Wie ist es möglich, dass eine im verzweigten wissenschaftlichen Netzwerk Zentraleuropas entstandene Wissenschaftstheorie von Zeitgenossen beinahe unbeachtet blieb, mehrere Jahrzehnte später aber, an anderem Ort reformuliert, einen ganzen Wissenschaftszweig revolutionierte? Dazu ist allgemein zu sagen, dass wissenschaftliche Werke nicht ausschließlich durch ihren Inhalt oder neuartige Erkenntnisse berühmt werden, sondern in nicht unerheblichem Maße dadurch, ob und wenn ja wer, wann und wie sie rezipiert. So entschied der Faktor Rezeption maßgeblich die Entwicklung der Wissenschaftssoziologie. [...]
Golo Manns Bildungsweg umspannt Schul-, Studien- und Lehrerfahrungen in Deutschland bzw. Frankreich in den zwanziger und frühen dreißiger Jahren und gewährt Einblick in eine Zeit, in der die Bildungskulturen in den Nachbarländern zunehmend divergierten. Während in Frankreich Bildungseinrichtungen mit dezidiert demokratischer Ausrichtung bereits vor dem Ersten Weltkrieg etabliert waren, setzten sich obrigkeitsstaatliche Traditionen im Bildungswesen der Weimarer Republik weitgehend fort. Demokratische bildungspolitische Ansätze blieben schwach bzw. erlebten nur am Rande eine kurze Blüte. Der Beitrag ordnet die persönlichen, in Memoiren, Tagebüchern und der Korrespondenz Manns widergespiegelten Erfahrungen in den breiteren Rahmen der Bildungskulturen beider Länder zwischen den Kriegen ein und weist auf die Bedeutung interkultureller Bildungserfahrungen für die Persönlichkeitsentwicklung hin.