Zur Einführung der Mitteleuropäischen Zeit im deutschen Kaiserreich 1893. Temporale Transformationsprozesse in verflechtungsgeschichtlicher Perspektive[1]
Von Caroline Rothauge
Die Kritik an der Zeitumstellung ist mittlerweile wieder verbreitet, wie eine von der Europäischen Kommission im Juli und August 2018 durchgeführte öffentliche Konsultation ergab.[2] So intensiv teilweise über Vorzüge von Sommer- oder Winterzeit debattiert wird, so selten wird grundsätzlich reflektiert, an welcher historisch gewordenen amtlichen Zeit wir uns überhaupt orientieren. In Deutschland ist dies die Mitteleuropäische Zeit (MEZ), und zwar seit dem 1. April 1893 – dem Tag, an dem das Gesetz, betreffend die Einführung einer einheitlichen Zeitbestimmung[3] in Kraft trat. Hier wurde definiert: „Die gesetzliche Zeit in Deutschland ist die mittlere Sonnenzeit des fünfzehnten Längengrades östlich von Greenwich.“[4] Wie genau aber kam es dazu, dass deutsche Politiker überhaupt eine Notwendigkeit darin sahen, ein bestimmtes Zeitmaß zu kodifizieren?
Noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts „[stellte] [j]eder Ort oder zumindest jede Region […] die Uhren nach der jeweiligen Einschätzung des Sonnenhöchststandes“[5]; ein darüberhinausgehender temporaler Koordinationsbedarf war kaum gegeben. Das änderte sich grundsätzlich mit dem Aufkommen und dem Aufschwung der Telegrafie und der Eisenbahn, wie auch aufgrund des zunehmend weltweiten Schiffsverkehrs. Hierdurch wurden Fragen des Umgangs mit den unterschiedlichen lokalen bzw. regionalen Zeiten zu Themen von globaler Relevanz. Vertreter des Verkehrs und des Handels, aber auch Astronomen, Meteorologen und Geografen tauschten sich im ausgehenden 19. Jahrhundert verstärkt darüber aus und trafen sich wiederholt, um Vorschläge für die Vereinheitlichung der vielen verschiedenen Zeitangaben zu diskutieren. Für Ideen einer weltweit gültigen Zeitordnung war es zentral, zunächst einen Standard, also einean Längengrad Null zu definieren, von denen zu diesem Zeitpunkt einige in Gebrauch waren. Damit beschäftigten sich unter anderem die Teilnehmer der 7. Generalkonferenz der internationalen Gradmessungs-Kommission, die am 15. Oktober 1883 in Rom stattfand. Sie einigten sich auf Greenwich als den Anfangsmeridian für eine „von den Lichtverhältnissen auf der Erde unabhängige“[6] Universal- bzw. Weltzeit. Letztgenannte, so die Konferenzteilnehmer in ihrem Beschluss, sei nützlich, „[f]ür gewisse wissenschaftliche Zwecke und für den inneren [Herv. i. Orig.] Dienst der großen Verwaltungen der Verkehrsanstalten, wie der Eisenbahnen, der Dampferlinien, der Telegraphen und Posten“[7]. Daneben sollten aber „natürlich die einzelnen […] Ortszeiten im bürgerlichen Leben auch ferner Anwendung finden“[8].
Im Gegensatz dazu diskutierten die Teilnehmer der International Meridian Conference – die am 1. Oktober 1884 in Washington, D.C., eröffnet wurde und auf der insgesamt 25 Staaten, darunter Deutschland, vertreten waren – über Greenwich als dem „Ausgangspunkt für das Gradnetz“[9] einer global gültigen Stundenzonenzeit. Letztere basiert auf einer Unterteilung des Erdballs in 24 Zeitzonen von je 15 Grad Länge, wobei sich die einzelnen Zonen von den benachbarten um genau eine Stunde unterscheiden, „während die Minuten und Sekunden in demselben Augenblick auf der ganzen Erde dieselben sind“[10]. In den Vereinigten Staaten von Amerika und Kanada gelangte dieses System bereits 1883 zur Anwendung – und zwar nicht nur in dem inneren Dienst des Bahnverkehrs, sondern auch in ihrem äußeren Dienst, also im Kontakt und in der Kommunikation mit der Öffentlichkeit. Einzelne Gemeinden Nordamerikas hätten sich dieser Zeitrechnung in der Folge freiwillig angeschlossen, wie in Deutschland berichtet wurde.
