Von europäischen Völkern und Werten. Altes und Neues zur europäischen Integration in der Präambel der Grundrechte-Charta (2000)[1]
Von Ruth Weber
Mit der Grundrechte-Charta legte die Europäische Union (EU) 2000 erstmals Grundrechte umfassend schriftlich nieder. Seit 2009 ist sie durch das Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon geltendes Recht. Neuartig war auch ihre Entstehung im Grundrechtekonvent, der zwischen Dezember 1999 und Oktober 2000 unter Leitung von Roman Herzog zusammenkam. Zum ersten Mal trafen sich nicht allein die mitgliedstaatlichen Regierungen, um neue europäische Verträge zu verhandeln. Vielmehr kamen daneben Mitglieder des Europäischen Parlaments, der mitgliedstaatlichen Parlamente sowie Vertreter der Europäischen Kommission zusammen. Von den sonst üblichen Regierungskonferenzen unterschied sich der Grundrechtekonvent auch darin, dass er öffentlich tagte und Stellungnahmen aus der Zivilgesellschaft einholte.[2] Ziel war es, neben der Europäischen Menschenrechtskonvention einen eigenständigen Grundrechtekatalog der EU zu erarbeiten. Die Entstehung im Konvent sollte die Charta mit größerer Legitimation ausstatten.
Es war der bislang einzige Konvent auf Ebene der EU, dessen Ergebnis heute geltendes Recht ist. Der zweite Konvent, der drei Jahre später einen Vertrag über eine Verfassung für Europa erarbeitete, schlug zwar einen solchen Text vor. Dieser scheiterte aber an den negativen Referenden in Frankreich und in den Niederlanden. Bislang realisierte sich die im Zusammenhang mit der 2021 eingeleiteten Konferenz zur Zukunft Europas geäußerte Möglichkeit, einen neuen Konvent zur Änderung der europäischen Verträge einzuberufen, nicht. Ziel der Konferenz war es, die Zukunftswünsche der europäischen Bürgerinnen und Bürger, die neben institutionellen Vertreterinnen und Vertretern an der Konferenz beteiligt waren, zu erarbeiten. Am 9. Mai 2022 legte die Konferenz ihre Ergebnisse vor. Europäisches Parlament, Rat und Europäische Kommission reagierten bislang mit Mitteilungen und Entschließungen.[3] In der Rede zur Lage der Union am 14. September 2022 forderte Kommissionspräsidenten Ursula von der Leyen einen Konvent.[4] Ein größerer Reformprozess gilt aktuell jedoch als unwahrscheinlich. Angesichts der durch die Konferenz ausgelösten neuen Debatte über die künftigen Integrationsschritte stellt sich die Frage, auf welchem Stand sich die europäische Integration befindet.
Eine Möglichkeit, sich dieser Frage zu nähern, ist, das geschriebene Recht zu analysieren. An den Veränderungen im Recht zeigen sich wesentliche Etappen der Integration. Neben der Grundrechte-Charta sind die Verträge über die Europäische Union (EUV) und über die Arbeitsweise der EU (AEUV) Teil des europäischen Primärrechts. Sie enthalten unter anderem die wichtigsten Regeln zum Aufbau und zur Organisation der europäischen Institutionen und die Grundfreiheiten. Das übergelagerte, dem Primärrecht zugrundeliegende Selbstverständnis spiegelt sich am deutlichsten in den Präambeln dieser Rechtstexte wider. Sie formulieren allgemeine Zielvorstellungen und weisen einen im Vergleich zu den übrigen Artikeln hohen erzählerischen Anteil auf. Vom Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) bis zu dem heute geltenden Primärrecht enthalten alle Verträge Präambeln.
