Als Eva Reichmann 1981 auf die Frage antwortete, wie sie denn ihr Selbstverständnis beschreiben würde, sagte sie als erstes: „das ist eine sehr komplizierte Sache.“ Und in der Tat war es für sie, als liberale Jüdin, die 1939 aus Deutschland vertrieben worden war, außerordentlich schwierig, sich eindeutig zu einem Land zu bekennen geschweige denn sich mit ihm zu identifizieren. Die Gewalterfahrung der Juden in Europa zwischen 1933 und 1945, die die Überlebenden in ihre persönliche Biografie integrieren mussten, fügten – auch im Fall von Eva Reichmann – eine schwere Hypothek hinzu. Denn schließlich waren den deutschen und später allen Juden im von Deutschland besetzten Europa die Bürgerrechte und die persönliche Freiheit sowie schließlich die körperliche Unversehrtheit genommen worden. Die Einführung ungleicher Bürgerrechte im Zuge der so genannten Nürnberger Gesetze1935 sowie die Aberkennung der Staatsangehörigkeit insgesamt waren Schritte in einem umfassenden Entrechtungsprozess. [...]
Europa heißt das Zauberwort, mit dem Unternehmerinnen im Westeuropa der Nachkriegszeit ihren Zusammenschluss zu einem Europäischen Unternehmerinnenverband begründeten und die Ernsthaftigkeit ihres Unterfangens demonstrierten. Mit dem Kalten Krieg war Europa seit 1948 der Schlüsselbegriff in der westlichen Sicherheits- wie Wirtschaftspolitik, Europa war Chiffre für Frieden und Wohlstand und die Unternehmerinnen bewiesen ihre staatsbürgerliche Verantwortung, indem sie sich für diese Ziele einsetzten. Europa als Grundlage und Ziel des Verbandes signalisierte Bedeutung und Stärke, und die Unternehmerinnen nahmen beides gerne an. Im Grunde vollzogen sie für Unternehmerinnen den europäischen Verbandszusammenschluss, den 1950 die von Unternehmern dominierten industriellen Spitzenverbände mit der Formierung zum Rat der Europäischen Industrien praktizierten. [...]
1943/44 verfasste die im Schweizer Exil lebende deutsche Sozialistin und Reformpädagogin Anna Siemsen (1882-1951) den Aufsatz „Die Frau im neuen Europa“. In diesen Ausführungen appellierte sie vor allem an die Frauen, sich zum Ende des Krieges für eine gemeinsame soziale Aufbauhilfe in Europa zusammenzuschließen. Durch Hilfe zur Selbsthilfe sollte ein künftiges gemeinsames Arbeiten der europäischen Länder möglich werden. Damit, so Siemsen, könne ein europäisches Bewusstsein geweckt werden – ein Gefühl der Solidarität zwischen den Völkern Europas, das sie als unabdingbar für eine europäische Einigung und für einen dauerhaften Frieden betrachtete. Siemsen sah Frauen aufgrund ihrer spezifisch weiblichen Eigenschaften und ihrer spezifisch weiblichen Kriegserfahrung für diese Aufgaben als prädestiniert an. Indem sie auf diese Weise die umfassende politische Veränderung Europas mit fürsorgepolitischen Überlegungen verband, skizzierte sie zugleich eine weibliche Europa-Vorstellung. [...]
Im Vorfeld der Olympischen Spiele von 1972 veröffentlichte die Medizinische Kommission des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) ein zweisprachiges Faltblatt unter dem Titel „Le contrôle de féminité/Sex control“, das die in Sapporo und München durchzuführenden Geschlechtertests reglementierte. Die Medizinische Kommission des IOC unter dem Vorsitz des belgischen Adeligen Alexandre de Merode (1934-2002) war 1967 ins Leben gerufen worden. Sie bildete das Resultat mehrjähriger Debatten innerhalb der IOC-Gremien, wie dem Problem des Dopings im olympischen Sport zu begegnen sei. Kurzfristig wurde die Medizinische Kommission mit einer zusätzlichen Aufgabe betraut: Sie sollte durch geeignete Kontrollen sicherstellen, dass die Teilnehmerinnen bei Frauenwettbewerben tatsächlich Frauen sind. [...]
