Konfession und Wahlverhalten in Deutschland

Besonders bei katholischen Wählern in Deutschland spielte die Konfessionszugehörigkeit in politischen Entscheidungen lange Zeit eine größere Rolle als die Klassenzugehörigkeit. Der vorliegende Beitrag untersucht die Bedeutung der Konfession im Wahlverhalten der Bürger im Kaiserreich, in der Weimarer Republik, zu Beginn des Dritten Reiches und in der Bundesrepublik. Er analysiert, welche Kontinuitäten erkennbar sind, welche Aspekte sich verändert haben und welche Unterschiede zwischen den Konfessionen zu beobachten sind. Während zum Beispiel die katholisch orientierte Wählerschaft bis 1933 zu großen Teilen die katholische Zentrums-Partei wählte, gab es auf protestantischer Seite keine entsprechend konfessionell ausgerichtete Partei. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg etablierte sich die CDU/CSU als überkonfessionelle, christlich orientierte Partei.

Konfession und Wahlverhalten in Deutschland

Von Adolf Kimmel

Besonders bei katholischen Wählern in Deutschland spielte die Konfessionszugehörigkeit in politischen Entscheidungen lange Zeit eine größere Rolle als die Klassenzugehörigkeit. Der vorliegende Beitrag untersucht die Bedeutung der Konfession im Wahlverhalten der Bürger im Kaiserreich, in der Weimarer Republik, zu Beginn des Dritten Reiches und in der Bundesrepublik. Er analysiert, welche Kontinuitäten erkennbar sind, welche Aspekte sich verändert haben und welche Unterschiede zwischen den Konfessionen zu beobachten sind. Während zum Beispiel die katholisch orientierte Wählerschaft bis 1933 zu großen Teilen die katholische Zentrums-Partei wählte, gab es auf protestantischer Seite keine entsprechend konfessionell ausgerichtete Partei. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg etablierte sich die CDU/CSU als überkonfessionelle, christlich orientierte Partei. Zwar haben Konfession und Kirchenbindung im Kontext der Säkularisierung der Gesellschaft an Bedeutung für die Politik verloren. Doch die Konfessionszugehörigkeit ist noch immer von Belang in der Analyse der politischen Einstellungen und des Wahlverhaltens.

Depuis longtemps, et particulièrement pour les électeurs catholiques, l’appartenance à une confession jouait un plus grand rôle dans les décisions politiques que l’appartenance à une classe sociale en Allemagne. L’essai ci-dessous analyse l’importance que la confession avait sur leur comportement électoral sous l’empire allemand, sous la république de Weimar, au début du troisième Reich et sous la République fédérale d’Allemagne. Quelle continuité y avait-il, quels changements, quelles différences peut-on observer entre les confessions ? Alors que, jusqu’à 1933, les électeurs appartenant à l’église catholique votaient, en majorité, pour le parti catholique du « Zentrum », les protestants, eux, n’avaient pas de réelle préférence pour un parti. Puis, après la Deuxième Guerre mondiale, la CDU/CSU s’établit comme parti chrétien interconfessionnel. Certes, la confession et le lien à l’église ont perdu de leur influence politique au cours de la sécularisation de la société. Mais aujourd’hui encore l’appartenance à la confession a de l’importance pour analyser les attitudes politiques et le comportement électoral.

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Rahmenbedingungen

Konfessionszugehörigkeit und Religion haben in der neueren deutschen Geschichte eine herausragende Rolle gespielt – eine Rolle, die wichtiger war als in vielen anderen europäischen Ländern. Ihre Ursache ist in zwei Ereignissen und Entwicklungen festzumachen:

Zum einen an der konfessionellen Spaltung, die mit dem Ende des 30jährigen Krieges besiegelt wurde. Sie führte gemäß der Devise „cuius regio eius religio“ zu einer regionalen Aufteilung. Diese erfuhr schon durch die Säkularisation und die Neuordnung des Wiener Kongresses Veränderungen, bevor es nach dem Zweiten Weltkrieg durch Flucht und Vertreibung sowie eine erheblich gesteigerte allgemeine Mobilität zu einer weitergehenden konfessionellen Durchmischung kam. Dennoch besteht noch eine Grobstruktur aus protestantischem Norden, katholischem Süden und inzwischen überwiegend konfessionslosem Osten. Zwischen Katholizismus und Protestantismus bestand ein tiefer, lange Zeit nahezu unüberwindlicher Graben. Das galt insbesondere für die kirchengebundenen Mitglieder der beiden Konfessionen, wie etwa an der geringen Zahl der Mischehen sowie – das wird noch näher zu erläutern sein – am Wahlverhalten erkennbar ist.

