Patientenakten aus dem Ersten Weltkrieg als Quelle historischer Forschung in Südosteuropa[1]
Von Heike Karge
[Überarbeitete Version des Artikels: 2022]
Gab es in und nach dem Ersten Weltkrieg im jugoslawischen Raum Soldaten, die psychisch am Krieg erkrankten? Die wie in West- und Mitteleuropa als Kriegsneurotiker, als Kriegszitterer, als „shell-shocked soldiers“ mit einer vom Krieg schwer gezeichneten Psyche von den Fronten zurückkehrten? Anders als im angloamerikanischen, west- und mitteleuropäischen Raum sind in der südosteuropäischen Historiografie solche psychiatriegeschichtlichen Fragestellungen ausgesprochen rar. Dabei hat gerade die historiografische Beschäftigung mit dem Ersten Weltkrieg gezeigt, wie fruchtbar eine Perspektive ist, die Psychiatriegeschichte als Kulturgeschichte begreift, also nach dem Verhältnis von Psychiatrie und Gesellschaft in Kriegs- und Nachkriegszeiten fragt. In diesen Studien wurden insbesondere die engen Verwebungen von psychiatrischer Wissenschaft und staatlicher Politik aufgezeigt.[2] Auch für den jugoslawischen Raum liegt nun eine erste diesbezügliche Fallstudie vor.[3]
Mit dem vor drei Jahrzehnten durch Roy Porter eingeleiteten patient’s turn gerieten zunehmend auch die Patientenakten in den Blick der kulturwissenschaftlichen Forschung.[4] War der ursprüngliche Ansatz der Arbeit mit Patientenakten, den bis dahin unsichtbaren Patienten eine Stimme zurückzugeben, hat sich dieser Optimismus an die Quellen inzwischen wieder gelegt. Die Aufzeichnungen in den Patientenakten sind in der Regel Aufzeichnungen über den Patienten, gefiltert durch den Blick des Arztes und des Pflegepersonals. Zugleich sind Patientenakten aber auch materialisierter Ausdruck einer verwaltungstechnischen „Buchhaltung des Wahnsinns.“[5] Sie sind historische Produkte einer sich zunehmend bürokratisierenden, sich modern und wissenschaftlich verstehenden Psychiatrie. In diesem Sinne ermöglichen sie einen mikrohistorisch geschärften Blick auf die Praktiken des psychiatrischen Alltags einerseits, und auf die der psychiatrischen Wissensgenerierung andererseits. In welchen Prozessen wurden also jene Kategorien und Diagnosen geschaffen, die unseren Blick auf die Quellen heute lenken? Was wurde notiert, was weggelassen, und mit welchen Folgen für das Wissen um die psychisch erkrankten Soldaten? Und nicht zuletzt ließe sich inspiriert vom archival turn mit Stoler fragen: „what political forces, social cues, and moral virtues produce qualified knowledges that, in turn, disqualified other ways of knowing, other knowledges[?]”[6] Bezogen auf die Kriegsneurotiker lautete eine der forschungsleitenden Fragen also, welche Prozesse z.B. in Deutschland oder in Österreich dazu geführt haben, dass das mit Kriegsbeginn zwar umstrittene, aber dennoch kommunizierte Wissen über psychische Beschädigung im Krieg in Form der traumatischen Neurose nach 1916 von einem anderen Wissen – Stichwort Degeneration und Rentenneurose – disqualifiziert wurde.[7] Und noch einmal übertragen auf den späten kroatisch-slawonischen bzw. nach 1918 jugoslawischen Raum müsste dann gefragt werden, wie aus der psychischen Beschädigung im Krieg zunächst eine Diagnose aus der schizophrenen Gruppe und, ab Ende der 1920er-Jahre, ebenfalls eine Rentenneurose geworden war.
Nicht zuletzt haben jüngere mit Patientenakten aus dem Weltkrieg befasste Studien auf die Kluft zwischen den in Fachzeitschriften aufbereiteten wissenschaftlich-psychiatrischen Diskursen einerseits, und den in den Patientenakten sichtbar werdenden Alltagspraktiken der behandelnden Ärzte in den Feldlazaretten und Militärspitälern andererseits verweisen können.[8] Das verändert unser Bild einer sich ausschließlich am Staat dienstbar machenden Psychiatrie enorm. Denn was auch immer die Ärzte in den Kliniken, Festungsspitälern, Feldlazaretten und Anstalten bewogen hat, die psychisch Erkrankten mit Strom oder mit Brom zu behandeln, ihnen die Rückkehr an die Front oder Erholungsurlaub zu verschreiben – es gab offenbar mehr Motive zu handeln, als nur ein dem Staate gefügiger Mediziner zu sein.