Als der deutsche Außenminister Hans-Dietrich Genscher den Plan, den er zusammen mit seinem italienischen Amtskollegen Emilio Colombo entwickelt hatte, am 19. November 1981 im Europäischen Parlament vorstellte, wusste er bereits, dass er nicht auf ungeteilte Zustimmung stoßen würde: „Ich könnte mir denken, daß dieses Hohe Haus am ehesten kritisieren wird, daß unser Entwurf für eine Europäische Akte nicht weit genug geht“, räumte er ein und appellierte, man solle aber „die Wirkungen der Initiative nicht gering schätzen“. Auch Colombo, der nach Genscher sprach, kündigte an, die Außenminister würden es „nicht übel nehmen“, wenn den Parlamentariern der Vorschlag zu klein erscheine. Die Erwiderung, mit der der italienische Abgeordnete Altiero Spinelli ihnen antwortete – Colombo hatte den Plenarsaal inzwischen allerdings schon wieder verlassen –, bezog sich jedoch nicht nur auf die Frage größerer oder kleinerer Ambitionen. [...]
In den 1970er Jahren forderten kritische bulgarische Intellektuelle, wie die Schriftstellerin Blaga Dimitrova, der Satiriker Radoj Ralin und der Maler Georgi Baev, eine Revision der dogmatischen Kulturpolitik und den offenen Dialog mit Ländern verschiedener politischer Systeme. Diese vorerst kleine Bewegung erhielt massiven Auftrieb, als Ljudmila Živkova, die Tochter des Staats- und Parteichefs Todor Živkov, die Leitung des Ministeriums für Kultur übernahm und sich auf der nationalen und internationalen Bühne für die Entdogmatisierung der marxistisch-leninistischen Kulturpolitik und die Öffnung und Internationalisierung des kulturellen Lebens einsetzte.
Es ist ein Bild von geradezu unmoderner Ruhe und Klarheit: Die runde, mit einem Blick überschaubare Erde, harmonisch eingebettet in die Weiten des Kosmos – und doch nicht geometrischer Mittelpunkt der Welt. Der biblisch vorgeprägte Betrachter mag darin vor allem ein Symbol für die gute Schöpfungsordnung Gottes erkennen; der historisch Versierte möglicherweise ein Sinnbild für den zu Beginn des 20. Jahrhunderts herrschenden Fortschrittsglauben und Optimismus.
In bemerkenswertem Gegensatz zum altehrwürdigen Konferenzort, dem mittelalterlichen Rittersaal des Binnenhofs zu Den Haag – einem europäischen Erinnerungsort , seit 1948 Winston Churchill dort über den Kongress der europäischen Bewegung präsidiert hatte – gab es auf der Konferenz der Staats- und Regierungschefs der Europäischen Gemeinschaften (EG) am 1. und 2. Dezember 1969 viel Neues. Während einige britische Kommentatoren noch den langen Schatten Charles de Gaulles über den Häuptern der Konferenzteilnehmer vermeinten wahrzunehmen , betonten andere Beobachter bereits im Vorfeld des Gipfels, dass eine neue, jüngere „zweite Generation“ im Begriff war, sich der Geschicke der EG anzunehmen.
Der Regimewandel in Ostmittel- und Südosteuropa 1989 und die Implosion der Sowjetunion samt Hegemonialsphäre 1991 haben im Bereich der Geschichtswissenschaft gleich zwei gravierende Folgen gezeitigt: Zum einen haben Historikerinnen und Historiker im östlichen Europa an präkommunistische Historiographietraditionen angeknüpft sowie den Anschluss an internationale Standards und Trends gesucht. Und zum anderen hat die internationale Geschichtsforschung ein neues Interesse an der Geschichte des östlichen Europa im Allgemeinen und an seiner geschichtswissenschaftlichen Produktion im Besonderen entwickelt.