Die Gründung des kleindeutschen Reiches 1871 brachte die Katholiken, im Deutschen Bund unter Einschluss Österreichs noch in der Mehrheit, in eine Minderheitssituation: Sie stellten nur etwa ein Drittel der Bevölkerung. Infolge der auf der Reichsebene sowie in vielen Einzelstaaten bestehenden Bündnissen von Thron und Altar, wie auch infolge der politischen, ökonomischen, gesellschaftlichen und kulturellen Dominanz der Protestanten fühlten sich die Katholiken als eine benachteiligte, ja bedrohte Minderheit. Der Kulturkampf machte aus diesem Gefühl eine akute Gefahr und hatte weit reichende Folgen.

Die für mein Thema wichtigste Folge war die Bildung eines geschlossenen, hochintegrierten, sich nach außen abgrenzenden katholischen (Sozial-)Milieus, dessen wichtigste Pfeiler die Amtskirche, ein in weite Bereiche der Gesellschaft eindringendes, gut organisiertes Vereinswesen (am bedeutendsten war der Volksverein für das katholische Deutschland), sowie die Deutsche Zentrumspartei als „politischer Aktionsausschuss“[1] dieses Milieus waren.

Der Protestantismus bildete kein vergleichbares Milieu. Da er – wie erwähnt – in der Politik und in vielen gesellschaftlichen Bereichen dominant war, ihm auch die Kulturkampferfahrung fehlte, bestand für ihn nicht in gleicher Weise Veranlassung für politische Organisation und Mobilisierung. Selbstverständnis und Verfasstheit des Protestantismus standen dem auch entgegen. Als Pendant zum Zentrum gab es also keine protestantische Partei. Das protestantische Elektorat verteilte sich auf mehrere Parteien. Politisch geeint war der Protestantismus nur negativ: Das Zentrum als katholische Partei war nicht wählbar.

Das Ende des Kaiserreiches und die Gründung der Weimarer Republik veränderten diese Gesamtsituation kaum. Die Katholiken blieben weiter eine Minderheit, und es schien durch die Kultur- und Schulpolitik einiger Minister in den Ländern, insbesondere in Preußen, sogar ein neuer Kulturkampf zu drohen. So ist es nicht verwunderlich, dass das katholische Sozialmilieu und „seine“ Partei, das Zentrum, bestehen blieben (nun mit einer bayerischen Variante, der 1918 gegründeten Bayerischen Volkspartei, BVP). Im Protestantismus kam es, obwohl die staatskirchlichen Bindungen nicht mehr bestanden, weiterhin zu keiner vergleichbaren Parteigründung. Die genannten, ihr entgegenstehenden historischen Voraussetzungen führten zum Scheitern jedes derartigen Versuches (etwa mit dem Christlich-Sozialen Volksdienst).

Erst in der Bundesrepublik änderte sich die Situation grundlegend. Von kaum zu überschätzender Bedeutung war ein wesentlich durch die deutsche Teilung zustandegekommener neuer Konfessionsproporz: Die Protestanten waren zwar immer noch in der Mehrheit, aber 1950 übertrafen sie mit 51,2 Prozent die Katholiken (45,2%) nur noch um wenige Punkte. Deren Minderheitssituation war 1976 endgültig beendet, als zwischen den beiden Konfessionen Parität erreicht wurde. Gleichwohl bestand das katholische Milieu fort. Allerdings traten seit den 1960er Jahren die Veränderungen klar zutage: Der Rückgang der Kirchlichkeit bedeutete eine Schrumpfung des Milieus[2] und Entwicklungen in der Gesellschaft wie in der katholischen Kirche (Vatikanum II) zogen einen allmählichen Abbau – wenn auch nicht das völlige Verschwinden – der konfessionellen Trennungslinien wie auch eine abnehmende Verbindlichkeit der kirchlichen Wahlnorm nach sich. Die wichtigste politische Veränderung lag natürlich in der Gründung einer nicht mehr katholischen, sondern überkonfessionell-christlichen Partei, der CDU/CSU. Sie konnte sich – nicht zuletzt dank der Parteinahme der katholischen Bischöfe – rasch gegen das wiedergegründete Zentrum durchsetzen. Für die Protestanten bestand damit erstmals eine aussichtsreiche christliche Parteioption.

