Das bürokratische Europa zerstöre die europäischen Völker und Nationalstaaten. Dieses von rechtspopulistischen Parteien in Europa kolportierte Narrativ hat eine lange Geschichte, die in den 80er-Jahren von einzelnen Abgeordneten des Europäischen Parlaments zu erzählen begonnen wurde, bis heute weiterentwickelt wurde und mehr und mehr in die europäische Öffentlichkeit getragen wird. Dabei können Europakritik und Euroskeptizismus bis hin zur Europafeindlichkeit je nach Intensität und Absicht als spezifische Ausformung des Populismus gefasst werden. Im Europäischen Parlament sind seit der Direktwahl 1979 euroskeptische Parteien und Fraktionen vertreten. Jedoch verfolgten diese Parteien bisher keine einheitliche politische Agenda, bis auf ihre Kritik an der Europäischen Union als Gesamtkonstrukt. Die vorliegende Deklaration kann als ein Versuch angesehen werden, Geschlossenheit zu demonstrieren, nationenübergreifend, sozusagen „europäisch“ europakritisch aufzutreten und öffentlichkeitswirksam wahrgenommen zu werden.
Das exorbitante Wirtschaftswachstum, das die westeuropäischen Industriestaaten in den 1950er- bis 1970er-Jahren erlebten, wurde von einer umfangreichen Arbeitsmigration begleitet, die diesen Teil des Kontinents zu einer Einwanderungsregion machte. Hatte im 19. und frühen 20. Jahrhundert noch die Auswanderung nach Übersee dominiert, so zogen nun vermehrt nicht nur Arbeitskräfte aus den agrarisch geprägten Peripherien innerhalb, sondern zunehmend auch Menschen von außerhalb des Kontinents in die Industriezentren Europas.
Wer 1942 durch die Straßen von Paris ging und Bekanntmachungen der deutschen Besatzungsmacht und des kollaborierenden Vichy-Regimes sah, stieß immer wieder auf ein Wort: „Europa“ bzw. „L’Europe nouvelle“. Ein halbes Jahrhundert später prägte wieder „Europa“ das Pariser Straßenbild, diesmal anlässlich der Volksabstimmung über den Vertrag von Maastricht 1992. Dort war auf Plakaten unter den Farben der Trikolore zu lesen: „Non à Maastricht – oui à l’Europe des patries“ – unterzeichnet: „Front National“ (FN) bzw. Jean-Marie Le Pen. Lassen sich diese beiden, so verschiedenen Zeiten und Anlässen entstammenden Proklamationen eines geeinten Europa miteinander in Verbindung setzen?
„‚Trajectorism‘ is the great narrative trap of the West and is also, like all great myths, the secret of its successes in industry, empire and world conquest.“ Die Quintessenz der westlichen Epistemologie bestehe, so Arjun Appadurai, in Zielgerichtetheit: Sie sichere den Erfolg des (west-)europäischen Zivilisationsmodells, stelle aber zugleich die größte „Falle“ des (west-)europäischen Selbstverständnisses dar. Appadurai nennt „trajectorism“ das, was andere ForscherInnen als Teleologie bezeichnen. Er versteht darunter die Auffassung der Zeit als einem Pfeil, der in eine präzise Richtung zeigt, sowie von historischen Prozessen und von der Geschichte selbst als Träger eines einheitlichen Telos.
Ich möchte sechs Thesen zum historischen Vergleich der Coronakrise mit früheren Krisen der EU vortragen. Sie behandeln zuerst die schweren Herausforderungen für die Europäische Union: Die historische Neuartigkeit und damit den Überraschungseffekt der Pandemie (These 1), die neuartige Verschärfung der Unterschiede zwischen den Mitgliedsländern (These 2) und die weitere Schädigung der globalen Stellung der Europäische Union (These 3). Sie gehen dann auf der Reaktion der Europäischen Union auf diese Krise ein, auf die Unterstützung durch die Bürger (These 4), auf die Entscheidungen der Union, vor allem der Europäischen Kommission und der Europäischen Zentralbank (EZB), bis Anfang Juni (These 5) und schließlich auf bisherige Veränderungen in der Zusammenarbeit zwischen den europäischen Institutionen (These 6).