Sieht man sich die Präambel der Grundrechte-Charta an, fällt auf, dass sie sich in Form und Inhalt von den Präambeln sowohl früherer als auch späterer europäischer Verträge unterscheidet, aber auch Parallelen zu diesen aufweist. Was sagt dies aus, insbesondere über die Frage nach dem Stand der Integration und über die Finalität der Europäischen Union? Der Text der Charta-Präambel markiert den Stand zur Jahrtausendwende. Mit dem Entwurf für eine Verfassung sowie dem Vertrag von Lissabon entstanden im Anschluss weitere Präambeln europäischer Verträge.
Beim Vergleich der verschiedenen Präambeln lassen sich drei zentrale Beobachtungen anstellen: Die erste betrifft die formale Ebene, auf der die Präambel der Charta sich deutlich von den übrigen unterscheidet. Demgegenüber enthält sie – zweitens – wie nahezu alle übrigen Präambeln auch die bekannte Formulierung „ever closer union“ („immer engere Union“). Die dahinterliegende Zielrichtung steht im Zusammenhang mit der dritten Frage, der nach der Entwicklung der EU von einer Wirtschafts- zu einer Wertegemeinschaft, die sich besonders prägnant im Text der Charta-Präambel widerspiegelt. Ein näherer Blick in die Protokolle und Arbeitsdokumente zum Grundrechtekonvent offenbart zudem, dass sich hinter dem finalen Text Konfliktlinien zeigen, die sich im Verfassungskonvent fortführten und auch heute noch relevant sein dürften.
Die Präambeln der verschiedenen europäischen Verträge sind im Wesentlichen immer gleich aufgebaut: Sie enthalten keine Punkte, sondern nur Kommata und Doppelpunkte. Oben stehen die vertragsschließenden Staatsoberhäupter als Subjekt eines sehr langen Satzes. Die offiziellen Fassungen des EUV und des AEUV, die derzeit in Kraft sind, enthalten nur die Namen der Staatsoberhäupter, die an der ersten Unterzeichnung der jeweiligen Verträge beteiligt waren, d.h. für den EUV die von Maastricht (1992/93) und für den AEUV die von Rom (1957/58). Die neu beigetretenen Mitglieder werden nur in einer Fußnote erwähnt.[5] Auf die Aufzählung der Staatsoberhäupter folgt der Abschnitt mit den verschiedenen Erwägungsgründen. Nach dieser Aufzählung, die von Vertrag zu Vertrag unterschiedlich lang ist, folgt die Schlussformel mit der anschließenden Nennung der Bevollmächtigten.
Die Präambel der Grundrechte-Charta unterscheidet sich formal wesentlich von denjenigen der anderen Verträge. Zunächst einmal verzichtet sie auf die Form des künstlich langen Satzes. Stattdessen ist der Text in sieben Absätze unterteilt. Ein wesentlicher Unterschied findet sich außerdem gleich zu Beginn: Subjekt des Satzes sind nicht die Staatsoberhäupter, sondern die „Völker Europas“. Der erste Satz lautet:
„Die Völker Europas sind entschlossen, auf der Grundlage gemeinsamer Werte eine friedliche Zukunft zu teilen, indem sie sich zu einer immer engeren Union verbinden.“
Warum also beschlossen die Mitglieder des Konvents, diese Präambel mit den „Völkern Europas“ zu beginnen? Während die Subjektstellung der „Völker“ nicht explizit diskutiert wurde, entspann sich im Konvent eine rege Diskussion darüber, ob man von „Volk“ oder „Völkern“ sprechen sollte.
Ausgangspunkt der Diskussion war ein früher Entwurf der Charta,[6] in dem vom „Volk“ im Singular die Rede war. Die Charta sollte demnach einen ersten Artikel mit dem Wortlaut „Alle öffentliche Gewalt geht vom Volk aus“ enthalten. Während sich hinsichtlich der Frage, ob man – wenn überhaupt – eine solche Formulierung nicht besser in eine Präambel aufnehmen sollte, Konsens abzeichnete, stieß die Formulierung selbst auf vielfältige Kritik. Verschiedene Gegenvorschläge wurden eingereicht.