Wie stellt sich in diesem nur grob skizzierten Rahmen das konfessionelle Wahlverhalten dar? Gibt es überhaupt ein solches? Gibt es Unterschiede zwischen den Konfessionen? Wo gibt es, vom Kaiserreich über die Weimarer Republik und die Bundesrepublik bis zum wiedervereinten Deutschland, Kontinuität, wo Wandel? Welches Gewicht kommt Konfession und Kirchenbindung im Vergleich zu anderen Faktoren zu? Unter Verzicht auf Details und Differenzierungen beschränkt sich die Analyse darauf, die Grundlinien der Entwicklung aufzuzeigen. Eine Zwischenbemerkung ist noch nötig: Die für das Kaiserreich und die Weimarer Republik zur Verfügung stehenden Daten (es gab noch keine Umfragen) erlauben nur Aussagen über Größenordnungen (zum Beispiel von Wähleranteilen), aber keine genauen Zahlenangaben.

Konfession und Wahlverhalten im Kaiserreich und in der Weimarer Republik

Zunächst möchte ich den bekannten Sachverhalt in Erinnerung rufen, dass die konfessionelle Scheidelinie, die oft ein Gegensatz war, schon bestand, bevor sich im Gefolge der Industrialisierung Klassengegensätze bildeten. Die ältere konfessionelle Konfliktlinie war für das politische Verhalten wirksamer, weil die Kirche für das Leben vieler Menschen damals eine besonders wichtige Instanz war. Konfession und Kirche erzeugen „kulturelle Programmierungen“[3], die auch in der Politik verhaltensbestimmend wirken und nur schwer und nur über längere Frist verändert werden können.

In besonderer Weise gilt dies für die Katholiken und erklärt, warum ein großer Teil quer durch alle sozialen Schichten das Zentrum wählte. Bei den kirchengebundenen, also den regelmäßig praktizierenden Katholiken, war dieser Anteil noch größer. Sahen Kirche und Katholiken essentielle Interessen bedroht – wie im Kulturkampf –, so erreichte die Mobilisierung einen besonders hohen Grad. Bei den Reichtagswahlen zwischen 1874 und 1884 erhielt das Zentrum über 80 Prozent der katholischen Stimmen.[4] Der Anteil sank kontinuierlich bis auf 63,8 Prozent 1907 und lag 1912 nur noch bei 55 Prozent. Dabei ist freilich zu berücksichtigen, dass es sich ausschließlich um Männer handelte, denn es gab ja noch kein Frauenstimmrecht.

Man kann mit einiger Plausibilität vermuten, dass es vor allem kirchenferne Katholiken waren, die nicht das Zentrum wählten, deren Wahlverhalten nicht durch die Konfession bestimmt war, sondern durch ihre beruflich bedingte sozioökonomische Lage oder durch politische Überlegungen und Überzeugungen.[5] Nach den Berechnungen von Johannes Schauff stimmten „mindestens“ drei Viertel der bekenntnistreuen Katholiken für das Zentrum.[6] Die protestantischen Wähler hatten weder Veranlassung noch die Gelegenheit, ihre Stimmen in ähnlicher Weise auf eine Partei zu konzentrieren. Sie verteilten sich auf konservative und liberale Parteien sowie die SPD, wobei ihre Konfession oder ihre Kirchlichkeit meist keineswegs der Faktor war, der ihr Wahlverhalten im Vergleich zu anderen Faktoren bestimmte, jedenfalls nicht so ausschlaggebend war wie bei den Katholiken.