Diese Diskrepanzen zwischen psychiatrischem Fachdiskurs und psychiatrischer Alltagspraxis zeichnen sich in der Tat auch für die Arbeit mit Patientenakten im späteren jugoslawischen Raum ab. Die Aufarbeitung des wissenschaftlich-psychiatrischen Diskurses einerseits, und der über die Patientenakten erschließbaren alltäglichen Praktiken im Umgang mit psychischem Kranksein und Krieg andererseits, müssen also gemeinsam erfolgen. Es ist nicht nur ein Mehr, sondern auch ein qualitativ anderes Wissen, welches wir aus dem Studium der Patientenakten über den Zusammenhang von Krieg und Psychiatrie gewinnen können.
Da bis zum Ersten Weltkrieg kroatische und serbische Ärzte ihre Ausbildung in Graz, Wien, Passau, Leipzig oder Paris genossen hatten, kann von einem gemeinsamen medizinischen Wissensraum ausgegangen werden, an dem neben den deutschsprachigen auch die südslawischen Ärzte teilhatten. Dies trifft umso mehr für die Psychiatrie zu, eine Disziplin, die im jugoslawischen Raum bis zum Ende des Ersten Weltkrieges keine eigene akademisch-universitäre Tradition besaß. Die wenigen serbischen oder kroatischen Ärzte, die sich bis dahin einer psychiatrischen Zusatzausbildung unterzogen hatten, taten dies zumeist in mehrmonatigen Aufenthalten an renommierten österreichisch-ungarischen psychiatrischen Anstalten wie denen in Feldhof oder in Graz.
Während des Krieges und im ersten Nachkriegsjahrzehnt wurden in den großen serbischen und kroatischen medizinischen Fachzeitschriften keine Artikel zu den serbischen und kroatischen Armeeangehörigen, die während des Krieges psychisch erkrankt waren, gedruckt. Erst ab Ende der 1920er-Jahre werden im psychiatrischen Diskurs, das heißt in den Fachzeitschriften, die jugoslawischen Kriegsneurotiker wirklich auftauchen.[9] In den Patientenakten begegnen wir den Kriegsneurotikern indes von Beginn des Krieges an. Sie werden dort allerdings als Schizophrene bezeichnet.
Die Patientenakten von Nikola D. und Franz D. stammen aus dem Jahre 1917, als die königliche Irrenanstalt Stenjevec, in Kroatien-Slawonien gelegen, zur österreichisch-ungarischen Monarchie gehörte. Die Akte von Franjo Š. stammt aus dem Jahr 1925 und damit aus einer Zeit, als Stenjevec Teil des Königreichs der Serben, Kroaten und Slowenen, also des ersten jugoslawischen Staates geworden war.[10] Bereits die Sprache – deutsch für die ersten beiden ärztlichen Gutachten, kroatisch im dritten – könnte einen Bruch suggerieren, welcher durch das Ende des Krieges und den Wechsel in einen anderen staatlichen Verband verursacht gewesen sein mag. Es gibt in der Tat wie oben angedeutet einen Bruch in der jugoslawischen Psychiatrie, als nämlich gegen Ende der 1920er-Jahre aus den psychisch versehrten Soldaten des Ersten Weltkrieges – unabhängig davon, ob sie auf der Seite Österreich-Ungarns oder Serbiens in den Krieg gezogen waren – plötzlich „Rentenkämpfer“ [borci za rente] geworden waren.[11] Dieser Bruch erfolgte damit erst zehn Jahre nach Kriegsende und Staatsgründung. Es wird dann ein legislativer Akt sein, der den jugoslawisch-psychiatrischen Fachdiskurs und infolgedessen auch die psychiatrischen Praktiken veränderte, ein Gesetzesakt, der den Kreis der rentenberechtigten (ehemaligen) Militärangehörigen auf diejenigen reduzieren sollte, die eine im Krieg entstandene körperliche Beschädigung nachweisen konnten. Rein psychische Krankheiten, die zwar im Krieg ihren Ursprung hatten, aber keinerlei körperlich-pathologische Befunde aufwiesen, schieden von nun an als Anspruchsgrundlage für eine Invalidenrente aus.
