Reiseerinnerungen und Reflexionen eines rheinischen Gerbergesellen . 1836/38

[Wien:] Den 3. April besuchte ich den Schlosspark von Hellbrunn, der mit schönen Wasserkünsten versehen ist, woran Gruppen aus Marmor stehen, davon man meint, sie seien gerad aus dem Wasser gestiegen und suchten Kühlung im Schatten der Bäume, so glänzte der Wasserstaub auf dem weißen Stein.[...]

Reiseerinnerungen und Reflexionen des rheinischen Gerbergesellen Johann Eberhard Dewald (1836/38)[1]

[Wien:] Den 3. April besuchte ich den Schlosspark von Hellbrunn, der mit schönen Wasserkünsten versehen ist, woran Gruppen aus Marmor stehen, davon man meint, sie seien gerad aus dem Wasser gestiegen und suchten Kühlung im Schatten der Bäume, so glänzte der Wasserstaub auf dem weißen Stein. Darnach hatte Salzburg nit mehr viel für mich, und wir zogen weiter über Neumark nach Schallheim auf Linz zu, wohin ich mir hatte visieren lassen. Über Grünfeld kamen wir nach Wels, durch das die neue Eisenbahn nach Linz fährt. Das war mir ein gänzlich unerwarteter Vorfall und hätte sie für mein Leben gern gesehen. Ging aber diesen Tag nit, indem sie nur dreimal die Woche fuhr. So nahm uns denn ein Lohnkutscher für 12 Kreuzer in das Quartier mit. Über der Fahrt schandierte er weidlich über die neue Erfindung, die der Teufel ausgeheckt hätte. Jedem ehrlichen Fuhrmann käme sein knapper Lohn nun ganz und gar abhanden und bei ihm wär es schon so, dass er sein Weib und die acht Kinder nit mehr satt bekäme. Was in aller Welt das noch werden sollt? Die Welt würd ein Narrenhaus, und alles wär wild auf Neumodisches und Maschinenzeugs, und was ordentlich war und ehrlich gegolten hat seit altersher, das ist nun nichts mehr und nur noch zum Lachen. Doch käm bei der ganzen Klugheit nur heraus, dass nit genug zum Essen bliebe.

Habe mir das Schänden hier ausführlich vermerkt, weil solcherweis immer Ade gesagt wird zu allem, daran wir gewohnt, und das Neue immer als übel gilt, wo es doch manchen Gewinn hat.

Das fiel mir sonderlich bei, als wir anderen Tages von Sonnfeld mit der Eisenbahn fuhren, und viele nach uns noch fahren werden. Ist ein wunderliches Gefühl, mit sausender Schnelligkeit dahinzufahren und Minuten für Wege zu brauchen, daran man wohl sonst einen halben Tag marschiert. Ist dabei allerdings nit sehr erquicklich, vom Rauch und Ruß des Dampfers überschüttet zu werden, die einem der Wind in das Gesicht treibt. Zum Glück waren Zelltücher über die Wagen gespannt, weil man sonst nit mehr menschlich ausgesehen, denn der Qualm war schon fast kaum zu ertragen. Mühelos langten wir halber zehn in Linz an. [...]

[Prag:] In der Pollakischen Fabrik, die nun meine Werkstatt war, traf ich zu meiner Freude einen Landsmann. War mir aber doch neu und bisher nit unterlaufen, dass ich nit beim Meister logieren sollte. Wäre aber wohl ein schwieriges Stück, wenn die vielen Gesellen der Pollakischen Fabrik ein gemeinsames Losament finden sollten, zumal nit wenig verheiratet waren und Kinder hatten. Ist überhaupt in einer Fabrik, wie der hiesigen, anders als in einem meisterischen Hause und kein Zusammenhalt nit unter den anderen. Eine zunftmäßige Aufführung ist überall unter den Kollegen nit zu finden und kein Umgang, wie unter ordentlichen Gesellen. Zudem gefällt mir das Arbeiten nit, dieweil jeder den langen Tag die gleiche Arbeit verrichten muß und dabei das Ganze aus den Augen verliert. Muß wohl in einer Fabrik solcherweis geschehen, kann mich aber nit darain schicken und mein immer, ich triebe mein Gewerb nur halb.

