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  • von Regula Ludi

    Als Überlebende, als Identifikationsfiguren zeitgenössischer Erinnerungspolitik, als Protagonisten der Populärkultur sind Opfer die Helden und Heldinnen unserer Zeit. Mit Rückgriff auf Max Weber könnte man ihre gesellschaftliche Position in der westlichen Welt am ehesten als Status bezeichnen: Dieser stattet Opfer mit anerkannten Ansprüchen aus; er ist mit Tabus belegt und verleiht moralische Autorität; er garantiert Prestige und verbürgt Unschuld. Diese Entwicklung stößt keineswegs auf ungetrübte Freude. Besorgte Stimmen warnen vor der „sentimentalen Solidarität erinnerter Viktimisierung“, und schon seit geraumer Zeit artikuliert sich ein Unbehagen ob der verbreiteten „Sehnsucht Opfer zu sein“. [...]

  • von Philipp Moosdorf

    Im Jahr 1731 brach eine kleine Gruppe Reisender von der Residenzstadt Dresden zu einer ungewöhnlichen Reise auf. Die Gruppe um den zum Expeditionsleiter bestellten Johann Ernst Hebenstreit (1703–1757) sollte im Auftrag August des Starken den afrikanischen Kontinent bereisen, um von dort Tiere für die kurfürstliche Menagerie und Material für die naturwissenschaftlichen Sammlungen des Hofes zu beschaffen.[2] Die beigegebenen Quellen, der Reiseplan Hebenstreits und die Instruktion des sächsischen Hofes, zeigen das Programm der Reise auf. Auffällig ist die wissenschaftliche Zielsetzung der Reise, die der sächsischen Afrikaexpedition den Charakter einer frühen europäischen Forschungsreise gibt. [...]

  • von Heide Lazarus

    Die belgische Tänzerin, Choreografin, Intendantin und Schulgründerin Anne Teresa De Keersmaeker (geb. 1960) hat einen speziellen choreografisch-tänzerischen Stil entwickelt, der sie unverwechselbar und zu einer weltweit gefragten Künstlerin macht. Deshalb wollte auch Daniel Barenboim, der weltweit gefeierte Pianist und Generalmusikdirektor der Berliner Staatsoper, mit ihr einmal zusammen arbeiten. Als De Keersmaeker 2010 ihr Solostück 3Abschied auf der Grundlage des Schlusssatzes von Gustav Mahlers Das Lied von der Erde inszenierte, fragte sie den Maestro für die musikalische Zusammenarbeit an. Er lehnte ab, denn er war der Ansicht, dass Gustav Mahlers sinfonisches Werk und das Thema der Vergänglichkeit nur durch die Musik und niemals mit den Mitteln des Körpers und seiner Bewegungen adäquat interpretiert werden könne. Er verstand nicht, warum sie nicht „tanzbare“ Musik bearbeiten wollte. [...]

  • von Christa Hämmerle

    Für die Zeit zwischen 1933 und 1945 sind Terror, Krieg und Genozid europaweit in verschiedensten autobiografischen Aufzeichnungen bezeugt, die einen ganz spezifischen Blick auf diese Jahre eröffnen können. Dies gilt, obschon unter sehr unterschiedlichen Vorzeichen, für beide Seiten der damals zutiefst gespaltenen Gesellschaft: einmal für jene, die „dazu gehörten“ und das NS-Regime sowie seine Kriegsführung in Europa oft bis zuletzt stützten, obwohl der totale Krieg sie selbst einholte; sowie vor allem für jene, die ausgegrenzt, verfolgt, auf die Flucht und ins Exil getrieben oder ermordet wurden. Gerade unter diesen Menschen evozierte die anhaltende, zerstörerische Krisenerfahrung, die sich immer seltener in direkter Gesprächs- oder Briefform kommunizieren ließ, auch ein intensiviertes Tagebuchschreiben, das zwar an kulturelle Traditionen schriftlicher Selbstthematisierung anknüpfte, sich aber unter den dramatischen Bedingungen zugleich neu ausrichtete. [...]