Die drei ausgewählten Patientenakten sind damit alle einem zeitlichen Kontext zugehörig, in dem in den landesspezifischen Fachzeitschriften über den Kriegsneurotiker zwar nicht gesprochen wurde, der aber dennoch zur psychiatrischen Beobachtung und Behandlung in die kroatisch-slawonische königliche Irrenanstalt Stenjevec (nach 1918 Irrenanstalt Stenjevec) unweit Zagrebs eingeliefert wurde.
In keiner der drei ausgewählten Patientenakten wird eine kriegspsychiatrische Diagnose – z.B. Kriegsneurose, Neurasthenie, Hysterie – erteilt. Die in Stenjevec eingewiesenen Soldaten, die nicht an einem nachweisbar organisch bedingten neurologischen Leiden wie dem Spätstadium der Syphilis oder an Alkoholismus litten, erhielten dagegen überwiegend Diagnosen wie Katatonie – im Falle von Nikola D. –, Hebephrenie – wie bei Franz D. – oder dementia praecox. Während bei der Diagnose Katatonie motorische Störungen im Vordergrund standen, war für die Diagnose Hebephrenie das jugendliche Alter des Erkrankten ausschlaggebend. Dementia praecox schließlich war nichts anderes als das Vorgängerkonzept für die im Entstehen begriffene Diagnose Schizophrenie. Der deutsche Psychiater Eugen Bleuler hatte alle diese Diagnosen kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges in der „schizophrenen Gruppe“ zusammengefasst.[12] Es ist bemerkenswert, wie hoch der Anteil dieser „Schizophrenen“ unter den 1914–1920 eingelieferten (ehemaligen) Militärangehörigen war, welche nicht an einem organisch bedingten neurologischen Leiden litten: Im Jahre 1917 war es knapp die Hälfte der psychisch erkrankten Soldaten in Stenjevec, im Jahre 1920 waren es bereits mehr als 60 Prozent. Auch die diagnostischen Praktiken in den einweisenden Militärspitälern unterschieden sich nicht von denen in Stenjevec – im Jahre 1919 erhielten gar drei Viertel aller in Stenjevec behandelten Soldaten, welche vorher in Militärspitalern waren, von Letzteren eine Diagnose der schizophrenen Gruppe.
Aus diesem Befund ergibt sich zunächst einmal eine deutliche Diskrepanz zur deutschen (militär-)psychiatrischen Praxis während des Krieges. Denn wie Rauh nachwies, wurden deutsche Soldaten nur zu einem sehr geringen Teil mit Schizophrenie diagnostiziert.[13]
In Kroatien-Slawonien gab es zu der betreffenden Zeit keine psychiatrischen Kliniken im modernen Sinne des Wortes und nicht einmal eine Handvoll gut ausgebildeter Psychiater. Daher gehe ich davon aus, dass die in Stenjevec und in den Festungs- und Militärspitälern Mostar, Sarajevo oder Nagyszombat tätigen Ärzte von der Diagnose der Kriegs- oder traumatischen Neurose, um die sich deutsche und österreichische Fachexperten seit 1914 so heftig stritten, nicht notwendigerweise gehört hatten. Weder Josip Medved, der im Mai 1919 im Truppenspital Zagreb das ärztliche Gutachten für Franjo Š. verfasste, noch Alfred Kuhn, welcher selbiges im Januar 1917 im Festungsspital Sarajevo für Nikola D. tat, waren Psychiater, sondern vermutlich Allgemeinärzte.[14]