Gefiel mir die Arbeit nit, so noch viel weniger der Umgang mit den Böhmerleut, die eine andere Sprache reden und dabei so hinterhältig waren, wie es nur zu denken ist. Wegen meiner Arbeit, die ich mit allem Fleiß tat, verlachten mich meine Mitgesellen und redeten einher, als wär es gerad recht, soviel wie möglich zu faulenzen. Der Pollak sei ein Reicher und zahle schlecht genug. Ich verfiel aber nit auf ihr Gered und gab ihnen gut Antwort: ein Reicher hätt nit minder Sorgen, nur anderer Art und müsst fleißig zusehen, dass seine Fabrik vorankäm, und nit eines Tages die Arbeit fehle, und die Gesellen nit weiter vonnöten seien. Da machten sie Gesichter! Weiß ich doch von des Herrn Vaters Werkstatt, wie er manchen Abend gerechnet und kalkuliert und mir seine Zahlen gewiesen, das ihm das Leder nit zu teuer komme, und mit dem Lohn einen Preis gebe, der ihm ein Auskommen und gute Käufer erhielte. In der Zeit machten die Gesellen im Haus lang ihren Feierabend und wussten wenig von den Sorgen, die durch des Herrn Vaters Kopf gingen. Doch was verschlägt alles Reden, so einer nit hören will. Es ist schad um die Müh und wird nur noch ärger. […]

[Wieder in Deutschland:] In Wangen schaute ich um und erhielt wieder ordentlich ein Zeichen. Ist hier in Deutschland doch noch ein zunftmäßiger Brauch, und wird nit als ein Bettler genommen, so man sein Zunftrecht übt. […]

In Ulm fand ich einen alten Zunftbrauch noch in der Übung, indem nämlich die Gesellen beim Umschauen nit nur ein Meisterzeichen, sondern auch ein Stadtzeichen erhielten, wie es mancherorts noch gegeben wird. Dem Herrn Vater ist das allenthalben unterlaufen und war eine allgemeine Sitte, die nun nit mehr weiter getrieben wird. [...]

In Roth und Schwabach liefen wir die Meister ab und trafen am 12. Juli 1838 in Nürnberg ein. Wollten wir den Dampfer [die Eisenbahn, W. F.] nach Fürth noch erreichen, so blieb uns wenig Zeit. [...]

An diesem Tage gab es nun nichts mehr zu fahren. Da ich aber allein nach Nürnberg gegangen, um den Dampfer durchaus zu probieren, welches mir erst einmal in meinem Leben damalen in Linz geglückt, wir aber andererseits nit länger als vierundzwanzig Stunden hier verweilen durften, da wir schon nach Fürth visiert hatten, so blieb nichts anderes übrig, als nach dorten zu marschieren und bis anderen Mittag zu warten, um also umgekehrt von Fürth nach Nürnberg zu fahren.

Gelang uns denn auch, und wir machten die Reise von Fürth nach Nürnberg in kaum achtzehn Minuten. Die Fahrt zurück dauerte allerdings nur zehn Minuten, was wegen dem abfallenden Gelände war, das der Dampfer leichter hinter sich brachte. Dabei sahen wir den Donau-Mayn-Ludwig-Kanal, welcher zwischen diesen beiden Städten gegraben wird. Auch die Dampfertrace heißt die Ludwigsbahn nach dem bayerischen König. War eine angenehme Fahrt in den offenen Wagen, da die Luft von allen Seiten Zutritt hatte, und welche Wagen sogar ohne Verdeck fuhren. Einige mutige Frauen, die es gewagt hatten, sich mit uns Mannsleut in den Dampferwagen zu setzen, machten ängstliche Gesichter, als der Train an einer scharfen Krümmung der Trace arg ins Wanken kam. Sie kreischten jämmerlich und klammerten sich an ihre Begleiter, die aber mit Gleichmut dreinsahen oder doch sich ein solches Ansehen gaben. Die Furcht vor einem Absturz war aber auch ganz übrig, denn wir fuhren dorten so sicher wie auf irgend einer guten Landstraße. Hatten für die Fahrt zwölf Kreuzer zu zahlen, was nit gerad billig ist. Muß aber doch sagen, dass ich schwerlich nach Belgrad und Dalmatien zu Fuß gereist wäre, hätte man schon überall solche Dampfer aufgestellt. Wäre mir vielleicht manches verborgen geblieben, was ich zu gutem Nutzen kennengelernt habe. Wären mir aber auch die Füße geschont worden, was auch nit vom Übel ist. Doch ehe die Dampfer so weit laufen, wird noch viel Wasser den Rhein herunterfließen und manche hundert Jahre vergehen.