Die für das Wahlverhalten, namentlich der Katholiken, wichtigste Veränderung bei der Gründung der Weimarer Republik war die Einführung des Frauenwahlrechts. Auch der Übergang von der Mehrheits- zur Verhältniswahl spielte eine Rolle. Da die katholischen Frauen, stärker kirchengebunden als die Männer, auch in stärkerem Maße das Zentrum (bzw. die BVP, die sich 1919 abgespalten hatte) wählten[7], gewann das Zentrum nun wieder um 60 Prozent der katholischen Stimmen. Das hohe Maß an Loyalität seiner Wähler machte das Zentrum in Hinblick auf seine Stärke zur stabilsten Partei. Sein Stimmenanteil schwankte nur zwischen 17,7 Prozent (1920) und 14,7 Prozent (1930).[8] Bei den nur noch eingeschränkt freien Wahlen vom 5. März 1933 kamen die beiden Parteien immer noch auf 13,9 Prozent. Besonders eindrucksvoll tritt die Loyalität der katholischen Wähler, die Verbindlichkeit der Wahlnorm zutage, wenn man die Reichspräsidentenwahlen von 1925 und 1932 vergleicht: 1925 siegte Hindenburg als „Kandidat des evangelischen Deutschland“[9], während die Katholiken natürlich für den rheinischen Katholiken Wilhelm Marx stimmten. 1932 blieb Hindenburg in den protestantischen Gebieten weit hinter seinen Ergebnissen von 1925 zurück, während seine besten Ergebnisse in den katholischen Regionen lagen. Selbst wenn es galt, einen preußischen Feldmarschall zu wählen – gegen einen katholischen Gegenkandidaten –, befolgten die Katholiken die Wahlnorm, wenn diese von der Wahl des katholischen Kandidaten abriet.[10]

Drei Aspekte erscheinen mir bemerkenswert: Wie keine andere Partei (bis zum Aufkommen der NSDAP) gewann das Zentrum Wähler aus allen sozialen Schichten, weshalb es gelegentlich als erste deutsche Volkspartei bezeichnet wird. Die Konfession war für das Wahlverhalten wichtiger als sozialstrukturelle Faktoren. Allerdings muss – dies die zweite Bemerkung – hinzugefügt werden, dass diese soziale Heterogenität auf die katholische Minderheit eingeschränkt ist. Auch wenn nicht alle Katholiken das Zentrum wählten, so war seine Wählerschaft doch fast rein katholisch. Die dritte Bemerkung: Die Zentrumswählerschaft zeigte ein außerordentlich hohes Maß an Resistenz gegenüber dem Nationalsozialismus. Jürgen Falter hat in seiner gründlichen Untersuchung über „Hitlers Wähler“ nachgewiesen, dass die Protestanten doppelt so anfällig für den Nationalsozialismus waren wie die Katholiken. Die NSDAP war, bezogen auf ihre Wähler, eine protestantische Partei, namentlich der kirchenfernen Protestanten.[11] Ein Blick auf die Wahlkarte zeigt eine verblüffende Entsprechung zwischen der Konfessionsverteilung einerseits und den Wahlergebnissen des Zentrums und der NSDAP andererseits: Je höher der Katholikenanteil und je höher der Grad der Kirchenbindung, desto besser die Zentrums- und desto schlechter die NSDAP-Ergebnisse.[12] Auf dem Land erwies sich die Immunität der Katholiken als besonders groß, da hier Beeinflussung und soziale Kontrolle durch das Milieu deutlich stärker waren als in der Stadt.[13] „Kein anderes Sozialmerkmal [hat] die nationalsozialistischen Wahlerfolge so stark beeinflusst wie die Konfession.“[14] Mit Falter kann man hypothetisch formulieren, dass die NSDAP schon im Juli 1932 die absolute Mehrheit der Reichstagsmandate gewonnen hätte, wenn in Deutschland nur Protestanten gelebt hätten. Hätte es nur katholische Wähler gegeben, wäre es wohl nie zu einer (legalen) Machtübernahme Hitlers gekommen.[15]

Die katholischen Wähler wollten von der NSDAP nicht deshalb so wenig wissen, weil sie politisch besonders gut informiert, weil sie besonders vernünftig waren oder weil sie eine besonders feste demokratische Gesinnung hatten, sondern weil man als guter Katholik eben Zentrum wählte und das tat man, weil man zum katholischen Milieu gehörte. Zum Milieu gehörte man nicht durch eine frei getroffene Entscheidung. Man war in das Milieu hineingeboren und befolgte mehr oder minder unkritisch die von der kirchlichen Obrigkeit ausgegebene Wahlnorm. Zugespitzt gesagt: Die sehr geringe Anfälligkeit der kirchengebundenen Katholiken beruht auf einem geringen Maß an demokratischer Reife. Natürlich gilt nicht der Umkehrschluss, dass die Hinwendung der Protestanten zur NSDAP das Ergebnis besonderer demokratischer Reife war.

