In diesem Essay werden das Theatermanagement und die Wirtschaftsstruktur im Bolschoi-Theater untersucht: erstens als Bestandteile der stalinistischen Kulturpolitik, und zweitens als Ausdruck der institutionellen und wirtschaftlichen Subjektivität des Bolschois. Während das Haus zur Schaubühne der „sowjetischen Oper“ aufstieg, was aber letztendlich scheiterte, entwickelte es eine sehr funktionelle und quantitativ effiziente Wirtschaft, die auf einer, verglichen mit anderen europäischen Fallbeispielen, bedeutenderen Anzahl von Aufführungen und größeren Besucherfrequenz basierte. Wie aus den untersuchten Quellen hervorgeht, erklären Skaleneffekte den Großteil der ökonomischen Performativität des Bolschois. Gleichzeitig waren die Verdienste ungleich und oft bescheiden, und Ur- bzw. Erstaufführungen äußerst selten. Mehr noch, trotz inflationären Drucks der in Industrialisierung begriffenen Wirtschaft zeigte das Bolschoi bedeutende organisationale Widerstandsfähigkeit. Seine zentrale Stellung im stalinistischen Kulturgefüge sicherte dem Haus zweifelsohne die Aufmerksamkeit seitens des Parteistaates. Damit wurde ein einzigartiges Wirtschafts- und Kulturobjekt innerhalb der sowjetischen Kulturindustrie geschaffen: sehr kostspielig und privilegiert, aber auch eine bessere Performanz aufweisend als die meisten zeitgenössischen Institutionen, sowohl in Demokratien als auch in Diktaturen.
Die Nationalsozialisten haben Kunst und Kultur große Aufmerksamkeit geschenkt und früh politisch instrumentalisiert. Sie wollten so auch Anhänger aus bildungsbürgerlichen und kirchlichen Milieus, die den Nationalsozialisten politisch nicht in jedem Falle nahe standen, gewinnen. In diesen Milieus hatte sich seit 1918 ein kritischer Diskurs gegenüber der republikanischen Kulturpolitik und der modernen Kunstentwicklung herausgebildet. Die nach 1918 aufblühende Kunst der Avantgarde war, trotz ihres Prestiges, eine Schöpfung von Außenseitern, die am Rande der etablierten bürgerlichen Gesellschaft blieb und deren Wertordnung in Frage stellte. An die daraus in breiten Teilen des Bildungsbürgertums resultierende Kritik trachteten die Nationalsozialisten anzudocken. Zudem bezogen sich ihre rasseideologischen Vorstellungen besonders nachdrücklich auf den Kunstbereich, was im Begriff der „Entartung“ zum Ausdruck kam. [...]