Vor diesen Überlegungen zu Welt- bzw. Stundenzonenzeit hatte die zunehmende Ausbreitung von Eisenbahnen sowie von Telegraphennetzen in Deutschland seit Mitte des 19. Jahrhunderts zu einer Vereinheitlichung der Zeitangaben für geografisch größere Gebiete geführt, die sich in der Regel an der Ortszeit der Landeshauptstadt orientierten. In den süddeutschen Staaten passten die Eisenbahnen nicht nur ihren internen Betrieb diesen „mittleren“[11] Mittagen bzw. regionalen „Normalzeit[en]“[12] an. Sie galten in Baden und Württemberg sowie in Bayern östlich wie westlich des Rheins auch für die Angaben, die der Öffentlichkeit zugänglich waren, also für den äußeren Dienst der entsprechenden Bahnen. Nicht so auf den norddeutschen Eisenbahnen einschließlich Elsaß-Lothringen. Hier wurden die Zeitangaben für den inneren Dienst der Eisenbahnen zwar gemäß „Berliner Zeit“ erstellt. Der äußere Dienst aber richtete sich nach den Zeiten der Orte, an denen die Züge hielten. In den veröffentlichten Aushangfahrplänen erfolgte somit die Angabe der jeweiligen Lokalzeiten, die auch für die Bahnsteiguhren maßgeblich waren.
Erst im Kontext der weltweit zunehmenden Diskussionen über die Voraussetzungen und Notwendigkeit temporaler Unifikation häufte sich die Kritik an einem in Deutschland bestehenden „Dualismus“[13] der Zeit bzw. einem hier vorherrschenden „Zeitanarchismus“[14]. Neben der großen Unsicherheit und den vielen Irrtümern, die die verschiedenen Zeitangaben und -anzeigen bei Reisenden bedingen würden, verwiesen zunächst Eisenbahnbeamte und dann Politiker zunehmend auf die hohen Kosten, die sämtliche Umrechnungsvorgänge nach sich zögen, während potentielle Rechenfehler nicht nur Störungen verursachten, sondern auch das Unfallrisiko und somit Gefahren „für Leben und Gesundheit“[15] erhöhten. Dieses Argument einer größeren Betriebssicherheit im Eisenbahndienst aufgrund von Einheitszeiten sahen ihre Gegner als nicht erwiesen an. Sie priesen vielmehr die Genauigkeit der Ortszeiten, die besonders Astronomen wie Wilhelm Foerster, Direktor der Königlichen Sternwarte zu Berlin, nicht missen wollten.[16] Erst die Unterschiede zwischen Orts- und Normalzeiten hätten die „Unbequemlichkeiten“[17] für das Publikum doch überhaupt erst hervorgebracht.
Entscheidend für weitere Maßnahmen temporaler Unifikation im deutschen Eisenbahnverkehr war letztlich ein Antrag, den die Direktion der Königlich Ungarischen Staatseisenbahnen am 6. November 1889 bei dem Verein Deutscher Eisenbahn-Verwaltungen stellte. Nachdem sowohl im inneren wie im äußeren Dienst der österreichisch-ungarischen Bahnen die Orientierung an Wiener, Prager oder Pester Zeit üblich gewesen war, sollte hier demnächst „die Zeit des 15. Längengrades östlich von Greenwich [Herv. i. Orig.] gelten“[18]. Um die Sicherheit, aber auch einen möglichst reibungslosen Ablauf des Schienenverkehrs im gesamten Vereinsgebiet zu gewährleisten, möge, so der Antrag, auch auf sämtlichen deutschen Bahnen „das Stundenzonensystem in der Weise eingeführt werden“[19].