Der hervorstechende Zug des Wahlverhaltens der Protestanten war im Übrigen derselbe wie im Kaiserreich: Sie verteilen sich auf alle Parteien, außer auf das Zentrum, das weiterhin unwählbar bleibt. Konfession und Kirchenbindung – die im Übrigen, gemessen am regelmäßigen Gottesdienstbesuch, für die Protestanten nicht die gleiche Bedeutung hat wie für die Katholiken – wirkten sich gewissermaßen nur negativ aus. Es gehörte nicht zur Tradition der protestantischen Kirche, für das politische Verhalten ähnlich feste Regeln und Anweisungen zu geben, wie es die katholische Kirche tat.

Konfession und Wahlverhalten in der Bundesrepublik

Die Bundestagswahl 1953 zeigt hinsichtlich des Wahlverhaltens der Katholiken ein bemerkenswertes Ergebnis: Wie schon in der Weimarer Republik, gaben drei Viertel der kirchentreuen Katholiken und etwa 55 Prozent der Katholiken überhaupt (also unter Einschluss der so genannten Taufscheinkatholiken) der CDU/CSU ihre Stimme. Die Union wurde von den Katholiken sofort als ihre Partei, als Nachfolgerin des Zentrums, akzeptiert, und sie präsentierte sich in den überwiegend katholischen Gebieten auch als solche. Mentalitäten und Einstellungen, sowie das sich daraus ergebende politische Verhalten haben die verschiedenen Regimebrüche nahezu unbeschadet überstanden. Auch der Nationalsozialismus hatte das Milieupotential und seine politische Mobilisierungsfähigkeit nicht beeinträchtigen können. Das katholische Milieu trug die CDU wie früher das Zentrum. Die Verbindung Milieu / Partei erklärt zum Teil, warum die Union in den 50er – abgeschwächt noch in den 60er Jahren –, noch keine „richtige“ Partei zu sein brauchte: Das katholische Vereinswesen übernahm, unterstützt von der Amtskirche, für die noch nicht so zahlreichen Mitglieder (die SPD hatte dreimal so viele) und den recht dürftigen Parteiapparat die Bestreitung der Wahlkämpfe.

Etwas anders stellt sich die Lage für die Protestanten dar. Kontinuität gab es auch hier insofern, als der Pluralismus, d.h. die Verteilung der Wähler auf verschiedene Parteien fortbestand. Neu war aber, dass der Protestantismus nicht mehr politisch negativ geeint war. Während ein „guter“ Protestant das Zentrum nicht wählen konnte, gab nun ein Drittel der protestantischen Wähler und über die Hälfte der kirchlichen Protestanten ihre Stimme der Union. Die Zahlen zeigen aber, dass es im Wahlverhalten keine Nivellierung, sondern weiterhin deutliche konfessionelle Unterschiede gab. Allerdings muss man hier regional differenzieren: In überwiegend katholischen Regionen, wo die CDU tatsächlich als katholische Partei, als eine Neuauflage des Zentrums, erschien (zum Beispiel Rheinland, Westfalen, Bayern), gab es weiter eine große Zurückhaltung namentlich unter den kirchlichen Protestanten. In überwiegend protestantischen Regionen hingegen wurde die CDU nicht als ein neues – katholisches – Zentrum, sondern tatsächlich als christlich-überkonfessionelle Partei wahrgenommen und gewählt. So erhielt sie 1953 in Schleswig-Holstein bei einem Katholikenanteil von nur 6 Prozent 47,1 Prozent der Stimmen; in Bayern mit einem Katholikenanteil von 79 Prozent auch „nur“ 47,8 Prozent (wobei es hier freilich die Konkurrenz der Bayernpartei gab). Allerdings stimmten viele Protestanten nicht aus konfessionellen oder religiösen Gründen für die CDU, sondern aus genuin politischen, ökonomischen oder sozialen. Sie war in ihren Augen – durchaus zu Recht – eine konservative, bürgerliche, antisozialistische Partei, die vor allem als Nachfolge der DNVP gelten konnte.