Zu Franz D. heißt es im ärztlichen Gutachten, dass er an „Angstgefühlen, Sinnestäuschungen und nachfolgenden manisch-depressiven Erregungszuständen“ leide. Nikola D. sei „ängstlich, scheinbar halluzinant“, habe eine „eigentümliche starre Körperhaltung“ und leide unter „Erregungszuständen.“ Franz’ Diagnose wurde zweimal revidiert. Auf dem Aufnahmeblatt sind zunächst „Imbecillitas“, was so viel wie geistige Beschränktheit, aber auch Schwäche heißen konnte, und Manie als Diagnosen notiert. Beides wurde durchgestrichen und sich letztlich für hebephrenische Demenz entschieden.[15] Nikola D.‘s Gutachten ist, was die psychiatrische Qualifikation der behandelnden Ärzte betrifft, besonders aufschlussreich – seine Diagnose Katatonie wird in Klammern mit „Jugendirresein“ erläutert, was aber wiederum eigentlich die Hebephrenie war. Diese Unsicherheit und Ambivalenz der Diagnosestellung angesichts von Symptomen, bei denen einmal starre Körperhaltungen, ein anderes Mal Halluzinationen, ein drittes Mal Erschöpfung im Vordergrund standen, und meistens alles zusammen auftrat, ist nicht nur für die Spitäler und Anstalten in der südöstlichen Hälfte der Donaumonarchie kennzeichnend. Hofer, der sich ausführlich mit Neurasthenie und Nervosität im österreichischen psychiatrischen Diskurs befasst hat, argumentiert in Bezug auf beide Diagnosen, dass sie „Teil eines medizinisch-wissenschaftlichen Erklärungssystems [waren], die diese Erfahrungen benennbar und plausibel machten, sie aber nicht ‚authentisch‘ erfassten oder ‚objektiv‘ repräsentierten.“[16] Kloocke et al. argumentieren für die deutsche Psychiatrie während des Krieges, dass auch hier in den offiziellen Statistiken die Diagnose Kriegsneurose kaum vorkam – stattdessen überwogen Diagnosen wie Psychopathie, Hysterie oder Neurasthenie.[17] Bianchi wiederum argumentiert anhand der italienischen Kriegspsychiatrie, dass Verwirrtheit, Depressionen oder Tremores der Soldaten oft als Amentia (Geistesschwäche), Epilepsie oder Hysterie diagnostiziert wurden.[18] Die Nichtverwendung des Begriffes Kriegsneurose deutet also nicht darauf hin, dass es die vom Krieg psychisch gezeichneten Soldaten nicht gab. Sie deutet auch nicht darauf hin, dass die betroffenen Soldaten tatsächlich geistesschwach, epileptisch oder schizophren waren. Vielmehr kann davon ausgegangen werden, dass die behandelnden Ärzte hier auf einen psychiatrischen Wissensbestand und auf Diagnosen zurückgriffen, die ihnen vertraut waren. Der Horror aber, den der Erste Weltkrieg produzierte, war ihnen nicht vertraut. Er war an der Westfront sicher nicht derselbe wie dort, wo die österreichisch-ungarischen Soldaten überwiegend kämpften: in den julischen Alpen, in Galizien, in Russland oder auf den Balkankriegsschauplätzen. Die Symptome aber, mit denen die Männer von all diesen Schauplätzen zurückkehrten, unterschieden sich kaum – wenn auch die Diagnosen verschiedene waren.
Für die Patienten und ihre Angehörigen war es vermutlich nahezu irrelevant, ob nun Schizophrenie oder Manie attestiert wurde. Viel relevanter dürfte für sie gewesen sein, dass die überwiegende Verwendung einer Diagnose aus der schizophrenen Gruppe, obwohl es sich hier nicht um eine kriegspsychiatrische Diagnose handelte, bereits während des Krieges und hin bis zum Jahre 1929 einen militärischen Versorgungsanspruch einschloss. Und das ist nun wirklich erstaunlich, denn die ganze Debatte, die kurz nach Kriegsbeginn in Deutschland und Österreich-Ungarn entbrannte, war ja vor allem durch die Befürchtung verursacht, den Unterhalt Hunderttausender Kriegsneurotiker langfristig aus militärischen Haushaltsmitteln begleichen zu müssen. Aufgrund dessen war in der Donaumonarchie bereits im Sommer 1916 eine „institutionalisierte Behandlung der Kriegsneurosen eingeleitet worden, die primär auf militärische Interessen hin ausgerichtet war.“[19] Renten- und andere Versorgungsansprüche sollten durch spezifische Maßnahmen in der Diagnosestellung und Behandlung der erkrankten Soldaten niedrig gehalten werden.