Einige Vorschläge gingen dahin, bei „Volk“ im Singular zu bleiben, die Formulierung allerdings zu ergänzen. So schlug das belgische Mitglied des Europäischen Parlaments, Jean-Maurice Dehousse, die Formulierung „Von der Kommune bis zu Europa geht alle öffentliche Macht vom Volk aus“ vor, um damit die ausnahmslose Geltung des Demokratieprinzips „für alle Ebenen des öffentlichen Handelns“ zu verdeutlichen.[7] Zur Vorbeugung von Missverständnissen schlug die französische EU-Parlamentarierin Pervenche Berès vor, nicht von „aller“, sondern „der“ öffentlichen Gewalt, die „zuerst“ vom Volk ausgehe, zu sprechen.[8]
Andere, insbesondere deutsche Konventsmitglieder, fokussierten sich auf die Verwendung des Plurals und merkten an: „Ein europäisches Staatsvolk hat sich […] nicht gebildet. Bezugspunkt der Charta müssen daher die Völker der Unionsstaaten bleiben […]. Daher wird vorgeschlagen, anstelle der Aussage ‚vom Volk‘ die Wörter ‚von den Völkern der in der Europäischen Union vereinigten (oder: zusammengeschlossenen) Staaten‘ einzufügen.“[9] Bemerkenswert an diesem Vorschlag ist, dass nicht einfach „Volk“ in den Plural gesetzt wird, sondern als deren Bezugspunkt die „Staaten“ hinzukommen. Noch weiter ging der Vorschlag der luxemburgischen liberalen Politikerin Simone Beissel „Alle öffentliche Gewalt geht von den Nationen aus“, der den Bezug zu Volk oder Völkern insgesamt fallen lässt.[10]
Was sagt diese Uneinigkeit über den Stand der Integration aus? Die Diskussionen im Grundrechtekonvent zeigen, dass die Formulierung „Völker Europas“ Anlass zum Austausch über verschiedene Fragen des Demokratieprinzips gab. Soweit die Arbeitsdokumente und Protokolle dies nachweisen, besprachen die Mitglieder des Konvents diese Fragen nicht systematisch, sondern assoziierten damit verschiedene Einzelaspekte, wie beispielsweise die Wahl von Richterinnen und Richtern, das Transparenzgebot oder den Dokumentenzugang. Ihr assoziatives Vorgehen dürfte Ausdruck der Vieldeutigkeit des Bezugs auf Demokratie sein.
Dass sich die Präambel zur Grundrechte-Charta durch die Bezugnahme auf die „Völker Europas“ gleich am Anfang von den anderen europäischen Verträgen unterscheidet, könnte schließlich auch daran liegen, dass mit ihrem Regelungsgehalt individuelle Rechte formuliert werden. Die konkrete Ausarbeitung erfolgte zudem zu einem Zeitpunkt, als mit dem Vertrag von Maastricht bereits die Unionsbürgerschaft eingeführt worden war. Auch könnte es als ein Indiz für die Entstehung im Grundrechtekonvent – unter Beteiligung der parlamentarischen Vertreterinnen und Vertreter sowie im Austausch mit der Zivilgesellschaft – zu lesen sein.
In ihrem ersten Absatz spricht die Präambel der Grundrechte-Charta nicht nur von den Völkern Europas, sondern auch von der „immer engeren Union“. Diese Formel ist keineswegs unbekannt. Sie befindet sich schon seit den Anfängen der europäischen Gemeinschaften in Präambeln und ist mittlerweile auch in Artikel 1 des EUV verankert, wonach der Vertrag „eine neue Stufe bei der Verwirklichung einer immer engeren Union der Völker Europas“ darstellt, „in der die Entscheidungen möglichst offen und möglichst bürgernah getroffen werden“. Die Formel gibt mit ihrem Komparativ in zeitlicher und räumlicher Hinsicht eine Steigerung vor, jedoch ist unklar, was sich dahinter verbirgt. Angesichts dieses unklaren Gehalts lohnt es sich, näher zu beleuchten, in welchen Zusammenhängen sie verwendet wird.