Auf Initiative einflussreicher deutscher Eisenbahnbeamter war für diese Zeitzone seit 1890 der Begriff „Mitteleuropäische Zeit“[20] eingeführt worden. Diese gelangte letztlich zum 1. Oktober 1891 – später als gedacht – im inneren wie äußeren Dienst der österreichischen und ungarischen Eisenbahnen zur Anwendung.[21] Im März 1892 hatten zudem die Bahnen in Serbien MEZ eingeführt, auch das Saloniker Netz der orientalischen Eisenbahnen orientierte sich daran. Auf den bulgarischen und rumänischen Staatsbahnen sowie auf dem Konstantinopeler Netz der orientalischen Eisenbahnen wiederum galt bereits Osteuropäische Zeit (OEZ), sowohl im inneren wie im äußeren Dienst.[22] Westeuropäische Zeit (WEZ) hingegen sollte ab dem 1. Mai 1891 auf den belgischen und holländischen Eisenbahnen gelten.[23] Während die belgische Regierung dies zum Anlass nahm, die WEZ ein Jahr später per Gesetz auch zum landesweit geltenden offiziellen Zeitmaß zu machen, scheiterte in den Niederlanden das Vorhaben, Greenwicher Zeit auch für den Publikumsverkehr einzuführen. Hier standen Argumente wie das unerwünschte Einbüßen von Tageslicht sowie das des Geschäftsverkehrs mit dem Nachbarn Deutschland im Mittelpunkt der zum Teil hitzigen Diskussionen und vehementen Widerstände in der Öffentlichkeit. Ob nun aber diejenigen sich durchsetzen würden, die „Amsterdamer Zeit“ beibehalten wollten, oder aber diejenigen, die „für die Einverleibung Niederlands in die mitteleuropäische Zone“[24] plädierten – dies war im Mai 1892 noch unklar.[25] Gründe, die zeitgenössisch primär dem Nationalstolz zugeschrieben wurden, sorgten in Frankreich dafür, die amtliche Zeit nach dem Meridian des Pariser Observatoriums und eben nicht nach dem von Greenwich auszurichten. Es galt „Pariser Zeit“, und zwar ab Mitte März 1891 per Gesetz für das gesamte Staatsgebiet.[26] Obwohl dieses Zeitmaß um etwa neuneinhalb Minuten von der WEZ differierte, stellte diese „Nationalzeit[…]“[27] für die Verfechter der Einführung einer offiziellen Einheitszeit in Deutschland ebenfalls ein Vorbild dar.
Die deutschen Bahnen im Verein Deutscher Eisenbahn-Verwaltungen jedenfalls reagierten auf den ungarischen Antrag, indem sie sich nach vielen Diskussionen im Sommer 1890 in Dresden darauf einigten, die MEZ mit Beginn des Sommerfahrplanes am 1. Juni 1891 einzuführen – allerdings lediglich in ihrem inneren Dienst. Diesem Beschluss verweigerten sich jedoch einzelne Mitglieder, darunter sämtliche Bahnen in Süddeutschland. Hier sollte MEZ „vom 1. April 1892 an im inneren und [Herv. i. Orig.] äußeren Dienste […] zur Einführung gelangen“[28].