  • von Angelika Schoder

    Am 3. Januar 1996 wurde in Deutschland der 27. Januar als nationaler Holocaust-Gedenktag von Bundespräsident Roman Herzog proklamiert, nachdem sich die Bundestagsfraktionen bereits im Juni 1995 ohne öffentliche Diskussion und getragen von parteiübergreifender Zustimmung auf den „Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus“ verständigt hatten. Zurückzuführen ist die Etablierung des Gedenktags in Deutschland auf die Initiative deutsch-jüdischer Vertreter, so hatte sich seit 1994 vor allem Ignatz Bubis, der Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, für einen Gedenktag an diesem Datum eingesetzt. Der Holocaust-Gedenktag in Deutschland kann damit zwar als national motiviert betrachtet werden, zielt aber auch auf ein transnationales Erinnern ab, verdeutlicht durch die europäische Bedeutung des dem Tag zu Grunde liegenden historischen Ereignisses. [...]

  • von Jens Späth

    Zwischen 1812 und 1836 nahm die spanische Verfassung von 1812, nach ihrem Entstehungsort auch Verfassung von Cádiz genannt, eine Modellfunktion für den Frühliberalismus ein. Im Vergleich zu anderen zeitgenössischen Verfassungen wie der an das englische Vorbild angelehnten sizilianischen Verfassung von 1812 oder der französischen Charte constitutionnelle von 1814 bestach sie durch ihren progressiven Charakter. Ihre größte Wirkung erreichte sie, als in der ersten nachnapoleonischen Revolutionswelle in Europa 1820–1823 vier südeuropäische Staaten ebendiesen Verfassungstext als oberste Norm einführten. [...]

  • von Roberto Sala

    Die gegenseitige Wahrnehmung Italiens und Deutschlands ist ein immer wiederkehrendes Thema für Historikerinnen und Historiker, die sich den deutsch-italienischen Beziehungen oder – je nach Standpunkt des Beobachters – der Geschichte des jeweils anderen Landes widmen. Als Forschungsobjekt ermöglichen es „Bilder“, die Mechanismen nationaler Diskurse zu entlarven und somit das Verhältnis zwischen zwei Staaten bzw. deren Bevölkerungen zu beleuchten. Ihre Untersuchung birgt jedoch gravierende theoretische und methodische Schwierigkeiten, wenn auch einschlägige Studien diese weitgehend verkannt haben. Der vorliegende Beitrag bezieht sich auf eine Leerstelle in den Untersuchungen über das deutsche Italienbild, auf „populäre“ Betrachtungsweisen. [...]

  • von Thomas Pegelow Kaplan

    Activists in the European student and youth revolts of the 1960s made extensive use of leaflets and posters as tools to voice their criticism and increase their support. Cheaply and quickly produced, these communication tools played an unmatched role in creating a counter-public sphere that challenged mainstream political discourses and practices. Today, some of these protest documents have assumed the status of media icons that decisively shape collective memories of the past revolts. From the start, scholarship on the 1960s protests has widely relied on these sources. Scholarly works continue to benefit from the large collections of flyers and posters that movement activists and staff members of university, city, and state archives across Europe have assembled. Since the 1990s, scholars, including, finally, a growing number of historians, have re-examined these revolts in European-wide and global contexts. [...]

  • von Ljiljana Radonic

    Es ist keineswegs erstaunlich, in der Ausstellung einer KZ-Gedenkstätte ein antisemitisches Plakat aus dem Jahr 1942 zu finden. Dennoch fallen an diesem Exponat und dem Kontext, in dem es steht, zwei Dinge auf. Erstens die Bildunterschrift zu dem „propagandistisch-hetzerischen“ Ausstellungsplakat, die seit der Eröffnung der neuen Ausstellung in der KZ-Gedenkstätte Jasenovac im Jahre 2006 das Exponat untertitelt: „Die Ustascha- und Nazipropaganda über die zerstörerische Wirkung von Juden wird durch die Tatsache widerlegt, dass in den ersten vier Jahrzehn­ten des zwanzigsten Jahrhunderts Architekten und Bauunternehmer jüdi­scher Abstammung zahlreiche wichtigste öffentliche und Wohngebäude im Zentrum Zagrebs errichtet haben.“ [...]

  • von Leyla von Mende

    Klagen um „Europäisierungsmißstände“ im Osmanischen Reich des 19. und frühen 20. Jahrhunderts könnten aus der Feder des osmanischen Schriftstellers und Bürokraten Ahmet Hikmet Müftüoglu stammen, dessen Kurzgeschichte Yegenim (Mein Neffe) dieser Essay im Folgenden behandelt. Doch findet man diesen Begriff in Wirklichkeit in einer Rede des deutschen Orientalisten Carl Heinrich Becker, die er 1916 unter dem Titel „Das türkische Bildungsproblem“ in Bonn an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität hielt. [...]