Noch in den 80er Jahren und nach der Wiedervereinigung stimmen etwa 60 Prozent der Katholiken und zwischen 30 Prozent und 40 Prozent der Protestanten für die CDU/CSU. In den neuen Ländern liegen die Werte sogar noch darüber.[16] Von den regelmäßigen katholischen Kirchgängern entscheiden sich nach wie vor rund drei Viertel – mal etwas mehr, mal etwas weniger –, für die Union, auch in den neuen Ländern.[17] Die praktizierenden Katholiken bilden seit der Gründung des Kaiserreiches die Kernwählerschaft der katholischen bzw. christlichen Partei. Keine andere soziale Gruppe entscheidet sich mit einer derartigen Geschlossenheit für eine Partei, über Jahrzehnte hinweg. Die Wahlgeografie bestätigt die Umfragen: Der überwiegend katholische Süden gibt der CDU/CSU eine klare Mehrheit; der protestantische Norden der SPD und der überwiegend konfessionslose Osten der SPD und der PDS. Hinter dieser beeindruckenden Kontinuität verbirgt sich aber eine einschneidende Veränderung.

Was der Nationalsozialismus nicht erreicht hatte, entwickelte sich in der Bundesrepublik sozusagen von selbst: Das katholische Milieu, für das Kirchenzugehörigkeit und Glaube auch direkt in den politischen Bereich hinein wirken dürfen, ja müssen, verschwand zwar nicht, aber es schrumpfte ganz erheblich. Gingen 1953 noch 60 Prozent der Katholiken regelmäßig zur Messe, so sank dieser Anteil auf 30 Prozent 1980 und unter 20 Prozent heute. Einer ähnlichen Erosion war das katholische Vereinswesen unterworfen. Wenn die regelmäßig praktizierenden Katholiken nur noch 7 Prozent und die der Protestanten sogar nur 2 Prozent der Wählerschaft ausmachen (2002), dann hat diese Entwicklung gravierende Konsequenzen für die Union. Es ist erstaunlich, dass sie in der alten Bundesrepublik nur einen Rückgang auf 44,3 Prozent (1987) zu verzeichnen hat, also um lediglich 4,5 Punkte (wenn man die Wahl 1949 und den „Ausreißer“ von 1957 einmal außer Acht lässt). Die durch den Rückgang der Kirchlichkeit verursachten, sicher höheren Verluste konnte sie offenbar durch andere, hier nicht zu erörternde politische Faktoren kompensieren. Ein anderer, kaum zu beziffernder Faktor hat ebenfalls eine Rolle gespielt: Die durch Konfession und insbesondere Kirchlichkeit erfolgten „kulturellen Prägungen“ wirken sich eine Zeitlang auch dann noch politisch aus, wenn die Kirchlichkeit geschwunden ist. Allerdings verschwinden sie nach etwa einer Generation.

Eine weitere Frage will ich nur anschneiden: Ist das katholische Milieu nicht nur geschrumpft, sondern hat es auch an Prägekraft verloren? Gilt die kirchliche Wahlnorm nicht mehr mit gleicher Verbindlichkeit? Gelegentlich ist zu lesen, selbst kirchengebundene Katholiken seien nicht mehr in gleichem Maße wie früher treue Unionswähler. Dies geschieht mit Verweis auf das vor allem seit dem Godesberger Programm (1959) gewandelte Verhältnis der katholischen Kirche zur SPD sowie Entwicklungen in der Kirche in den frühern 60er Jahren (Papstenzykliken, Vatikanum II). Schon der über Jahrzehnte nahezu unveränderte CDU-Anteil unter den praktizierenden Katholiken lässt aber erkennen, dass das Milieu nur marginal an Geschlossenheit verloren hat. Das gilt auch für diejenige Gruppe, die das Godesberger Programm vor allem im Visier hatte: die katholischen, kirchengebundenen Arbeiter. Karl Schmitt[18] hat nachgewiesen, dass die SPD ihre Wahlgewinne in den 60er Jahren (bis zum Höhepunkt 1972) nicht primär den „übergelaufenen“ katholischen Kirchgängern unter den Arbeitern verdankte, sondern dem protestantischen „neuen Mittelstand“. In der cross pressure-Situation zwischen Kirchlichkeit und Beruf erweist sich namentlich für das katholische Milieu weiterhin die Kirchenbindung als stärker.