In zwei der drei Patientenakten – und in der überwiegenden Zahl der von mir darüber hinaus untersuchten Akten – gibt es indes den Satz „Das Leiden entstand während der aktiven militärischen Dienstleistung.“ Nikola D. und Franjo Š., die beide in Stenjevec verstarben, erwarben sich bzw. ihren Angehörigen durch genau diese Formulierung einen Versorgungsanspruch. Interessant ist, dass wir über die Zeit der „aktiven militärischen Dienstleistung“, also über den Krieg, fast nichts erfahren. Nikola z.B. wird beschrieben als ein 1888 geborener Landsturminfanterist und Bauer aus Koljani bei Sinj, der am 30. Juni 1917 an Tuberkulose starb. Die wenigen Aufzeichnungen des kroatischsprachigen Pflegepersonals datieren von Februar bis Juni 1917, auch hier ist nur weniges zum Krieg verzeichnet, einiges kann man hinzu erahnen: „3.2. spricht nicht, reagiert auf gar nichts; 5.2. liegt stocksteif im Bett; 8.2. spricht unablässig mit sich selbst; 9.2. weint den ganzen Nachmittag, spricht kein Wort; 3.3. heute Nacht schlief er nicht, sprach über den Krieg; 30.6. starb am Abend.“
Franjo, geboren 1875 in Fiume, wurde im Sommer 1918 zunächst in das Lazarett Nagyszombat, wo es eine psychiatrische Beobachtungsabteilung gab, und von dort 1919 in das Truppenspital in Zagreb verbracht, bevor er schließlich 1920 nach Stenjevec überwiesen wurde. Über ihn erfahren wir, dass er im Jahre 1914 als Reserveoffizier zunächst auf den serbischen, dann auf den russischen Kriegsschauplatz entsendet wurde. Im März 1915 fiel er in russische Kriegsgefangenschaft, erkrankte dort und kehrte erst im Sommer 1918 zurück. Franz D. aus Brünn wurde im November 1916 nach Stenjevec eingewiesen, war zunächst in Bosnien stationiert, später in Mitrovica und kam im Frühjahr 1916 schließlich nach Albanien. Bereits 1914, in Bosnien, sei er an einem „Herzleiden“ mit Atembeklemmungen erkrankt.
Von Franjo und Franz erfahren wir so immerhin die Stationen ihres Weges im Krieg, aber nicht, was sie dort erlebten. Für die Diagnoseerstellung schienen solche Details keinerlei Informationswert zu besitzen. Der Krieg kommt nur am Rande vor, als ein Raum, der in geografischen Variationen durchschritten wird. Nun ließe sich dieser Befund, gemeinsam mit der kriegsunspezifischen Diagnose „Schizophrenie“ so lesen, dass das Erleben im Krieg als unwichtig für die Diagnoseerstellung betrachtet wurde. Aber die Standardformulierung „Das Leiden entstand während der aktiven Dienstzeit“ eröffnet auch eine andere Interpretation: dass nämlich die Schrecken und Strapazen des Krieges, durch die die Patienten gegangen waren, von den Ärzten nicht zwangsläufig notiert werden mussten, weil zumindest ihnen, die in den Militärspitälern und in Stenjevec arbeiteten, ohnehin klar war, dass es der Krieg war, der die Patienten krank gemacht hatte.[20] Solch eine ärztliche Position wäre zwar den offiziellen Richtlinien, die in Österreich-Ungarn und in Deutschland galten, absolut entgegengesetzt gewesen, wurde aber auch anderswo, z.B. im ostpreußischen Königsberg, beobachtet.[21] Besonders deutlich wird diese Haltung – dass der Krieg verursachend für die Krankheit interpretiert wurde – im Falle von Franjo Š., der an einer neurologischen Krankheit, der progressiven Paralyse, infolge einer vor dem Krieg nicht behandelten Syphiliserkrankung litt und später auch verstarb. Auch wenn der Krieg hier ganz klar kein Verursacher für die Krankheit war, wird im ärztlichen Gutachten dennoch insistiert, dass es nicht ausgeschlossen werden kann, „dass die großen seelischen und körperlichen Strapazen während des Kriegsdienstes ihre Entwicklung gefördert haben.“ Das Gutachten wurde im Jahre 1925 post-mortem, auf Gesuch der Witwe von Franjo Š. erstellt. Mit diesem Gutachten, das zudem von dem älteren Gutachten des Truppenspitals in Zagreb gestützt wurde,[22] hatte Franjos Witwe sehr gute Aussichten auf eine militärische Hinterbliebenenrente.
