Europa – eine weibliche Karikatur? Überlegungen zu den
Bildern der Europafigur in Karikaturen des 20. Jahrhunderts
Einleitung
Europa als Bild: Die Symbolik für Europa ist mittlerweile zweifellos fest in
den europäischen Alltag integriert. Der goldene Sternenkranz auf blauem Grund
begegnet uns nicht nur auf jedem Autokennzeichen oder im Portemonnaie auf jeder
Eurobanknote. Das offizielle Symbol der Europäischen Union ist ein gewohnter
Bestandteil unserer täglichen visuellen Wahrnehmung.
Doch jenseits dieser offiziellen Zeichen existiert eine ältere und komplexere
Bildsprache, mit der über Europa kommuniziert wird. In der Verbildlichung
Europas ist es das Motiv der Frau, das Europa – sei es als Kontinent oder als
politisches Gebilde – am häufigsten personifiziert. Dies liegt zum einen an dem
bekannten Mythos der griechischen Antike, demzufolge eine phönizische
Königstochter, Europa, vom Göttervater Zeus in Stiergestalt entführt und der
Kontinent, auf den er sie bringt, nach ihr benannt wird. Dieser Mythos hat eine
Jahrhunderte alte Motivtradition in der bildenden Kunst und wird auch heute
noch vor allem in der Bildsatire aufgegriffen. Doch es ist nicht nur der
Mythos, in dem Europa als Frau erscheint. Europa wird auch ohne Stier fast
immer als Frau dargestellt. Zahllose Darstellungen unterschiedlicher Genres –
seien es die bildende Kunst, die Karikatur oder Ausdrucksformen
zivilgesellschaftlicher Bewegungen (vgl. etwa den Essay von Belinda Davis in
diesem Themenschwerpunkt) präsentieren Europa als Frau in unterschiedlichen
Rollen. Auch diese Darstellungsvariante – letztlich ebenfalls abgeleitet aus
dem Mythos - hat eine lange Tradition, und ihre Wurzeln finden sich
insbesondere während der Kolonialisierungsphase in Erdteilallegorien und
feminin anthropomorphisierten kartographischen Darstellungen.
Diese Tradition der weiblichen Europadarstellungen ist denkbar stark geprägt
von einer geschlechtsbezogenen Perspektive: Es ist ein männlicher Blick, der
dieses Bild wesentlich formte. Ursprünglich inspiriert von Metaphern der
kolonialen Landnahme, als ‚Entjungferung‘ vormals vermeintlich unberührter
Kontinente durch westliche, männliche Kolonisatoren, ist die weibliche
Darstellungsform Europas bis heute eine Visualisierung, die ohne eine
geschlechtergeschichtliche Interpretation nicht erschöpfend erschlossen werden
kann. Und noch immer verbindet sich mit der weiblichen Darstellung Europas die
Frage, warum ausgerechnet die Frau als Motiv derart verbreitet ist und was dies
in Bezug auf Geschlecht zu bedeuten hat. Diese Frage wird umso virulenter, wenn
man sich vergegenwärtigt, dass der Frauenanteil in der Europabewegung bis in
die jüngste Vergangenheit hinein gering blieb und es überwiegend Männer waren
und noch immer sind, die das politisch-institutionalisierte Europa ‚gebaut‘
haben (vgl. den Essay von Marleen von Bargen in diesem Themenschwerpunkt).
Neben
diesem geschlechtsbezogenen Blickwinkel auf die Europadarstellungen in
Frauengestalt ist für die angemessene Bildinterpretation jeweils eine
historische Kontextualisierung unverzichtbar. Nimmt man das Panorama der
Europadarstellungen allein schon des 20. Jahrhunderts in Augenschein, so wird
rasch deutlich, in welchem Umfang sich die Bildsprachen stilistisch gewandelt
haben. War etwa die Bildsatire in den 1920er Jahren noch bildlich stark
‚ausformuliert‘, waren also die Zeichnungen ähnlich der Akademiemalerei noch
eher naturalistisch angelegt, so ist in den Karikaturen der 1990er Jahre jede
Stilrichtung zu finden bis hin zu comic-haften,
nur angedeutet figürlichen Varianten.