Dieses maßgebliche Ausscheren aus dem eigentlich bindenden Vereinsbeschluss sorgte zumindest kurzzeitig für ein noch beträchtlich größeres Zeitchaos im Kaiserreich als zuvor. Immerhin wichen beispielsweise die Karlsruher Zeit, die bis Anfang April 1892 weiterhin auf den badischen Staatseisenbahnen zur Anwendung gelangte, sowie die Ludwigshafener Zeit, die für den inneren wie äußeren Dienst der Pfalzbahn maßgeblich war, um 26 Minuten von der MEZ ab. Und auch danach herrschte beträchtliche temporale „Konfusion“[29]: Während im Eisenbahndienst der süddeutschen Staaten umfassend MEZ galt, so richtete sich in Norddeutschland – mit Ausnahme der Reichsbahnen in Elsaß-Lothringen und der Wilhelm-Luxemburg-Eisenbahn, die sich der süddeutschen Initiative angeschlossen hatten – der äußere Dienst im Eisenbahnverkehr sowie das gesamte öffentliche Leben weiterhin nach den jeweils gültigen Ortszeiten. So gesehen verstärkte das Vorgehen der süddeutschen Bahnen die Argumente der Befürworter temporaler Vereinheitlichung. Noch im Frühjahr 1892 erließen die entsprechenden Regierungen die Anordnung, dass auch auf den norddeutschen Bahnen „vom 1. April 1893 ab […] im äußeren Dienste die mitteleuropäische Zeit zur Anwendung kommen soll“[30]. Dies stellte – auf dem Papier – den Endpunkt der Einführung der MEZ für den inneren wie äußeren Dienst sämtlicher Eisenbahnen in Deutschland dar. Die Frage, ob eine und, wenn ja, welche Zeit im gesamten öffentlichen Leben Deutschlands gelten sollte, hing damit zwar eng zusammen, war aber weiterhin nicht beantwortet.
Noch Anfang Dezember 1889 musste ein Abgeordneter seinen Wortbeitrag im Reichstag zur „Frage einer einheitlichen Zeitrechnung in unserem gesammten Verkehrsleben“[31] geradezu rechtfertigen. Befürworter einer umfassenden Einführung der Stundenzonenzeit in Deutschland verwiesen immer wieder auf die Länder, in denen sich diese bewährt und vermeintlich problemlos vollzogen habe. Eine besondere Rolle kam dabei der Verweis auf die Vereinigten Staaten von Amerika zu, die – geografisch betrachtet – eine breite Fläche umfassten. Das Argument nämlich, die Einführung einer einheitlichen Zeit im öffentlichen Leben des gesamten Reichsgebiets sei aufgrund dessen vergleichsweise großer Ost-West-Ausdehnung schwierig, da dies „bedeutende Verschiebungen der jetzt üblichen Tageseintheilung verursachen“[32] würde, war ein ebenso beliebtes wie hartnäckiges. Kritiker „künstliche[r]“[33] Zeitordnungen stellten die Bedeutsamkeit „natürliche[r] Zeit[en]“[34] für die Organisation des (Arbeits-)Alltags immer wieder vor allem mit Blick auf die Landbevölkerung heraus. Etwas allgemeiner gesprochen könne es doch nicht sein, so der freikonservative Abgeordnete und erfolgreiche Industrielle Freiherr von Stumm im Reichstag im März 1891, dass sich eine Mehrheit – die „seßhafte[…]“[35] Bevölkerung in Deutschland – den Wünschen einer Minderheit, nämlich den Reisenden bzw. den Interessen der Eisenbahnverwaltungen, beugen müsse. Diesen Bedenken stand das Argument der Mobilmachung gegenüber, für die eine im gesamten Reich geltende Einheitszeit Zeitersparnis bedeuten würde.[36]
Abgesehen davon wurde auch die Frage, ob eine deutsche Einheitszeit überhaupt gesetzlich festgelegt und dekretiert werden dürfe und solle, auf nationalstaatlicher Ebene viel diskutiert. Dagegen wurde zum einen die generelle Auffassung geäußert, dass „die Ordnung der Zeit an und für sich, generell, der Reichsgesetzgebung nicht [untersteht]“[37]. Kritiker wie Befürworter einer national gültigen Einheitszeit bezeichneten deren gesetzliche Festschreibung als „Maßregel“[38]. Zum anderen wurde gegen ein Gesetz das Argument angeführt, wie sich „seiner Zeit […] der Uebergang von der wahren Sonnenzeit zu der mittleren Zeit vollzogen habe“[39] – nämlich ohne gesetzliche Regelung infolge einer schrittweisen Gewöhnung der Bevölkerung an „die Bedürfnisse des Verkehrs“[40]. Genau dieses Verfahren aber sorgte umgekehrt für Bedenken im Bundesrat, der für Rechtssicherheit plädierte und dabei im Übrigen auf bereits bestehende Gesetze in den Ländern Schweden (1878), Großbritannien (1880) und Frankreich (1891) rekurrierte.