Auch in einem weiteren Punkt schienen sich die Ärzte in Stenjevec von der staatsnahen akademischen Psychiatrie in Wien oder Budapest zu unterscheiden. Denn sie sorgten in einer Vielzahl von Fällen dafür, dass die genesenen Patienten nicht zu schnell wieder zurück an die Front geschickt wurden. Symptomatisch ist hier der Fall von Franz D., dessen Krankheitserscheinungen, laut Gutachten, zwar seit Jahresbeginn 1917 vergangen waren, der jedoch „noch einer mehrmonatigen Erholung [bedürfe]“ und noch nicht wieder dienstfähig sei. Franz wurde also, trotzdem sein „Anfall von Geisteskrankheit“ vorüber war, nicht sofort wieder zu seiner Truppe zurückgeschickt. Hofer und Lerner haben für Österreich-Ungarn und Deutschland dokumentiert, dass hier wie dort nach 1916 alle militärpsychiatrischen Maßnahmen darauf ausgerichtet waren, den Soldaten so schnell wie möglich wieder an die Front zurückzuführen. Das ist zweifelsohne richtig, aber in der Praxis gab es da offensichtlich Spielraum. In der orthopädischen Klinik in Zagreb, in der während des Krieges auch Patienten mit psychomotorischer Versehrtheit behandelt wurden, praktizierte man offenbar eine Mischform: Hier wurden Elektroschocks, Dauerbäder und all die anderen militärpsychiatrischen Zwangsbehandlungen verabreicht, mit denen die Männer wieder fit gemacht werden sollten. Allerdings wurden sie nach ihrer Behandlung zumeist nicht zurück in den Krieg, sondern nach Hause geschickt. Vladimir Čepuli, Orthopäde an der genannten Klinik, der von 1915 bis 1917 etwa 100 Patienten mit psychomotorischen Störungen behandelte, rechtfertigte diese Praxis mit einem aus zeitgenössischer Sicht sicherlich klugen Gedanken: die Rückfallquote derer, die an die Front zurückgeschickt wurden, sei schlichtweg zu hoch. Die Wiedererkrankten aber könnten dann – anders als die nach Hause geschickten Geheilten – einen militärischen Versorgungsanspruch einfordern.[23] Die Motive, die Soldaten nicht wieder an die Front zu schicken, waren also weniger philanthropischer Natur und nicht ausschließlich vom jeweiligen militärischen Rang des Patienten abhängig, sondern entsprangen durchaus auch einem restriktiven sozialpolitischen Denken.
Nach der Gesetzesrevision von 1929, die in ähnlicher Form in Deutschland bereits 1926 stattgefunden hatte, beginnen die Patienten, denen bis dahin ein wenn auch minimaler Versorgungsanspruch aus dem Krieg zugestanden hatte, um diesen Anspruch zu kämpfen.
Sie bzw. ihre Angehörigen korrespondierten nun mit Invalidengerichten. Diese wiederum erbaten ärztliche Gutachten aus Stenjevec, um die Anspruchsforderungen zu prüfen – und zumeist zurückzuweisen, denn laut Gesetz reichte es nun eben nicht mehr aus, in der aktiven Dienstzeit erkrankt zu sein. Jetzt wurde der Nachweis einer körperlichen Beschädigung verlangt, was die Diagnosen Hebephrenie oder Katatonie, kurzum, die schizophrene Gruppe, meist aber nicht hergaben. Aus den bis dahin stillschweigend als Schizophrene geduldeten Kriegsneurotikern wurden nun Simulanten, Rentenneurotiker und Psychopathen ohne Versorgungsanspruch. Als solche begegnen sie uns aber nicht mehr in den Patientenakten, sondern von nun an in den medizinischen Fachzeitschriften.
Das Besondere am jugoslawischen Fall besteht nicht in der letztlichen Kappung des Versorgungsanspruches für die psychisch erkrankten Soldaten. Hier folgte Jugoslawien nur einer Vielzahl von europäischen Ländern, die bereits „mit gutem Beispiel“ vorangegangen waren. Psychische Beschädigung durch Krieg muss daher, von Beginn des 20. Jahrhunderts an, als europäisches bzw. globales Phänomen analysiert werden. Erst dann gerät auch das Spezielle in den Blick, was den um 1918 werdenden jugoslawischen Raum von seinen östlichen oder westlichen europäischen Nachbarn möglicherweise unterschied.
