die Wirtschaft von Industriestaaten am Beispiel der Bundesrepublik Deutschland, der Vereinigten Staaten, Japans, Großbritanniens und Frankreichs, Berlin 2013, S. 441f., Tab. 32 u. 33.

[21] Vgl. Verlautbarung der Gipfelkonferenz von Kopenhagen, Anlage: Energie, S. 1651.

[22] Göbel, Ölpreiskrisen, S. 450f.



Literaturhinweise

  • Göbel, Stefan, Die Ölpreiskrisen der 1970er Jahre. Auswirkungen auf die Wirtschaft von Industriestaaten am Beispiel der Bundesrepublik Deutschland, der Vereinigten Staaten, Japans, Großbritanniens und Frankreichs, Berlin 2013.
  • Graf, Rüdiger, Öl und Souveränität. Petroknowledge und Energiepolitik in den USA und Westeuropa in den 1970er Jahren, Berlin 2014.
  • Hiepel, Claudia, Willy Brandt und Georges Pompidou deutsch-französische Europapolitik zwischen Aufbruch und Krise, München 2012.
  • Hohensee, Jens, Der erste Ölpreisschock 1973/74. Die politischen und gesellschaftlichen Auswirkungen der arabischen Erdölpolitik auf die Bundesrepublik Deutschland und Westeuropa, Stuttgart 1996.
  • Miller, Rory, Inglorious Disarray. Europe, Israel and the Palastinians since 1967, London 2011.

Verlautbarung der Konferenz der Staats- und Regierungschefs der EG in Kopenhagen (14. und 15. Dezember 1973)[1]

Die Staats- und Regierungschefs waren der Auffassung, daß die durch die Energiekrise hervorgerufene Lage die Weltwirtschaft als Ganzes bedroht und Industrieländer wie Entwicklungsländer trifft. Ein anhaltender Energiemangel würde sich ernsthaft auf Produktion, Beschäftigung und Zahlungsbilanz der Gemeinschaftsländer auswirken.

Die Staats- und Regierungschefs waren sich daher einig, daß die Gemeinschaft sofort auf folgende Weise wirksame Maßnahmen ergreifen muss:

Der Rat soll sofort durch die erforderlichen Vorkehrungen in der Gemeinschaft die Kommission ermächtigen, bis zum 15. Januar 1974 umfassende Energiebilanzen unter Einschluß aller wichtigen Aspekte der Energielage in der Gemeinschaft aufzustellen.

Die Kommission soll auf dieser Grundlage mit der Prüfung aller gegenwärtigen oder vorhersehbaren Auswirkungen der Energieversorgungslage auf Produktion, Beschäftigung, Preise und Zahlungsbilanzen sowie auf die Entwicklung der Währungsreserven beginnen.

Die Staats- und Regierungschefs bitten die Kommission, bis zum 31. Januar 1974 Vorschläge vorzulegen, über die der Rat so rasch wie möglich – im Prinzip vor dem 28. Februar 1974 – beschließen soll, um das ordnungsgemäße Funktionieren des gemeinsamen Energiemarktes sicherzustellen.

Die Kommission wird in diesem Zusammenhang gebeten, dem Rat so rasch wie möglich zur alsbaldigen Beschlußfassung Vorschläge zu unterbreiten, wie den Problemen der sich entwickelnden Energiekrise konzertiert begegnet werden kann.

Aus den gleichen Gründen fordern sie den Rat auf, Vorkehrungen zu treffen, um sicherzustellen, daß alle Mitgliedstaaten gleichwertige und abgestimmte Maßnahmen zur Einschränkung des Energieverbrauchs ergreifen.

Um die Energieversorgung der Gemeinschaft zu sichern, wird der Rat ein Gesamtprogramm der Gemeinschaft für Alternativ-Energiequellen beschließen. Dieses Programm soll die Diversifizierung der Versorgung durch Entwicklung der vorhandenen Ressourcen, beschleunigte Erforschung neuer Energiequellen und Schaffung neuer Produktionskapazitäten, insbesondere einer europäischen Uran-Anreicherungskapazität mit dem Ziel einer abgestimmten, harmonischen Entwicklung bestehender Projekte fördern.

Die Staats- und Regierungschefs unterstrichen die Bedeutung, die sie der Aufnahme von Verhandlungen mit Erdöl-Förderländern über eine Gesamtregelung beimessen; diese soll eine weitgespannte Zusammenarbeit im Hinblick auf die wirtschaftliche und industrielle Entwicklung dieser Länder, auf Industrieinvestitionen und auf eine stabile Energieversorgung der Mitgliedstaaten zu angemessenen Preisen umfassen.

Sie hielten es ferner für nützlich, mit anderen Erdöl-Verbraucherländern im Rahmen der OECD Mittel und Wege zur Behandlung gemeinsamer kurz- und langfristiger Energieprobleme der Verbraucherländer zu prüfen.

Der Rat soll auf seiner Tagung am 17. und 18. Dezember 1973 einen Energieausschuß leitender Beamten einsetzen, der für die Durchführung der vom Rat beschlossenen energiepolitischen Maßnahmen zuständig ist.


[1] Verlautbarung der Konferenz der Staats- und Regierungschefs der EG in Kopenhagen (14. und 15. Dezember 1973), Anlage: Energie, in: Bulletin, hg. vom Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, Nr. 165 vom 18. Dezember 1973, S. 1650–1651.


Für das Themenportal verfasst von

Ingo Köhler

( 2016 )
Zitation
Ingo Köhler, Europa im Bann der Ölpreiskrise 1973/74 Energie-, Sicherheits- und Einigungspolitik im Spannungsfeld, in: Themenportal Europäische Geschichte, 2016, <www.europa.clio-online.de/essay/id/fdae-1675>.
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