Einzug in die Präambeln europäischer Verträge erhält die Formel mit dem Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) von 1957. Der EGKS-Vertrag von 1951 hingegen enthält sie noch nicht. Dessen Präambel betont stark das Friedensmotiv, im Gegensatz zu späteren Verträgen. Gleich die ersten beiden Erwägungsgründe nehmen darauf Bezug:
„in der Erwägung, daß der Weltfriede nur durch schöpferische, den drohenden Gefahren angemessene Anstrengungen gesichert werden kann,
in der Überzeugung, daß der Beitrag, den ein organisiertes und lebendiges Europa für die Zivilisation leisten kann, zur Aufrechterhaltung friedlicher Beziehungen unerläßlich ist“
Der sechste und letzte Erwägungsgrund führt dies fort:
„entschlossen, an die Stelle der jahrhundertealten Rivalitäten einen Zusammenschluß ihrer wesentlichen Interessen zu setzen, durch die Errichtung einer wirtschaftlichen Gemeinschaft den ersten Grundstein für eine weitere und vertiefte Gemeinschaft unter Völkern zu legen, die lange Zeit durch blutige Auseinandersetzungen entzweit waren, und die institutionellen Grundlagen zu schaffen, die einem nunmehr allen gemeinsamen Schicksal die Richtung weisen können“
Der Gedanke „für eine weitere und vertiefte Gemeinschaft unter Völkern“ kann als erster Vorläufer der „immer engeren Union“ gesehen werden. Die „Völker“ werden noch nicht als „europäisch“ bezeichnet. Vielmehr verdeutlicht ihr Bezugspunkt („lange Zeit durch blutige Auseinandersetzungen entzweit“) den zeitlichen Kontext: das nicht lange zurückliegende Kriegsende. Darüber hinaus beziehen sich die einleitenden Worte dieses Erwägungsgrundes auf „jahrhundertealte […] Rivalitäten“. Diese anschaulichen Hinweise auf das Friedensmotiv finden sich in den späteren Präambeln nicht mehr.
Im sechs Jahre später verkündeten EWG-Vertrag findet die Formel gleich in den ersten Erwägungsgrund Einzug:
„IN DEM FESTEN WILLEN, die Grundlagen für einen immer engeren Zusammenschluß der europäischen Völker zu schaffen“
Gerade im Unterschied zu den bildlichen Beschreibungen im EGKS-Vertrag fällt auf, dass konkrete historische Bezüge fehlen. Im Gegensatz zur EGKS-Präambel steht das Friedensmotiv in einem der letzten Erwägungsgründe:
„ENTSCHLOSSEN, durch diesen Zusammenschluß ihrer Wirtschaftskräfte Frieden und Freiheit zu wahren und zu festigen, und mit der Aufforderung an die anderen Völker Europas, die sich zu dem gleichen hohen Ziel bekennen, sich diesen Bestrebungen anzuschließen“
Die übrigen Erwägungsgründe sind eher technischer Natur. Sie beschreiben die Aufgaben der EWG und zeigen ihre klare Ausrichtung auf die Wirtschafts- und Handelspolitik. In der Präambel spiegelt sich die Erzählung wider, nach der die EU politische Ziele mit wirtschaftlichen Mitteln erreichen will.[11]
Auch die Präambel des Vertrags von Maastricht enthält die Formulierung, jedoch nicht im ersten, sondern im elften Erwägungsgrund:
„ENTSCHLOSSEN, den Prozeß der Schaffung einer immer engeren Union der Völker Europas, in der die Entscheidungen entsprechend dem Subsidiaritätsprinzip möglichst bürgernah getroffen werden, weiterzuführen“
Im Unterschied zu früheren Präambeln wird in diesem Erwägungsgrund das Subsidiaritätsprinzip zum ersten Mal überhaupt in einer Präambel erwähnt. Das Subsidiaritätsprinzip steht für die Grenze dessen, was auf die supranationale Ebene übertragen werden kann. Subsidiaritätsprinzip und „immer engere Union“ im gleichen Erwägungsgrund der Präambel zu nennen, zeugt daher von Widersprüchlichkeit. Es kann gleichzeitig als Anzeichen für den Kontext der Entstehung des Vertrags von Maastricht gelesen werden: Dieser stellt zwar den größten Integrationsschritt seit der Gründung der Europäischen Gemeinschaften dar. In seinem Ratifikationsprozess, der sich insbesondere in Dänemark und Frankreich als schwierig erwies, wurde aber deutlich, dass das institutionelle Projekt Europa keinesfalls ein Selbstläufer, sondern vielmehr von Skepsis begleitet ist.