Der geradezu dramatische Rückgang der Unionsergebnisse der letzten Jahre – dreimal hintereinander unter 40 Prozent, zum Teil sehr deutlich –, ist nicht allein, aber in erheblichem Ausmaß mit dem konfessionellen Faktor zu erklären: Das katholische Milieu ist in den neuen Ländern nur ganz marginal vorhanden (Katholikenanteil 5%), während der Anteil der Konfessionslosen zwei Drittel der Bevölkerung ausmacht (in den alten Ländern nur 8%). Eine konfessionell bzw. kirchlich gebundene Stammwählerschaft der CDU gibt es in den neuen Ländern fast nicht.

Konklusion

Kann man das Thema Konfession, Kirchlichkeit und Wahlverhalten in Deutschland seit dem Kaiserreich auf einen knappen Nenner bringen? Die Katholiken und insbesondere die regelmäßig praktizierenden wählen konstant mit stabilen Mehrheiten von 60 Prozent bzw. 75 Prozent „ihre“ Partei, das Zentrum und die CDU/CSU. Nichts, kein Regimewechsel, keine Revolution, keine Diktatur haben diese politische Einstellung, wie sie an der Wahlurne zum Ausdruck kommt, nennenswert verändern können. Eine drastische Veränderung hat das katholische Milieu, das der Mutterboden dieses Wahlverhaltens ist, allerdings erfahren: Im Kontext einer allgemeinen Säkularisierung der (west)europäischen Gesellschaften seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs ist es erheblich geschrumpft und wird voraussichtlich weiter schrumpfen, weil insbesondere unter den Jugendlichen die Kirchlichkeit weiter schwindet. Da das katholische Milieu in den neuen Ländern fast völlig fehlt, hat die Wiedervereinigung das Wählerpotential der Union weiter geschwächt[19], hat in entscheidender Weise dazu beigetragen, dass sie die strukturelle Mehrheit, die sie in der alten Bundesrepublik nicht zuletzt dank der deutschen Teilung besaß, verloren hat.

Das Wahlverhalten der Protestanten hat nach 1945 eine bemerkenswerte Veränderung erfahren. Während das Zentrum als rein katholische Partei für die Protestanten nicht wählbar war, erhielt die CDU/CSU von Anfang an einen beachtlichen Teil der protestantischen Wählerstimmen. Erstmals stimmten Protestanten für eine Partei, die die Mehrheit der Katholiken als „ihre“ Partei betrachtet. Die überkonfessionelle Parteigründung hat sich als erfolgreich erwiesen, aber sie hat keineswegs die Konfessionsunterschiede im Wahlverhalten zum Verschwinden gebracht. Diese Entwicklungen wurden ermöglicht durch das sich entspannende Verhältnis zwischen den Konfessionen, aber auch die Tatsache, dass die Union nicht mehr enge kirchliche (katholische) Interessen vertritt, sondern ein politisches Programm auf der Grundlage eines christlichen Menschenbildes besitzt. Allerdings wirken beim Votum der Protestanten für die Union häufig andere Faktoren als die Kirchlichkeit, primär die Berufszugehörigkeit; die Union wird von ihnen vor allem als antisozialistische bürgerliche Sammlungspartei gewählt.

Konfession und Kirchenbindung haben im Kontext der Säkularisierung gewiss an Bedeutung für die Politik verloren. Die Folgen der Säkularisierung sind an der Zusammensetzung der Wählerschaft der Union gut abzulesen: Bei der Bundestagswahl 1953 waren fast 60 Prozent ihrer Wähler kirchennahe Christen; sie konnte sich durchaus zu Recht als eine „christliche Partei“ bezeichnen. 1983 stellten die kirchlich gebundenen Wähler nur noch ein Drittel. Kommt auch dem Faktor für das Wahlverhalten sicher nicht mehr die gleiche Bedeutung zu wie vor 50 oder 100 Jahren, so ist er doch weiterhin wirksam und besitzt für die Analyse der politischen Einstellungen und des Wahlverhaltens nach wie vor eine keineswegs zu vernachlässigende Erklärungskraft.