In der folgenden Bildergalerie werden
Beispiele weiblicher Europadarstellungen vorgestellt - jeweils Karikaturen der
deutschen und britischen Bildsatire, die einerseits den Wandel der Bildsprache
für Europa dokumentieren, andererseits einen Eindruck von der Breite des
Spektrums geschlechtsbezogener Visualisierungen vermitteln. In allen
Darstellungen, in denen Europa als Frau präsentiert wird, ist die Tatsache der
Visualisierung ‚als Frau‘ kein Zufall, sondern birgt
visualisierungsstrategische Implikationen, die jeweils individuell zu klären
sind. Dieses Spektrum der verschiedenen Rollen, in denen die weibliche
Europafigur erscheint, ist facettenreich und kann zudem häufig verschiedenen
Phasen der europäischen Integration zugeordnet werden. Jedes der hier
vorgestellten Bilder steht für eine bestimmte Darstellungsvariante und wird
kursorisch erläutert, um ein Problemfeld abzustecken.
Die Präsentation der folgenden Beispiele
weiblicher Europavisualisierung ist als Kostprobe einer neueren Form der
historischen Bildforschung zu verstehen, die sich nicht für realienkundliche Rekonstruktionen
interessiert, sondern einem mentalitätsgeschichtlichen Ansatz folgt und die
Untersuchung von Bildern als historischer Quelle als Teil einer umfassenderen
Diskursanalyse versteht.
"Europa" ...
... von der Grande Dame
zum Bettelweib
Eine
als ungebrochen vornehm und überlegen inszenierte Europadarstellung ist nach
dem Ende des Ersten Weltkrieges nicht mehr möglich. Der Wandel des europäischen
Überlegenheitsgefühls kommt in der hier
präsentierten Karikatur besonders prägnant zum Ausdruck: Galt der Kontinent im
europäischen Selbstverständnis bis 1914 als allen anderen Zivilisationen und
Kulturen überlegen, wich dieses Gefühl der eigenen Stärke einem umfassenden
Krisenbewusstsein bis hin zu Minderwertigkeitsgefühlen, die sich bis zur
Gegenwart nie wieder vollständig
auflösten.
Der Darstellung Europas als elegante und wohlhabende Dame, die sich gegenüber
den USA eine arrogante Haltung leistet, steht das Bild einer bettelnden,
zerlumpten Frau gegenüber, die jeweils beide Seiten des europäischen
Selbstverständnisses repräsentieren. Anhand der Frau scheint diese Dramatik mit
ihrer Fallhöhe besonders drastisch dargestellt werden zu können: Es wird
unterstellt, dass äußere Attraktivität und Vornehmheit mit der sozialen
Stellung einhergehen – eine Degradierung der äußeren Erscheinung korrespondiert
hier mit einer sozialen Demütigung.
...gequält,
Aggressive
Darstellungen wie diese, bei der die Krallen eines schreienden Hahns die Stirn
der Europafigur blutig kratzen, sind charakteristisch für die revanchistisch
ausgerichtete deutsche Bildsatire der 1920er Jahre. Frankreich erscheint dabei
immer wieder als Aggressor, der Europa angreift. Der Krieg ist zwar vorbei,
aber er wird – in Umkehrung der Clausewitzschen
Formel – praktisch mit den Mitteln der Bildsatire weiter fortgesetzt. Der
offenkundige Opferstatus, mit dem Europa hier belegt ist, deutet auf eine
deutsche Perspektive, mehr noch, auf eine Gleichsetzung Europas mit Deutschland
hin: Deutschland hatte den Krieg gegen
Frankreich verloren und sah sich durch die Auflagen des Versailler Vertrags den
als erniedrigend empfundenen Ansprüchen Frankreichs ausgesetzt.
Die visuelle Konzeption spielt in ihrer Betonung der Geschlechterbeziehungen
für die Bildaussage eine zentrale Rolle: Der männliche, französische Hahn
martert und demütigt die weibliche Europagestalt. Mit dieser Konstellation
werden die Empfindlichkeiten der deutschen Nachkriegsgesellschaft berührt: Der
Topos der durch den französischen (Kolonial-) Soldaten geschändeten Frau war
eine verbreitete Schreckensvorstellung, die vor allem während der Zeit der
französischen Besetzung des Rheinlandes weiter fortbestand.