Wie aufgezeigt wurde, haben psychiatrische Diskurse und Praktiken aus dem österreichisch-ungarischen und auch aus dem deutschen Raum das Handeln in der ‚Irrenanstalt Stenjevec‘ einerseits maßgeblich geprägt. Andererseits lassen sich auch markante Unterschiede feststellen. Warum also nahm die Schizophrenie in der diagnostischen Praxis der südöstlichen Habsburgermonarchie während des Krieges – und im Übrigen in Jugoslawien in Bezug auf Soldaten bis über den Zweiten Weltkrieg hinaus – einen so prominenten Platz ein, während sie z.B. als soldatische Diagnose in Deutschland eine nur marginale Rolle spielte? Und wie lassen sich das Schweigen und die Ignoranz der jugoslawischen medizinischen Fachpresse im ersten Nachkriegsjahrzehnt gegenüber den nur als schizophren geduldeten Kriegsneurotikern erklären, zu einer Zeit, als in Deutschland und in Österreich heftige Debatten über diese stattfanden? Angesichts des mageren Forschungsstandes bezüglich dieser Fragen für den südosteuropäischen und jugoslawischen Raum kann hier noch keine Antwort skizziert werden. Immerhin sind die Fragen überhaupt erst einmal, durch die Analyse des psychiatrischen Diskurses und der Patientenakten, sichtbar geworden.
[1] Essay zur Quelle: Patientenakten aus der jugoslawischen Psychiatrie (1917–1925).
[2] Als Überblick vgl. Lerner, Paul; Micale, Mark S. (Hgg.), Traumatic Pasts: History, Psychiatry and Trauma in the Modern Age, 1870–1930, Cambridge 2001 und Hofer, Hans-Georg; Prüll, Cay-Rüdiger; Eckart, Wolfgang Uwe (Hgg.), War, Trauma and Medicine in Germany and Central Europe (1914–1939), Freiburg im Breisgau 2011. Zu Russland vgl. Sirotkina, Irina, The Politics of Etiology: Shell Shock in the Russian Army, 1914–1918, in: Brintlinger, Angela; Vinitsky, Ilya (Hgg.), Madness and the Mad in Russian Culture, Toronto 2007, S. 117–129 und Phillips, Laura L., Gendered Dis/ability. Perspectives from the Treatment of Psychiatric Casualties in Russia's Early Twentieth-Century Wars, in: Social History of Medicine 20 (2007), H. 2, S. 333–350.
[3] Vgl. Karge, Heike, Making Sense of War Neurosis in Yugoslavia, in: Leese, Peter; Crouthamel, Jason (Hgg.), Psychological Trauma and the Legacies of the Great War, Basingstoke 2016 (im Erscheinen).
[4] Zum sogenannten patient’s turn vgl. Bacopoulos-Viau, Alexandra; Fauvel, Aude, The Patient's Turn, Roy Porter and Psychiatry's Tales, Thirty Years on, in: Medical History 60 (2016), H. 1, S. 1–18.
[5] Borck, Cornelius; Schäfer, Armin, Das psychiatrische Aufschreibesystem, in: Borck, Cornelius; Schäfer, Armin (Hgg.), Das psychiatrische Aufschreibesystem, Paderborn 2015, S. 7–25, hier S. 17.
[6] Vgl. Stoler, Ann Laura, Colonial Archives and the Arts of Governance, in: Archival Science 2 (2002), S. 87–202, hier S. 95.
[7] Zu Deutschland Köhne, Julia Barbara, Kriegshysteriker, Husum 2009; zu Österreich Hofer, Hans-Georg, Nervenschwäche und Krieg. Modernitätskritik und Krisenbewältigung in der österreichischen Psychiatrie (1880–1920), Wien 2004.
[8] Zu Deutschland z.B. Prüll, Livia; Rauh, Philipp, Other Fronts, Other Diseases? Comparisons of Front-specific Practices in Medical Treatment, in: Bürgschwentner, Joachim; Egger, Matthias; Barth-Scalmani, Gunda (Hgg.), Other Fronts, Other Wars? First World War Studies on the Eve of the Centennial, Leiden 2014, S. 280–302.
[9] Vgl. Karge, Making Sense.
[10] Vgl. die zu diesem Essay mit veröffentlichten Quellen Patientenakten aus der jugoslawischen Psychiatrie (1917–1925), Arhiv Klinike za psihijatriju Vrapče (Archiv der psychiatrischen Klinik Vrapče, Kroatien) AKPV M 1917, A–L, 10180 (Quelle I), AKPV M 1917, A–L, 10082 (Quelle 2), AKPV M 1920, N–Z, 11191 (Quelle 3). Im Folgenden stammen alle Quellenzitate, soweit nicht anders vermerkt, aus den hier mit veröffentlichten Quellenausschnitten.