Die derzeit weite Teile der Welt beherrschende Corona-Krise, die auch die Europäische Union (EU) und ihre Mitgliedstaaten intensiv beschäftigt, hat eine andere, seit einigen Jahren schwelende Krise der EU etwas in den Hintergrund gedrängt: die sogenannte Brexit-Krise, ausgelöst durch das britische Referendum vom 23. Juni 2016. Kannte die Entwicklung der Europäischen Gemeinschaften (EG) bzw. der späteren Europäischen Union bis dahin nur eine Richtung, nämlich die stetige Erweiterung ihrer Mitgliederzahl, die von ursprünglich sechs zu Beginn der 1950er-Jahre auf 28 im Jahre 2013 anstieg, so markiert die britische Entscheidung, die EU zu verlassen, diesbezüglich erstmals einen Wendepunkt. Die bange Frage kam auf, ob weitere Mitglieder dem britischen Beispiel folgen könnten und die EU schließlich auseinanderbrechen würde.
The first part examines the use of the notion of crisis in depicting and interpreting migration in literature. It argues that the discursive framework of migration crisis began to be increasingly employed by scholars between the late 1980s and early 1990s. While it soon became popular in media and political discourses, the crisis rhetoric was more and more criticised in the academic debate, not least because of the hegemony of liberal and pro-human rights tendencies in Western academia. Between the early 1990s and early 2000s, a prevailing trend in literature emerged, which dismissed the crisis narrative as a reprehensible way to prompt or justify more restrictive approaches to migration.
Das politische Streben nach internationaler Wettbewerbsfähigkeit ist wesentlicher Teil der Geschichte der zweiten Globalisierung. Ob Unternehmen, Universitäten, Städte, Regionen, Staaten, die Eurozone oder die Europäische Union – sie alle wähnen sich im Wettbewerb mit Konkurrenten um Marktanteile, Kapital und Köpfe. Die vorliegende Quelle, ein Auszug aus dem ersten Bericht der Competitiveness Advisory Group (CAG) der Europäischen Kommission von 1995, stammt aus der Hochphase des Paradigmas der internationalen Wettbewerbsfähigkeit. [...]
Energiekrisen begleiten die Moderne. Sie sind zugleich Ausdruck und Folge sich verändernder Produktions- und Verbrauchsmuster in der Moderne. Aus rein ökonomischer Sicht basieren Energiekrisen meist auf einem einfachen Wirkmechanismus, bei dem Verknappung zu Preisanstieg führt. So sind die in der publizistischen Öffentlichkeit viel diskutierten Ölkrisen, die Europa und die Welt in den 1970er-Jahren und erst jüngst wieder in ihrem Bann hielten, treffender mit dem Begriff der Ölpreiskrisen zu beschreiben. [...]
Es ist ein visuell eingängiges Symbol und schnell zu erfassen: ein stilisierter Baum mit runder Krone, geraden Ästen und kräftigen Blättern (vgl. Abb.1). Dieser grüne ‚Tree of Life‘ ist das älteste Markenzeichen europäischen Naturschutzes: das Label des Europadiploms, dessen offizielle Bezeichnung „European Diploma of Protected Areas of the Council of Europe“ lautet. 1965 wurde es aus der Taufe gehoben, um die herausragendsten Naturschutzgebiete im wachsenden Wirkungskreis des Europarates auszuzeichnen. Heute verbindet es so unterschiedliche Landschaften wie die norddeutsche Lüneburger Heide, die italienischen Seealpen, die estnische Meeresbucht von Matsalu, den türkischen Kuscenneti-Nationalpark und das rumänische Donaudelta. Diese Auszeichnung war weder mit Geld noch mit Sanktionsmöglichkeiten, weder mit verbindlichen Standards noch mit Gesetzestextes verbunden. Es handelte sich bei der Verleihung des Europadiploms vornehmlich um Symbolpolitik. [...]