Bis zur Abstimmung über das Gesetz im Reichstag am 22. Februar 1893 beschäftigte einzelne Abgeordnete und dann eine Kommission schließlich die Frage, inwiefern sich die reichsweite Kodifizierung einer Einheitszeit auf die Gestaltung von Arbeitszeiten in Fabriken auswirken würde. Gerade anhand dieser Diskussionen lässt sich aufzeigen, wie schwer sich einige Zeitgenossen mit dem Denken in abstrakten Zeitordnungen taten. Die Differenz zwischen „wirkliche[r]“[41] Ortszeit einerseits und MEZ andererseits führe zu einem Konflikt mit den Bestimmungen der Gewerbeordnung, so die Kritiker. Mit Blick auf „de[n] Beginn der Tageshelle“[42] müssten diese Bestimmungen daher für jeden Ort anders gestaltet werden, die Gewerbeordnung also novelliert werden. Dafür sprächen sowohl volkswirtschaftliche Gründe – künstliche Beleuchtung war noch keine Selbstverständlichkeit – als auch die Gesundheit der Arbeiterinnen und Arbeiter. Den Kommissionsmitgliedern schwebte vor, „daß die Oberbehörden gesetzlich ermächtigt werden möchten, bezirksweise eine Anpassung der Zeitbestimmung vorzunehmen“[43]. Im Prinzip bedeutete dieser Vorschlag, der noch Ende Januar 1893 im Reichstag diskutiert wurde, lokal gültige Einheitszeiten parallel zu einer national gültigen Amtszeit wieder einzuführen. Was dabei zum Teil verkannt bzw. schlichtweg nicht verstanden wurde, war, dass die Gewerbeordnung lediglich Grenzen festlegte, innerhalb derer es für den einzelnen Arbeitgeber hinreichend Spielraum gab, selbst über die von ihm festgelegten Arbeitszeiten zu entscheiden.
Letztlich wurde die Resolution zur Gewerbeordnung abgelehnt. Überhaupt setzte sich – zumindest auf politischer Ebene – die Vorstellung durch, dass mit der reichsweiten, gesetzlichen Einführung der MEZ „gewisse Unbequemlichkeiten“[44] in Kauf zu nehmen seien, aber die Vorteile gegenüber den Nachteilen überwiegen würden. Außerdem werde von Letzteren schon bald niemand mehr etwas merken. Nachdem das Reich Anfang des Jahres 1891 Erörterungen mit dem Bundesrat eingeleitet hatte, trat das Gesetz, betreffend die Einführung einer einheitlichen Zeitbestimmung nach insgesamt drei Beratungen im Reichstag zum 1. April 1893 im Wortlaut unverändert in Kraft.