[11] Milanović, Aleksandar N., O simulacijama i autolezijama u vojci, in: Vojno-Sanitetski Glasnik 9 (1938), H. 2, S. 299–317, hier S. 300. Vgl. im Folgenden Karge, Making Sense.
[12] Vgl. Berrios German E. et al., Schizophrenia: A Conceptual History, in: International Journal of Psychology and Psychological Therapy 3 (2003), H. 2, S. 111–140.
[13] Vgl. Rauh, Philipp, Die militärpsychiatrischen Therapiemethoden im Ersten Weltkrieg – Diskurs und Praxis, in: Schmuhl, Hans-Walter; Roelcke, Volker (Hgg.), „Heroische Therapien“. Die deutsche Psychiatrie im internationalen Vergleich 1918–1945, Göttingen 2013, S. 29–47, hier S. 40.
[14] Zu Medved vgl. Vučak, Ivica, Josip Berlot (1895.–1975.). Od imunologije do ekologije, in: Acta medico-historica Adriatica 6 (2008), H. 2, S. 215–234, hier S. 224.
[15] AKPV M 1917, A-L, 10082, Aufnahmeblatt.
[16] Vgl. Hofer, Nervenschwäche, S. 28.
[17] Kloocke, Ruth; Priebe, Stefan; Schmiedebach, Heinz-Peter, Psychological Injury in the Two World Wars. Changing Concepts and Terms in German Psychiatry, in: History of Psychiatry 16 (2005), H. 1, S. 43–60, hier S. 46.
[18] Bianchi, Bruna, Psychiatrists, Soldiers, and Officers in Italy during the Great War, in: Lerner, Micale, Traumatic Pasts, S. 222–252, hier S. 228.
[19] Hofer, Nervenschwäche, S. 248.
[20] Ähnlich argumentiert auch Rauh in Bezug auf die deutschen Patientenakten des Ersten Weltkrieges, und konstatiert statt eines von patriotischer Ideologie durchdrungenem ein eher „pragmatisches Arzt-Patient-Verhältnis“, da den meisten Frontärzten klar war, „dass die seelische Dekompensation des Soldaten einzig und allein mit seinem Kriegserleben zu tun haben konnte.“ Vgl. Rauh, Militärpsychiatrische Therapiemethoden, S. 44.
[21] Meyer berichtet aus Königsberg, dass viele Ärzte die offiziellen Richtlinien unterliefen, indem sie den Soldaten die Diagnose dementia praecox erteilten und zugleich konstatierten, dass die Krankheit durch den Kriegsdienst verursacht worden sei. Vgl. Meyer, Ernst, Kriegsdienstbeschädigung bei Psychosen und Neurosen, in: European Archives of Psychiatry and Clinical Neuroscience 58 (1917), H. 1, S. 616–634, hier S. 621.
[22] Im Mai 1919 hieß es: „Der Betreffende erkrankte während des Kriegsdienstes und hat Anspruch auf Militärversorgung.“
[23] Čepulić, Vladimir, O histeričkim pomerećajima motiliteta kod ratnika, in: Liječnički Vijesnik 41 (1919), H. 10, S. 499–528, hier S. 522.
Literaturhinweise
Hofer, Hans-Georg; Prüll, Cay-Rüdiger; Eckart, Wolfgang Uwe (Hgg.), War, Trauma and Medicine in Germany and Central Europe (1914–1939), Freiburg im Breisgau 2011.
Karge, Heike, Making Sense of War Neurosis in Yugoslavia, in: Leese, Peter; Crouthamel, Jason (Hgg.), Psychological Trauma and the Legacies of the Great War, Basingstoke 2016 (im Erscheinen).
Lerner, Paul; Micale, Mark S. (Hgg.), Traumatic Pasts: History, Psychiatry and Trauma in the Modern Age, 1870–1930, Cambridge 2001.
Prüll, Livia; Rauh, Philipp, Other Fronts, Other Diseases? Comparisons of Front-specific Practices in Medical Treatment, in: Bürgschwentner, Joachim; Egger, Matthias; Barth-Scalmani, Gunda (Hgg.), Other Fronts, Other Wars? First World War Studies on the Eve of the Centennial, Leiden 2014, S. 280–302.
Sirotkina, Irina, The Politics of Etiology: Shell Shock in the Russian Army, 1914–1918, in: Brintlinger, Angela; Vinitsky, Ilya (Hgg.), Madness and the Mad in Russian Culture, Toronto 2007, S. 117–129.