The General Assembly of the United Nations approved the Universal Declaration of Human Rights on 10 December 1948. This document reflected a very widely shared sense of revulsion at the crimes committed by the Hitler state in its period in power from 1933-45. Without the Second World War, this document would never have been drafted, let alone approved by communist and non-communist countries alike. This non-binding statement of principles set in motion other measures which established legal sanctions for human rights violations by states. Regional conventions on human rights were signed in Europe, Latin America and Africa. In 1966, the United Nations agreed two covenants on human rights, one on social and economic rights and a second on civil and political rights. Ten years later these came into force as instruments of international law. [...]
Als Symptome eines vehementen und rapiden Bedeutungsverlustes von Kirche und kirchengebundener Religion in Deutschland wurden die zunehmenden Kirchenaustritte und gesellschaftliche Entwicklungen wie ansteigende Scheidungszahlen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gesehen. Der vorliegende Beitrag rekonstruiert dagegen die Diskurse der Zeit, um die Stellung der Kirche in der Gesellschaft kommunikationsgeschichtlich zu analysieren. Dabei werden zum einen die Politische Theologie und ihre zentralen Deutungsmuster, Leitbegriffe und Argumentationsweisen und daraus resultierende semantische Verschiebungen betrachtet. Zum anderen werden die historischen Bedingungen in den Blick genommen, unter denen die „Wende zur Welt“ der Kirche zu einem gesellschaftlich relevanten Thema wurde. Die Präsenz des Themas in der damaligen Presse wird zu einem Beleg für die gesellschaftliche Relevanz von Kirche und Religion um 1968.
Die Frage nach der demokratischen Legitimation der Europäischen Union gehört zu den Hauptproblemen der politik- und rechtswissenschaftlichen Europa-Forschung. Daher erstaunt es, dass die Geschichtswissenschaft in dieser Debatte bislang sehr wenig präsent ist, hier konzentrierte man sich zunächst auf die Erforschung der politischen und wirtschaftlichen Aspekte der europäischen Integration, seit etwa zehn Jahren dominieren gesellschafts- und vor allem kulturgeschichtliche Perspektiven die Forschung. Dabei könnte ein geschichtswissenschaftlich orientierter Zugang zu dem Problem des Demokratiedefizits die Debatte durchaus bereichern. Er könnte fragen, welche Bedeutung das Problem der demokratischen Legitimation in der Gründungsphase der EU, insbesondere bei der Entstehung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl oder auch der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft hatte. [...]
Der Essay des ungarischen Schriftstellers György Konrád „Mein Traum von Europa“ steht neben Milan Kunderas berühmten Diktum vom „occident kidnappé“ (1984) am Beginn einer intensiven Diskussion über Mitteleuropa. Diese beschäftigte während der achtziger Jahre dissidente und exilierte Intellektuelle und Künstler in und aus der Tschechoslowakei, Ungarn, Polen, teilweise auch der DDR, aber ebenso zunehmend westliche Intellektuelle und Politiker. Dabei ging es im Allgemeinen um die Identität und Einheit Europas und im Besonderen um das Selbstverständnis jener Länder, die damals im sowjetischen Einflussbereich lagen, historisch jedoch auf eine lange Geschichte der Verbundenheit mit dem westlichen Europa zurückblicken konnten. [...]
Der moderne Fußball entwickelte sich zuerst in Europa, verbreitete sich jedoch schon vor 1914 auch nach Übersee und wird heute in allen Ländern der Erde gespielt. Der europäische Fußball gewann vor dem Hintergrund dieses Verbreitungserfolgs auf zweifache Weise an Profil: zum einen durch die zunehmende Intensität des sportlichen Austausches innerhalb Europas, zum anderen durch die Verteidigung der sportlichen und sportpolitischen Vorherrschaft gegenüber den außereuropäischen Neulingen.[...]
In einer Zeit vermehrter deutsch-amerikanischer Irritationen einerseits und fortschreitender europäischer Integration andererseits ist es von besonderem Interesse, sich die Konstellation in Erinnerung zu rufen, die die Entwicklung gemeinsamer europäischer Institutionen ermöglichte, und dabei die Rolle zu beleuchten, die die USA hierbei spielten. Ein streng geheimes Grundsatzpapier des amerikanischen State Department vom März 1949 ist hierzu sehr gut geeignet, weil es die Grundlinien der amerikanischen Politik gegenüber Europa klar herausarbeitet und zeigt, wie eng der Zusammenhang zwischen der Lösung des „deutschen Problems“ und der europäischen Integration in Washington gesehen wurde.[...]