Sowohl die Annahme der Stundenzonenzeit im späten Kaiserreich als auch die Entstehungsgeschichte eines deutschen Zeitgesetzes präsentiert sich so als eine auf nationalstaatlicher Ebene von Vorbehalten und Missverständnissen geprägte, langwierige Angelegenheit, die erst durch Diskussionen und Entwicklungen auf internationaler Ebene, Initiativen direkter europäischer Nachbarn sowie durch regionale Alleingänge maßgeblich in Bewegung geriet und Gestalt gewann. Auf einer übergeordneten Ebene zeigt sie, wie eng Globalisierungsprozesse, innereuropäische Entwicklungen, spezifisch nationale Erwägungen, aber auch Initiativen einzelner Bundesstaaten miteinander verwoben waren. Ein genauer Blick auf die Beiträge der deutschen Diskussionsteilnehmer offenbart zudem, dass etliche Zeitgenossen keinerlei Widerspruch in einer Vielzahl von Zeiten und effektiver Betriebsführung oder aber wissenschaftlicher Erkenntnis sahen – im Gegenteil. Mehrere der in diesem Zusammenhang öffentlich debattierten Aspekte deuten auf eine verbreitete, gar gesteigerte „Pluritemporalität“[45] hin, außerdem auf die hartnäckige Persistenz „natürlicher“ Zeiten.
Dies dürften Hinweise genug darauf sein, dass die Verabschiedung des Gesetzes noch nichts über dessen Umsetzung und Akzeptanz im Alltag aussagt. Der 1. April 1893 stellte jedenfalls nicht den Endpunkt sämtlicher Zeitreformbestrebungen in Deutschland dar. Wie das Beispiel zeigt, sind noch heute gültige ‚moderne‘ Zeitordnungen aus einem ebenso umstrittenen wie zähen Transformationsprozess hervorgegangen. Dies vermag den Blick für die Komplexität aktueller Zeitkonflikte in Europa zu schärfen – so beispielsweise die eingangs erwähnten Forderungen nach einer Abschaffung der Zeitumstellung.
[1] Essay zur Quelle: Gesetz, betreffend die Einführung einer einheitlichen Zeitbestimmung. Vom 12. März 1893, in: Reichs-Gesetzblatt 7, 16.03.1893, S. 93.
[2] Europäische Kommission, Konsultation zu Sommerzeit: 84 Prozent der Teilnehmer sind für die Abschaffung der Zeitumstellung in der EU, in: Offizielle Website der Europäischen Union, URL: https://ec.europa.eu/germany/news/20180831-konsultation-sommerzeit_de (07.01.2020).
[3] Gesetz.
[4] Gesetz.
[5] Jürgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, 2. Aufl. München 2009, S. 119.
[6] Johannes Graf, Moderne Zeiten. Zeitmessung auf dem Weg in die Gegenwart, Furtwangen 2006, S. 27.
[7] Glaser; zit. n.: Verein deutscher Maschinen-Ingenieure, Versammlung vom 24. September 1889, in: Glaser’s Annalen für Gewerbe und Bauwesen 296, 15.10.1889, S. 156, Bundesarchiv (BA), R 4201/428.
[8] Ebd.
[9] J. Graf, Moderne Zeiten (Anm. 6), S. 25.
[10] Caprivi, Gesetzesentwurf nebst Begründung. Bundesrath Nr. 74, 20.05.1892, S. 5, BA, R 4201/428. Als Erfinder der Zonenzeit gilt bis heute gemeinhin der gebürtige Schotte und später kanadische Ingenieur Sandford Fleming, der ursprünglich jedoch – in seiner 1876 erstmals erschienenen Publikation „Terrestrial Time“ – für die Einführung einer Weltzeit plädiert hatte: Vgl. J. Graf, Moderne Zeiten (Anm. 6), S. 23; Ian R. Bartky, One Time Fits All. The Campaigns for Global Uniformity, Stanford, CA, 2007, S. 50–55.
[11] Erklärung des Handelsgesetzgebungs-Ausschusses und de[s] Verkehrs-Ausschuß der Handelskammer zu Leipzig, 12.02.1890, S. 12 f., Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (BBAW), Nachlass (NL) Foerster 59.
[12] Reichs-Eisenbahn-Amt an Foerster, 28.06.1879, BBAW, Sternwarte Babelsberg (SB) 176.