Andere Erwägungsgründe der Maastrichter Präambel umschreiben den europäischen Integrationsprozess weiter. Sie sprechen davon, den „eingeleiteten Prozeß der europäischen Integration auf eine neue Stufe zu heben“ und von der „historischen Bedeutung der Überwindung der Teilung des europäischen Kontinents und der Notwendigkeit, feste Grundlagen für die Gestalt des zukünftigen Europas zu schaffen“. Wiederum zeigt sich in der Präambel der zeitliche Kontext. Die Erwägungsgründe knüpfen an historische Entwicklungen an. Im Vergleich zum EGKS-Vertrag sind sie jedoch weniger anschaulich und konkret. Das Friedensmotiv wird vom Motiv der „Überwindung der Teilung des europäischen Kontinents“ abgelöst.
Im aktuell geltenden Recht enthalten alle drei Präambeln die Formulierung „immer engere Union“ bzw. „Zusammenschluß“, dies jedoch an unterschiedlichen Stellen und in verschiedenen Zusammenhängen. Im AEUV steht sie, anknüpfend an die Präambel des EWG-Vertrags, gleich im ersten Erwägungsgrund. Der EUV verbindet sie mit dem Subsidiaritätsprinzip. Die Grundrechte-Charta enthält sie in dem bereits behandelten ersten Erwägungsgrund, wonach die Verbindung der Völker Europas „zu einer immer engeren Union“ Bedingung für „eine friedliche Zukunft“ „auf der Grundlage gemeinsamer Werte“ ist. Hier wird entsprechend das Friedensmotiv wieder aufgegriffen – freilich ohne die Anschaulichkeit des EGKS-Vertrags – und zugleich an einen anderen Topos angeknüpft, nämlich den der Werte.
Die Präambel der Grundrechte-Charta nimmt nicht nur im ersten, sondern auch im zweiten und dritten Absatz auf „Werte“ Bezug. In ihr taucht dieser schillernde Begriff zum ersten Mal in einer europäischen Präambel explizit auf. Im aktuell geltenden Recht nimmt der – fast ein Jahrzehnt später mit dem Vertrag von Lissabon eingefügte – zweite Erwägungsgrund der Präambel des EUV auf Werte Bezug:
„schöpfend aus dem kulturellen, religiösen und humanistischen Erbe Europas, aus dem sich die unverletzlichen und unveräußerlichen Rechte des Menschen sowie Freiheit, Demokratie, Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit als universelle Werte entwickelt haben“
Die Entstehungsgeschichte dieses Erwägungsgrunds, die Kiran Klaus Patel dargestellt hat,[12] ist erkenntnisreich. Die Formulierung stammt aus dem Entwurf für eine Verfassung für Europa und fand dort erst nach längeren Diskussionen ihren Platz. In diesen war nicht nur eine mögliche „invocatio Dei“ umstritten. Auch der Vorschlag Frankreichs, die Präambel mit einem Verweis auf Thukydidesʼ Wiedergabe der Leichenrede des Perikles einzuleiten, scheiterte. Schließlich fand die kompromisshafte Rede vom „kulturellen, religiösen und humanistischen Erbe Europas“, aus dem sich jene „universelle Werte“ entwickelten, Einzug in die Präambel.