[1] Vgl. Lepsius, M. Rainer, Parteiensystem und Sozialstruktur, in Ders.: Demokratie in Deutschland. Ausgewählte Aufsätze, Göttingen 1993, S. 25–50.

[2] Auch die Durchschlagskraft konfessionell unspezifischer Massenmedien, die Auflösung konfessionell homogener Regionen, die Beendigung der Minderheitssituation der Katholiken und die Einebnung des Status- und Bildungsgefälles zwischen den vorher „unterlegenen“ Katholiken und den Protestanten trugen zur Schrumpfung bei.

[3] Rohe, Karl, Wahlen und Wählertraditionen in Deutschland. Kulturelle Grundlagen deutscher Parteien und Parteiensysteme im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 1992, S. 18.

[4] Bei den Wahlen vom 10. Januar 1874 kam es auf 27,9 Prozent aller Wähler, ein Niveau, das die Partei nie wieder erreichen sollte. Nach den Berechnungen von Schauff, Johannes, Die deutschen Katholiken und die Zentrumspartei. Eine politisch-statistische Untersuchung der Reichtagswahlen seit 1871, Köln 1928, zit. n. Büsch, Otto, Wählerbewegung in der deutschen Geschichte, Berlin 1978, S. 222.

[5] Man muss auch berücksichtigen, dass das Zentrum nicht in allen Wahlkreisen Kandidaten aufstellte, so dass nicht alle Katholiken Gelegenheit hatten, „ihrer“ Partei ihre Stimme zu geben.

[6] Zit. n. Blankenburg, Erhard, Kirchliche Bindung und Wahlverhalten, Freiburg im Breisgau 1967, S. 145. Allerdings legt Schauff für die Bekenntnistreue einen sehr großzügigen Maßstab an, nämlich die Teilnahme an der Osterkommunion.

[7] Von allen Parteien waren in der Zentrumswählerschaft die Frauen am stärksten überrepräsentiert. Der Index lag 1930 bei 159, für die SPD bei 100, für die NSDAP bei 88 und für die KPD bei 75. Blankenburg, Wahlverhalten, S. 102.

[8] Bei den Wahlen zur verfassungsgebenden Nationalversammlung gewann es 19,7 Prozent.

[9] Vgl. Falter, Jürgen, Hitlers Wähler, München 1991, S. 173.

[10] Vgl. ebd., S. 173ff.

[11] Bei den Juliwahlen 1932 bestand die Wählerschaft der NSDAP nur zu 17 Prozent aus Katholiken. Die 83 Prozent Nichtkatholiken waren fast alle Protestanten. Selbst 1933 war nur ein knappes Viertel der NSDAP-Wähler katholisch. Falter, Hitlers Wähler, S. 178f.

[12] Vgl. die Karten bei Milatz, Alfred, Wähler und Wahlen in der Weimarer Republik, Bonn 1965. Mit Bezug auf Schauff schätzt Ulrich von Hehl, dass selbst 1933 noch etwa zwei Drittel der bekenntnistreuen Katholiken Zentrum oder BVP wählten. Zit. n Falter, Hitlers Wähler, S. 397, Anm. 202.

[13] Ebd., S. 186.

[14] Ebd., S. 177.

[15] Ebd., S. 179.

[16] Vgl. die Tabelle 6 bei Thaidigsmann, S. Isabell, Sozialstruktur und Wählerverhalten (KAS-Arbeitspapiere Nr. 126), St. Augustin 2004, S. 23.

[17] Vgl. die Grafik in: Bayerische Landeszentrale für politische Bildungsarbeit (Hg.), Bilanz der Bundestagswahl 2005, München 2006, S. 54.

[18] Schmitt, Karl, Konfession und Wahlverhalten in der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 1989, bes. S.139ff. Dieser Untersuchung ist der Abschnitt über die Bundesrepublik in vielfacher Weise verpflichtet.

[19] Ihre Wahlergebnisse in den neuen Ländern lagen 2002 und 2005 über 12 Prozentpunkte unter denen in den alten Ländern.


Für das Themenportal verfasst von

Adolf Kimmel

( 2008 )
Zitation
Adolf Kimmel, Konfession und Wahlverhalten in Deutschland, in: Themenportal Europäische Geschichte, 2008, <www.europa.clio-online.de/essay/id/fdae-1690>.
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