  • von Christopher Kopper

    Während der Vertrag von Maastricht und die Einführung einer gemeinsamen europäischen Währung umfassende Aufmerksamkeit in der historischen Forschung erfahren haben, wurden die dafür notwendigen institutionelle Voraussetzungen in Gestalt des europäischen Binnenmarktes für Waren und Dienstleistungen bislang nur wenig beachtet. In den Überblicksdarstellungen zur Geschichte der Europäischen Union wird der politischen Grundlagenentscheidung, der Einheitlichen Europäischen Akte, und der Implementierung des Binnenmarktes nur einige Seiten gewidmet. [...]

  • von Alexandra Przyrembel

    Bei Die Lage der arbeitenden Klasse in England von Friedrich Engels (1820-1895), 1845 erschienen, handelt es sich um eine mehrere hundert Seiten lange Schrift, in welchem die Arbeits- und Lebensbedingungen des britischen Proletariats von Manchester über London bis nach Edinburgh beschrieben werden. Seine Bilanz der Notlage umfasst neben der Schilderung der städtischen Armut und der irischen Einwanderung auch die »Stellung der Bourgeoisie zum Proletariat«, so der Titel des letzten Kapitels. Von dem Kommunisten Wlademir Lenin (1870-1924) als ein »hinreißend geschriebene[s] Buch« bezeichnet, das die »überzeugendsten und erschütterndsten Bilder vom Elend des englischen Proletariats« entwerfe, kann Engels‘ Schrift zu Recht als ein Klassiker der Arbeiterliteratur gelten.[...]

  • von Ines Prodöhl

    Wer sollte in einer amerikanischen Enzyklopädie mehr gewürdigt werden: der General des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges, Richard Montgomery, oder Niccolò Paganini, der italienische Violinist? 1832 beklagte ein Rezensent im „New-England Magazine“, dass sich die „Encyclopedia Americana“ für den Fiedler entschieden hatte und nicht für den Helden der Revolution. Letzterer hatte im Vergleich mit Paganini nur ein Drittel des Raumes zugesprochen bekommen. Nach Ansicht des Rezensenten, dessen Name nicht bekannt ist, geschah es häufiger, dass eine bedeutende Person der amerikanischen Öffentlichkeit in eben jenem Werk zu wenig berücksichtigt wurde.[...]

  • von Christian Henrich-Franke

    Der Bericht des Spiegel über das ‚Europa-Programm’ erschien am 2. Juni 1954 unmittelbar vor dem Auftakt zu der ‘Summer Season of European Television Programme Exchanges’, welche den Startschuss für den (west-) europäischen Austausch von Fernsehprogrammen über das Sendenetz der Eurovision gab. Wie viele andere Presseberichte auch äußerte sich der Spiegel kritisch hinsichtlich des europäischen Fernsehprogrammaustauschs. Der Bericht spiegelt die Skepsis wieder, die dem neuen Medium Fernsehen generell und in besonderem Maße dem internationalen Austausch im Rahmen der Eurovision entgegengebracht wurde. Gleichzeitig wird in ihm eine Reihe von rechtlichen, programmatischen und wirtschaftlichen Aspekten angesprochen, die die Eurovision in ihrer Entwicklung entscheidend prägen sollten. [...]

  • von Anne Mariss

    In den letzten Jahren ist insbesondere durch die kulturgeschichtliche und literaturwissenschaftliche Forschung die Bedeutung von Reiseberichten in der Frühen Neuzeit als Quelle für die europäische Selbst- und Fremderfahrung im Zuge der Expansion Europas seit dem 16. Jahrhundert herausgearbeitet worden. Dies schlägt sich in einer Fülle von Publikationen zu dem Thema nieder. Bis auf wenige rezente Ausnahmen hat diese textzentrierte Forschung jedoch die Bedeutung der Bilder, die während und nach den europäischen Entdeckungsfahrten entstanden sind, vernachlässigt. Erst durch den Iconic Turn, also die Hinwendung zu grafischen Darstellungen als Teil der alltäglichen Wirklichkeitskonstitution, werden Bilder im Prozess des „othering“ in der Forschung thematisiert. [...]