Patel weist auf ein sich in der Präambel und ihrer Bezugnahme auf die Werte verbergendes Phänomen hin, nämlich eine Mystifizierung von Werten und Normen in einer „langen Vorgeschichte“ .[13] Diese Entwicklung habe nicht erst mit der gescheiterten Verfassunggebung und auch nicht mit der hier in den Mittelpunkt gestellten Grundrechte-Charta, sondern bereits mit der Einheitlichen Europäischen Akte von 1987 begonnen: Ihre Präambel ist die erste, die Gleichheit, Demokratie, Menschenrechte und Freiheit erwähnt, obwohl diese auf Ebene der Europäischen Gemeinschaften noch keine konsolidierte Rolle spielten. Der Reformvertrag enthielt mit der Schaffung des Binnenmarktes und der Änderung des Abstimmungsverfahrens im Rat gravierende Änderungen. Der Verweis in der Präambel kann daher auch als Ausdruck eines gestiegenen Legitimationsbedürfnisses verstanden werden. Die Präambel des Vertrags von Maastrichts, der zur Liste noch die Rechtsstaatlichkeit „bestätigend“ hinzufügt, zeigt, dass der „Mythos“ der Werte fortgeführt wurde und namentlich der Legitimation des Binnenmarktes diente.
Insbesondere Grundrechte spielten innerhalb der europäischen Institutionen bereits vorher eine immer wichtigere Rolle. Der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) hatte schon Ende der 1960er-Jahre in seiner Rechtsprechung anerkannt, dass die allgemeinen Grundsätze der Gemeinschaftsrechtsordnung Grundrechte enthalten. Im wichtigen Urteil „Internationale Handelsgesellschaft“ von 1970 heißt es, dass die „Beachtung der Grundrechte“ „zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen, deren Wahrung der Gerichtshof zu sichern hat“ gehöre. Die Gewährleistung der Rechte müsse „von den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten getragen sein“ und sich „in die Struktur und die Ziele der Gemeinschaft einfügen“.[14] Den Grundstein für das Urteil „Internationale Handelsgesellschaft“ hatte der EuGH bereits in seiner berühmten Entscheidung „Van Gend & Loos“ von 1963 gelegt. Darin hatte er herausgestellt, dass die Bestimmungen des Primärrechts unmittelbare Wirkung erzeugten und individuelle Rechte des Einzelnen begründeten. In seiner Begründung hatte er unter anderem auf die Präambel des EWG-Vertrages zurückgegriffen, die „sich nicht nur an die Regierungen, sondern auch an die Völker“ richte.[15] Der EuGH, seinem Selbstverständnis nach „Rechtsfindungswerkstatt der Integration“[16], beförderte damit in seiner Rechtsprechung die europäische Integration. Gerade in den frühen und bedeutsamen Entscheidungen bleiben die Begründungen jedoch häufig knapp und apodiktisch. Dieser der französischen Tradition entspringende Begründungsstil begleitet den durch den EuGH vorangetriebenen Prozess der europäischen Integration von Anfang an.