[13] Stolberg-Wernigerode; zit. n.: 81te Sitzung des deutschen Reichstages, 05.03.1891, S. 1890, BA, R 4201/428.
[14] O. V., o. T., in: Norddeutsche Allgemeine Zeitung Nr. 160, 04.04.1892, BA, R 901/15612.
[15] Protokoll des Vereins für Eisenbahnkunde, 13.05.1884, S. 98, BBAW, SB 176 (Anm. 12).
[16] Foerster plädierte für die Einführung einer Weltzeit bei gleichzeitiger Beibehaltung der Ortszeiten und betrieb entsprechende Lobbyarbeit. So verschickte er beispielsweise seine Broschüre „Weltzeit und Ortszeit, im Bunde gegen die Vielheit der sogenannten Einheits- oder Zonen-Zeiten“ an Reichstagsabgeordnete: vgl. 81te Sitzung des deutschen Reichstages, 05.03.1891 (Anm. 13), S. 1890.
[17] Stumm; zit. n.: 30te Sitzung des deutschen Reichstages, 05.12.1889, BA, R 4201/428.
[18] Glaser; zit. n.: Verein deutscher Maschinen-Ingenieure, Versammlung vom 24. September 1889 (Anm. 7), S. 156.
[19] Verein Deutscher Eisenbahn-Verwaltungen, Zur Vereins-Versammlung in Dresden, Mai 1890, S. 1, BA, R 4201/428.
[20] Vgl. W. Streckert, Die Stundenzonenzeit, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik 3.4 (1892), S. 503 f. Der Begriff hat unübersehbar geopolitische Implikationen und war entsprechend Gegenstand von Diskussionen auf transnationaler Ebene: Martin H. Geyer, Prime Meridians, National Time, and the Symbolic Authority of Capitals in the Nineteenth Century, in: Andreas W Daum, Christof Mauch (Hrsg.), Berlin – Washington, 1800–2000. Capital Cities, Cultural Representations, and National Identities, Cambridge, NY, 2005, S. 79–100, hier S. 97.
[21] Vgl. Auszug aus dem Amtsblatt der Kaiserlichen Eisenbahn-Verwaltung in Elsaß-Lothringen 21, 28.05.1891, BA, R 4201/428.
[22] Vgl. Auszug aus dem Amtsblatt der Kaiserlichen Eisenbahn-Verwaltung in Elsaß-Lothringen 12, 24.03.1892, BA, R 4201/428.
[23] Auszug aus dem Amtsblatt der Kaiserlichen Eisenbahn-Verwaltung in Elsaß-Lothringen 21 (Anm. 21).
[24] Direktion der Nordbrabant-Deutschen Eisenbahn in Gennep an die Geschäftsführung des Vereins Deutscher Eisenbahn-Verwaltungen, 27.04.1892, BA, R 4201/428.
[25] Caprivi, Gesetzesentwurf nebst Begründung (Anm. 10), S. 6. Letztlich setzten sich die Befürworter der Amsterdamer Sonnenzeit durch, die in den Niederlanden ab dem 1. April 1909 und bis Mitte Mai 1940 galt: vgl. Kaiserlich Deutsche Gesandtschaft in den Niederlanden an Bülow, 18.11.1908, BA, R 901/16617.
[26] Vgl. I. R. Bartky, One Time Fits All (Anm. 10), S. 130 und S. 134. Seit dem 11. März 1911 galt in Frankreich dann per Gesetz: „L’heure légale en France et en Algérie est l’heure, temps moyen de Paris, retardée de neuf minutes vingt et une secondes“: LOI portant modification de l’heure légale française […], in: Journal officiel de la République Française 68, 10.03.1911, S. 1882, BA, R 901/16617. Sprachlich recht verklausuliert hatte damit auch Frankreich offiziell den Greenwicher Meridian anerkannt und sich dem Stundenzonensystem angeschlossen.