Mit der Finanzkrise in Europa wurde deutlich, wie wichtig staatenübergreifende politische und gesellschaftliche Selbstreflexion für die Kommunikation über die herrschende Situation ist. Voraussetzung für eine solche Selbstreflexion ist das Wissen und die Erinnerung an Ursprünge und Wege. Die Schritte, die zur europäischen Gemeinschaft geführt haben und einen der Kontexte des Essays bilden, sind weitgehend bekannt. Wilfried Loth teilt den Weg zur Europäischen Union in acht Phasen ein. Wir befassen uns mit den ersten beiden Phasen, den Gründerjahren 1948–1957 und den Aufbaujahren 1958–1963, nicht mehr dagegen mit der dritten Phase, der Krisen der Sechser-Gemeinschaft 1963–1969. Wichtige Akteure auf diesem Weg waren die Franzosen Robert Schuman und Jean Monnet, der Italiener Alcide De Gasperi, der Belgier Paul-Henri Spaak und der Deutsche Konrad Adenauer. Sie alle hatten Kriegszeiten wie auch Zwischenkriegszeiten erlebt und sie verband eine kulturelle Aufgeschlossenheit. [...]
Die Gemeinsame Agrarpolitik (GAP) der Europäischen Union (EU) hat bis heute keinen guten Ruf. Dominierte seit den 1960er-Jahren zunächst die Kritik an den Butterbergen und Milchseen, die sie produzierte, so wurden seit den 1980er-Jahren vermehrt die Marktabschottung gegenüber den Entwicklungsländern und die Bevorzugung der konventionellen Landwirtschaft hinterfragt. Reformvorschläge, die es bereits frühzeitig gab, wurden von den Landwirtschaftsministern und agrarischen Verbänden über lange Zeit blockiert. Erst unter dem irischen Agrarkommissar Raymond MacSharry fand 1992 ein Paradigmenwechsel statt. Erstmals wurden die Einkommen der Landwirte nicht mehr nur über den Preis für das Produkt gestützt, sondern auch über Beihilfen, welche jetzt direkt an die Landwirte gezahlt wurden. [...]
Wie kommen wir zu Europa? Auch jenseits der Frage, wie die Europäische Union in Zukunft aussehen soll, interessiert uns, wie sie entstanden ist und warum sie sich so entwickelt hat, wie wir es erlebt haben. Diplomatie- und Wirtschaftshistoriker haben die Antwort auf diese Frage in den Akten der Regierungen gesucht und herausgefunden, was dort zu finden war: Unterschiedliche nationale Interessen, unterschiedliche wirtschaftliche Interessen, unterschiedliche Konzeptionen treffen aufeinander und führen zu schwierigen, mehr oder weniger haltbaren Kompromissen. [...]
Als Resultat ihrer Erweiterung auf inzwischen 28 Mitgliedstaaten zum 1. Juli 2013 ist die heutige Europäische Union (EU) nahezu identisch mit einem geografisch definierten Europa. Das war in der frühen Nachkriegszeit keineswegs so. Vielmehr wurde das „Kerneuropa“ der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS, 1951/52) und der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG, 1957/58) von nur sechs westeuropäischen Staaten gegründet, nämlich Frankreich, Italien, der Bundesrepublik Deutschland, den Niederlanden, Belgien und Luxemburg. Andere demokratisch verfasste Staaten Westeuropas schlossen sich zunächst nicht an. Großbritanniens noch immer enge Wirtschaftsbeziehungen mit dem Commonwealth schienen die Teilnahme an einer europäischen Zollunion auszuschließen, die Schweiz, Schweden und (wenngleich weniger rigide) Österreich lehnten diese Option zunächst als nicht kompatibel mit ihrer Neutralität ab [...]
Die Frage nach der demokratischen Legitimation der Europäischen Union gehört zu den Hauptproblemen der politik- und rechtswissenschaftlichen Europa-Forschung. Daher erstaunt es, dass die Geschichtswissenschaft in dieser Debatte bislang sehr wenig präsent ist. Hier konzentrierte man sich zunächst auf die Erforschung der politischen und wirtschaftlichen Aspekte der europäischen Integration, seit etwa zehn Jahren dominieren gesellschafts- und vor allem kulturgeschichtliche Perspektiven die Forschung. Dabei könnte ein geschichtswissenschaftlich orientierter Zugang zu dem Problem des Demokratiedefizits die Debatte durchaus bereichern. Er könnte fragen, welche Bedeutung das Problem der demokratischen Legitimation in der Gründungsphase der EU, insbesondere bei der Entstehung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) oder auch der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) hatte.