  • von Roland Wenzlhuemer

    In den Jahren 1902 und 1903 schafften es zwei gänzlich unterschiedliche Akteursgruppen knapp hintereinander jeweils ein Telegrafenkabel durch den Pazifik zu ziehen. Das etwas frühere Kabel wurde durch das so genannte Pacific Cable Board, an welchem Großbritannien und die Kolonialregierungen in Kanada, Neuseeland und Australien beteiligt waren, verlegt und betrieben. Es verband British Columbia über Fanning Island und Fiji mit Norfolk Island, von wo jeweils ein Strang nach Australien und Neuseeland weiterführte. Nur ein Jahr später eröffnete die private Commercial Pacific Cable Company eine telegrafische Verbindung von San Francisco über Honolulu nach Manila. Die Fertigstellung dieser beiden Projekte komplettierte in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts die telegrafische Umrundung der Welt. [...]

  • von Daniel Roger Maul

    Die ausgewählte Quelle ist in mancher Hinsicht das Dokument eines Scheiterns. Fridtjof Nansens flammender 1921 an die Mitglieder des Völkerbunds gerichteter Appell, der Sowjetunion im Angesicht einer gewaltigen Hungersnot Regierungskredite zu gewähren, verhallte ungehört. Gleichzeitig steht die Rede Nansens am Ausgangspunkt eines der größten vor allem von privaten Initiativen getragenen humanitären Hilfseinsätze des 20. Jahrhunderts. Er vereinte private Hilfsorganisationen unterschiedlicher geografischer und politischer Herkunft in ihren Bemühungen; auf dem Höhepunkt wurden täglich bis zu 11 Millionen Menschen mit Nahrung, Kleidung und Medizin versorgt, in einem Gebiet, das sich in etwa von Kasan im Norden Russlands bis zu den Mündungen von Wolga und Don im Schwarzen und Kaspischen Meer über nahezu tausend Kilometer erstreckte.[...]

  • von Rainer Metz

    Abbildung 1 zeigt den Verlauf der Roheisen- und Bleierzeugung pro Kopf der Bevölkerung in England von 1844 bis 1914 in der Form, wie sie der russische Ökonom Nikolaj Kondratieff (1892-1938) berechnet und als Indiz für die Existenz langfristiger Konjunkturzyklen, den sogenannten Langen Wellen, verwendet hat. Zur Berechnung der in Abb. 1 dargestellten Reihen hat Kondratieff zunächst den Säkulartrend mit Hilfe deterministischer Funktionen der Zeit geschätzt, die resultierenden Werte dann von der Originalreihe subtrahiert und schließlich das Ergebnis als Prozentabweichungen vom Säkulartrend ausgedrückt. Die prozentualen Abweichungen hat er zudem noch mit einem 9jährigen gleitenden Mittelwert geglättet um die kurzfristigen Konjunkturschwankungen auszuschalten. Das Ergebnis dieses Vorgehens zeigt die Abb. 1, die in dieser Form auch in seiner Publikation von 1926 enthalten ist, hier aber aus den von ihm verwendeten Reihen berechnet wurde. [...]

  • von Andreas Renner

    Ein holländischer Kupferstich aus dem Jahr 1725 zeigt den russischen Zaren Peter I., besser bekannt als der Große, als allegorische Heldengestalt. Obwohl Peter in diesem Bild einmal mehr in Rüstung mit Lorbeerkranz auftritt, steht er nicht als siegreicher Imperator im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, sondern als Förderer westeuropäischer Wissenschaft und Technik. Er öffnet seinem Land mit großzügiger Geste einen Zugang zu diesem Wissen, das er selbst in Westeuropa kennen und schätzen gelernt hat und von dem er Belegstücke nach Russland gebracht hat. [...]

  • von Patrick Bernhard

    Am 1. April 1936 unterzeichneten der Chef der Deutschen Polizei, Heinrich Himmler, und sein italienischer Amtskollege Arturo Bocchini in der Reichshauptstadt Berlin eine folgenschwere geheime Übereinkunft: das sogenannte deutsch-italienische Polizeiabkommen. Das Abkommen und die beiden kurz darauf folgenden Zusatzvereinbarungen sahen eine ausgesprochen enge Kooperation bei der internationalen Verbrechensbekämpfung vor, die weit über das bis dahin gekannte Maß zwischenstaatlicher Polizeizusammenarbeit hinausgehen sollte. Der Vertragstext beinhaltete nicht nur einen umfassenden gegenseitigen Informationsaustausch über verdächtige Personen. Insbesondere die Vereinbarung, dass die Polizeikräfte beider Länder Verdächtige unter „Ausschaltung diplomatischer Verhandlungen“ außer Landes verbringen durften, brach mit den Grundsätzen des damals geltenden internationalen Auslieferungsrechts. Allen Akteuren war damals klar, dass es dabei um staatlich legalisierte Verschleppung über die Landesgrenzen hinweg ging. [...]

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