Die Einführung der Grundrechte-Charta steht besonders prägnant für den Übergang von einer Wirtschafts- zu einer Wertegemeinschaft. Seit dem Vertrag von Lissabon aus dem Jahr 2009 stehen die Werte nunmehr auch im EUV, nicht nur in der Präambel, sondern auch im eigentlichen Vertragstext. An prominenter Stelle in Artikel 2 EUV heißt es:
„Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Diese Werte sind allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet.“
In den aktuellen Debatten über die Rechtsstaatlichkeit in der EU nimmt dieser Artikel eine zentrale Rolle ein: Für die Sanktionen nach Artikel 7 EUV ist eine Verletzung der in Artikel 2 genannten Werte erforderlich. Auch die Verordnung zum „Rechtsstaatsmechanismus“ von 2020[17] bezieht sich auf Artikel 2 EUV. Danach kann der Rat bei einer entsprechenden Verletzung auf Vorschlag der Kommission finanzielle Sanktionen gegen Mitgliedstaaten beschließen.
Es lässt sich also beobachten, dass die Bezugnahme auf Werte zuerst implizit begann, bei späteren Verträgen in die Präambeln Einzug fand und im EUV schließlich ganz vorne steht. Die Entwicklung im Rechtstext bedeutet jedoch nicht gleichzeitig auch politisch die Vollendung der Wertegemeinschaft. Durch die rechtlichen Mechanismen konnten die massiven Verletzungen der Rechtsstaatlichkeit in Ungarn und Polen nicht beseitigt werden. Das Artikel 7-Verfahren scheitert am Einstimmigkeitserfordernis, das zu einem gegenseitigen Veto von Polen und Ungarn führt. Die Anwendung des Rechtsstaatsmechanismus hing zunächst in der Schwebe, da sich Rat und Kommission darauf geeinigt hatten, den Ausgang der von Polen und Ungarn am EuGH anhängig gemachten Verfahren abzuwarten. Im Februar lehnte der EuGH die Klagen der beiden Mitgliedstaaten ab und entschied, dass der Rechtsstaatsmechanismus EU-rechtskonform ist.[18] Für beide Länder steht nun im Raum, EU-Gelder nicht weiter auszuzahlen. So machte die Kommission die Auszahlung der Mittel aus dem Corona-Wiederaufbaufonds „NextGenerationEU“ an Polen von Reformen im Justizwesen abhängig.[19] Die Kommission hat bislang noch nicht final über die Reformen in Polen entschieden. Nach Ansicht verschiedener Beobachterinnen und Beobachter reichen die bisherigen Schritte jedoch nicht aus, die Bedingungen zur Auszahlung der Gelder zu erfüllen. Wie sich der Streit weiter entwickeln wird, ist derzeit unklar. Es zeigt sich jedenfalls, dass das Recht bei der Lösung der politischen Probleme an seine Grenzen gerät.
Die Präambeln der Verträge und der Charta, ihrerseits verbindliches Recht, offenbaren den historischen Kontext im Recht. Gerade die Präambel der Grundrechte-Charta ist geeignet, den Blick auf die Ambivalenzen der Integration zu schärfen: Im Unterschied zum Text der Präambeln der Verträge, die die Staatsoberhäupter an den Anfang stellen, werden die „Völker Europas“ betont. Sie knüpft zugleich mit der Formulierung „immer engere Union“ an ein wiederkehrendes Motiv aller europäischen Präambeln an, das sich bei näherem Betrachten als unbestimmt erweist. Vor allem aber spricht die Präambel der Grundrechte-Charta zum ersten Mal explizit von Werten und steht daher für den Übergang von der Wirtschafts- zur Wertegemeinschaft im Text des Primärrechts.
[1] Essay zur Quelle: Präambel der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (2000) [veröffentlicht im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften C 364/8], in: Themenportal Europäische Geschichte, 2022, URL: <https://www.europa.clio-online.de/quelle/id/q63-76840>.
[2] Zur Entstehung im Grundrechtekonvent siehe Matthias H. Knecht, Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Kohlhammer 2005, S. 69–105; Stefan Barriga, Die Entstehung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Nomos 2003, S. 20–33; Andreas Zimmermann, Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union zwischen Gemeinschaftsrecht, Grundgesetz und EMRK, Nomos 2002, S. 13–15; Nina Philippi, Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Nomos 2002, S. 13–16.