In bemerkenswertem Gegensatz zum altehrwürdigen Konferenzort, dem mittelalterlichen Rittersaal des Binnenhofs zu Den Haag – einem europäischen Erinnerungsort, seit 1948 Winston Churchill dort über den Kongress der europäischen Bewegung präsidiert hatte – gab es auf der Konferenz der Staats- und Regierungschefs der Europäischen Gemeinschaften (EG) am 1. und 2. Dezember 1969 viel Neues. Während einige britische Kommentatoren noch den langen Schatten Charles de Gaulles über den Häuptern der Konferenzteilnehmer wahrzunehmen vermeinten, betonten andere Beobachter bereits im Vorfeld des Gipfels, dass eine neue, jüngere „zweite Generation“ im Begriff war, sich der Geschicke der EG anzunehmen. Die Vertreter der beiden wichtigsten Mitgliedsstaaten waren neu in ihren Ämtern. [...]
„In these troubled times, when our newspapers are full of reports of violence and tragedy, it is reassuring to be able to draw attention to human achievements.” Mit diesen Worten kommentierte der damalige Generaldirektor der europäischen Weltraumagentur ESA (European Space Agency), Erik Quistgaard, im November 1981 in Bremen die Übergabe des ersten, in Europa hergestellten Weltraumlabors an die transatlantischen Partner der NASA (National Aeronautics and Space Administration). „For the last eight years, hundreds of people of different nationalities have been working together to develop Europe’s manned re-usable laboratory, Spacelab. We, in ESA, as driving force behind the programme, are proud to have been associated with them and, by encouraging the development of the very advanced technology needed for this programme, feel we have contributed, in our own specialised field, to forging closer ties between European countries.” [...]
Das exorbitante Wirtschaftswachstum, das die westeuropäischen Industriestaaten in den 1950er- bis 1970er-Jahren erlebten, wurde von einer umfangreichen Arbeitsmigration begleitet, die diesen Teil des Kontinents zu einer Einwanderungsregion machte. Hatte im 19. und frühen 20. Jahrhundert noch die Auswanderung nach Übersee dominiert, so zogen nun vermehrt nicht nur Arbeitskräfte aus den agrarisch geprägten Peripherien innerhalb sondern zunehmend auch Menschen von außerhalb des Kontinents in die Industriezentren Europas. Verbesserte Verkehrsverbindungen und imperiale Freizügigkeitsregime sorgten zudem dafür, dass koloniale und postkoloniale Mobilität zunehmend auch Einwohnern der (ehemaligen) Kolonien möglich war, die nicht als „europäisch“ oder „weiß“ galten: [...]
Am 1. Januar 1999 startete – in Verfolg des am 7. Februar in Maastricht vom EU-Rat unterzeichneten Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft – die dritte Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion (im Folgenden: EWU = Europäische Währungsunion). Elf Mitgliedsstaaten der Europäischen Union führten – zunächst nur als Buchgeld, am 1. Januar 2002 auch als Bargeld – den Euro als gemeinsame Währung ein, ohne gleichzeitig andere Politikbereiche, wie z.B. die Finanz- und Wirtschaftspolitik, zu vergemeinschaften; bis 2013 folgten sechs weitere Länder. Die nationalen Zentralbanken dieser Länder und die Europäische Zentralbank (EZB) bilden das Eurosystem, das für eine einheitliche Geldpolitik im Euroraum zu sorgen hat. [...]
„If we were to start all over again, we would start with culture.“ Dieses Jean Monnet zugeschriebene Zitat erfährt seit den 1980er-Jahren sowohl in der wissenschaftlichen Literatur als auch in öffentlichen Reden, Danksagungen und Grußworten im Kontext der Europäischen Union eine kontinuierliche Aufmerksamkeit. Die Popularität erklärt sich weniger aus dem (nicht vorhandenen) historischen Wahrheitsgehalt als vielmehr aus der Sehnsucht nach einem kulturellen Ursprungsgedanken, der sich stärker am Leitbild eines humanistischen Europabildes orientiert als an rationellen und ökonomischen Entscheidungen. Seine Bedeutung erlangt dieser Ausspruch vor allem auch durch sein Weiterleben in verschiedenen Argumentationszusammenhängen kultureller Programmentwürfe und Interventionen der EU. [...]