[27] E. Hammer, Nullmeridian und Weltzeit, Hamburg 1888, S. 36.
[28] Schreiben des Präsidenten des Reichs-Eisenbahn-Amtes [Schulz] an den Chef des Reichsamtes für die Verwaltung der Reichseisenbahnen Maybach, 27.05.1891, BA, R 4201/428.
[29] Stumm; zit. n.: Reichstag. – 3. Sitzung, 24.11.1892, BA, R 4201/428, S. 37.
[30] Caprivi, Gesetzesentwurf nebst Begründung (Anm. 10), S. 5.
[31] Henneberg; zit. n.: 30te Sitzung des deutschen Reichstages, 05.12.1889 (Anm. 17).
[32] Caprivi, Gesetzesentwurf nebst Begründung (Anm. 10), S. 6.
[33] Bericht des Handelsgesetzgebungs- und des Verkehrsausschusses, S. 2, BBAW, NL Foerster 59.
[34] Heeremann; zit. n.: Reichstag. – 28. Sitzung, 23.01.1893, S. 635, BA, R 4201/428.
[35] Stumm; zit. n.: 81te Sitzung des deutschen Reichstages, 05.03.1891 (Anm. 13), S. 1891.
[36] Auf die Bedeutsamkeit rascher temporaler Koordination im Verteidigungsfall verwiesen zwar mehrere einflussreiche Personen des Zeitgeschehens, doch ist in diesem Zusammenhang vor allem die Rede berühmt geworden, die Generalfeldmarschall Helmuth von Moltke am 16. März 1891 im deutschen Reichstag hielt: Vgl. Reichstag. – 90. Sitzung, 16.03.1891, S. 2092 f. BA, R 4201/428.
[37] Brandenburg; zit. n.: Reichstag. – 28. Sitzung, 23.01.1893 (Anm. 34), S. 634 f.
[38] Stolberg-Wernigerode; zit. n.: 30te Sitzung des deutschen Reichstages, 05.12.1889 (Anm. 17).
[39] Caprivi, Gesetzesentwurf nebst Begründung (Anm. 10), S. 9.
[40] Ebd.
[41] O. V., Die Einführung einer einheitlichen Zeit – Normalzeit – für den Eisenbahndienst, in: Mittheilungen an die Mitglieder des Deutschen Handelstags XXIX.28, verschickt an Foerster, 08.12.1889, S. 6, BBAW, NL Foerster 59.
[42] Stumm; zit. n.: 81te Sitzung des deutschen Reichstages, 05.03.1891 (Anm. 13), S. 1892.
[43] Brandenburg; zit. n.: Reichstag. – 28. Sitzung, 23.01.1893 (Anm. 34), S. 640.
[44] Stolberg-Wernigerode; zit. n.: 30te Sitzung des deutschen Reichstages (Anm. 17), 05.12.1889.
[45] Achim Landwehr, Geburt der Gegenwart. Eine Geschichte der Zeit im 17. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2014, S. 38.
Literaturhinweise:
Ian R. Bartky, One Time Fits All. The Campaign for Global Uniformity, Stanford, CA, 2007.
Sebastian Conrad, “Nothing Is the Way It Should Be”. Global Transformations of the Time Regime in the Nineteenth Century, in: Modern Intellectual History 15.3 (2018), S. 821–848.
Johannes Graf, Moderne Zeiten. Zeitmessung auf dem Weg in die Gegenwart, Furtwangen 2006.
Vanessa Ogle, The Global Transformation of Time. 1870–1950, Cambridge, MA, 2015.
Caroline Rothauge, “Normal” Times? Time in Everyday Life in the German Kaiserreich around 1900, in: German History [erscheint demnächst].
Oliver Zimmer, One Clock Fits All? Time and Imagined Communities in Nineteenth-Century Germany, in: Central European History 53 (2020), S. 48–70.