Mythen haben eine lange Lebensdauer. Vor allem, wenn sie ihren Ursprung in politischen Urteilen einer Epoche haben, und wenn Zeitzeugenwertungen später als Quellen verwendet werden und kaum oder gar nicht geprüft als Belege für historische Interpretationen dienen. So ergeht es immer noch gelegentlich auch der Struktur der deutsch-französischen Beziehungen seit dem Zweiten Weltkrieg, obgleich die Forschung seit über zwei Jahrzehnten weit vorangeschritten ist.[...]
Am Nachmittag des 9. Mai 1950, einem Dienstag, verlas der französische Außenminister Robert Schuman um 18 Uhr vor eiligst in den Uhrensaal des Quai d’Orsay eingeladenen Pressevertretern die nach ihm benannte Erklärung, die das Gesicht Europas verändern sollte. Konzeptioneller Urheber der Erklärung war Jean Monnet, damals Vorsitzender des Commissariat général au Plan. Schuman hatte den Vorschlag übernommen, und er hat ihn gegen starke Widerstände in Frankreich politisch durchgesetzt.[...]
Als Resultat ihrer Erweiterung auf inzwischen 27 Mitgliedstaaten zum Jahreswechsel 2007 ist die heutige Europäische Union (EU) nahezu identisch mit einem geographisch definierten Europa. Das war in der frühen Nachkriegszeit keineswegs so. Vielmehr wurde das „Kerneuropa“ der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (1951/52) und der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG, 1957/58) von nur sechs westeuropäischen Staaten gegründet, nämlich Frankreich, Italien, der Bundesrepublik Deutschland, den Niederlanden, Belgien und Luxemburg. Andere demokratisch verfasste Staaten Westeuropas schlossen sich zunächst nicht an. Großbritanniens noch immer enge Wirtschaftsbeziehungen mit dem Commonwealth schienen die Teilnahme an einer europäischen Zollunion auszuschließen, die Schweiz, Schweden und (wenngleich weniger rigide) Österreich lehnten diese Option zunächst als nicht kompatibel mit ihrer Neutralität ab [...]
Die Dramatik des Kalten Krieges in seiner heißesten Phase um 1950 kann man sich überhaupt nicht krass genug ausmalen. Demoskopisch immer wieder ermittelt, erwartete die Mehrheit der Westdeutschen den Ausbruch eines dritten und mit atomaren Waffen ausgetragenen Weltkriegs in naher Zukunft. Man wähnte sich lediglich in einer kurzen historischen Atempause zwischen zwei planetarischen Waffengängen. Der ferne Korea-Krieg, der am Anfang eines beispiellosen Exportbooms stand, führte in der Bundesrepublik zu angsterfüllten Hamsterkäufen. Das Wohnen in Hochhäusern wurde von manchen Experten abgelehnt, weil jene leichte Ziele für feindliche Flieger böten. Dem Kalten Krieg korrespondierte eine in allen westlichen Ländern dominierende culture of fear. [...]
Der Marshall-Plan war ein bedeutender Faktor des westdeutschen und europäischen Wiederaufbaus nach dem Zweiten Weltkrieg. Das amerikanische Engagement für den Wiederaufbau Europas und insbesondere Deutschlands war in der unmittelbaren Nachkriegszeit innerhalb der USA jedoch zunächst umstritten. Voraussetzung für einen fruchtbaren deutsch-amerikanischen Wirtschaftsaustausch und für die Bereitschaft der Amerikaner zur Unterstützung des deutschen Wirtschaftsaufbaus ab etwa 1947 war eine Abkehr von der restriktiven Politik der direkten Nachkriegszeit hin zu konstruktiveren wirtschaftspolitischen Konzepten, die sich ebenso an der Steigerung der Produktion und der Produktivität deutscher und europäischer Unternehmen und der Landwirtschaft orientierte wie an deren Wiedereingliederung in die Weltwirtschaft. [...]