[3] Alle Informationen abrufbar unter URL: <https://futureu.europa.eu/pages/about?locale=de>.
[4] 2022 State of the Union Address by President von der Leyen, URL: <https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/ov/speech_22_5493>.
[5] Der Verfassungsentwurf von 2004 sah dagegen vor, alle damals beigetretenen Mitglieder in der Präambel zu erwähnen, wohl als Ausdruck eines Neuanfangs.
[6] Dokument CHARTE 4170/00 CONVENT 17.
[7] Dokument CHARTE 4332/00, S. 21.
[8] Ebd. S. 24.
[9] Dokument CHARTE 4203/00 CONTRIB 84, Arbeitsgruppe der deutschen Länder; siehe auch Dokument CONVENT 28, CHARTE 4332/00, S. 14.
[10] CHARTE 4332/00, S. 22.
[11] Iris Canor, The Role of the Preamble to the Treaty in the European Court of Justice’s Jurisprudence, in: Werner Meng / Georg Ress / Torsten Stein, Europäische Integration und Globalisierung, Nomos 2011, S. 87, S. 93.
[12] Kiran Klaus Patel, Der Streit um Werte und Normen. Die Präambel des Entwurfs des Verfassungsvertrags von 2003, in: Themenportal Europäische Geschichte, 2017, URL: <https://www.europa.clio-online.de/essay/id/fdae-1711>.
[13] Kiran Klaus Patel, Projekt Europa: Eine kritische Geschichte, München 2018, S. 215.
[14] EuGH, Urteil vom 17.12.1970, Rs. C-11/70 (Internationale Handelsgesellschaft mbH/Einfuhr und Vorratsstelle für Getreide und Futtermittel), Slg. 1970, I-1125, 1135 (Rn. 4); bereits zuvor EuGH, Urteil vom 12.11.1969, Rs. C-29/69 (Stauder / Stadt Ulm), Slg. 1969, 419.
[15] EuGH, Urteil vom 5.2.1963, Rechtssache C-26/62, (van Gend & Loos gegen Niederländische Finanzverwaltung), Slg. 1963, 24; fortgeführt in der Rspr. Urteil vom 15.7.1964 in der Rechtssache 6/64 (Flaminio Costa gegen Enel), Slg. 1964, 1251.
[16] Zitat bei Koen Lenaerts / Moritz Hartmann, Der europäische Rechtsprechungsverbund in der Wirtschafts- und Währungsunion, JZ 2017, S. 321 (322); siehe auch Ruth Weber, DER STAAT 60 (2021), S. 297–334.
[17] Verordnung (EU, Euratom) 2020/2092 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16.12.2020 über eine allgemeine Konditionalitätsregelung zum Schutz des Haushalts der Union.
[18] EuGH, Urteil vom 16.2.2022, C-156/21 (Ungarn/Parlament und Rat).
[19] Siehe Vorschlag COM (2022) 268 final vom 1.6.2022.
Literaturhinweise:
Iris Canor, The Role of the Preamble to the Treaty in the European Court of Justice’s Jurisprudence, in: Werner Meng / Georg Ress / Torsten Stein, Europäische Integration und Globalisierung, Nomos 2011, S. 87-112.
Gabriele D'Ottavio / Martin Conway / Kiran Klaus Patel / Sandrine Kott / Gabriele Metzler / Andreas Fickers / Aline Sierp, New Narratives of European Integration History, Contemporanea 1/2020, S. 99-132.
Rainer Wahl, Die „immer engere Union“. Zur Krise der EU, Merkur 2017, 71. Jg., Heft 812, S. 21-31.
Tom Ginsburg / Nick Foti / Daniel Rockmore, ‘We the Peoples’: The Global Origins of Constitutional Preambles, The Geo. Wash. Int’l Law Review (2014), S. 101–136.