[1] Biedermeier auf Walze. Aufzeichnungen und Briefe des Handwerksburschen Johann Eberhard Dewald 1836-1838. Hg. v. Georg Maria Hofmann, Berlin 1936. Auszugsweise abgedruckt bei Fischer, Wolfram, Quellen zur Geschichte des deutschen Handwerks. Selbstzeugnisse seit der Reformationszeit, Göttingen 1957, S. 123-135.

 


Die Druckversion des Essays findet sich in Hohls, Rüdiger; Schröder, Iris; Siegrist, Hannes (Hg.), Europa und die Europäer. Quellen und Essays zur modernen europäischen Geschichte, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2005.
Zugehöriger Essay: Das Handwerk im Umbruch am Beginn des Industriezeitalters

Das Handwerk im Umbruch am Beginn des Industriezeitalters[1]

Von Wolfram Fischer

Im „alten Europa“ bildete das Handwerk neben den Bauern die wichtigste „Produktivkraft“. In den größeren Städten waren sie meist in Zünften organisiert und nahmen seit der „Zunftrevolution“ des späten Mittelalters an der Stadtregierung teil. Sie bildeten die städtische Mittelschicht. Aber auch in kleineren Städten und auf dem Lande, wo es eine zünftige Organisation nur rudimentär oder gar nicht gab, waren viele Handwerker tätig. Für die zünftigen Handwerker galten strenge Regeln für Ausbildung und Ausübung ihres Berufes. Dazu gehörte auch die Wanderschaft, die viele junge Handwerker oft jahrelang durch Europa führte. Deutsche Handwerksburschen wanderten nach Skandinavien, nach England oder Frankreich, in die Niederlande oder die Schweiz und nach Österreich, aber auch in die Mittelmeerländer bis hin in das Osmanische Reich und nach Ostmitteleuropa. Vermutlich hunderte haben Reisetagebücher, Briefe oder später Erinnerungen an diese Wanderzeit hinterlassen, von denen einige Dutzend später gedruckt wurden. Die – nachfolgend wiedergegebenen – Auszüge aus den Reisetagebüchern des rheinischen Gerbergesellen Johann Eberhard Dewald (1812-1883), die er in den Jahren 1836 bis 1838 geschrieben hat, sind deshalb von besonderem Reiz, weil sie Beobachtungen eines aus einer traditionellen Meisterfamilie stammenden jungen Mannes über die Veränderungen der wirtschaftlichen und sozialen Umwelt mit dem Anbruch der Industrialisierung reflektieren.[2]Von seinem Vater, einem selbstbewussten Gerbermeister, weiß er, wie sich ein zünftiger Geselle auf Wanderschaft zu benehmen hat. Er muss in den Städten, die er ansteuert, beim Zunftmeister nach Arbeit fragen, wobei er bestimmte Grußformeln zu verwenden hat und ebenso zeremoniell zu begrüßen ist. Ist keine Arbeit für ihn vorhanden, so hat er Anspruch auf ein „Geschenk“ oder „Zeichen“, das heißt auf freie Übernachtung und Wegzehrung, und wird mit guten Wünschen, oft auch dem Rat, wo möglicherweise Arbeit für ihn vorhanden ist, verabschiedet. Dann darf er sich aber auch nicht länger an dem Ort aufhalten, darf nicht herumlungern. Bekommt er Arbeit angeboten, muss er sie annehmen. Wie lange er bleibt, hängt sowohl von seinem Meister wie von ihm ab. Oft sind es nur wenige Tage. Es können aber auch Wochen und Monate und schließlich Jahre daraus werden. Wer wie Dewald aus einem Meisterhaushalt kommt, den er eines Tages erben wird, wird von vorne herein nur eine begrenzte Wanderzeit einplanen, andere, die einen solchen Rückhalt nicht besitzen, werden anstreben, irgendwo als „Altgeselle“ eine ständige Beschäftigung zu finden oder vielleicht sogar eines Tages eine Meistertochter oder Meisterwitwe zu heiraten und sich dann dort niederzulassen. Für beides gibt es vielfältige Zeugnisse.

Es ist in der Forschung umstritten, ob die Wanderschaft vor allem der weiteren Ausbildung nach Beendigung der Lehre diente oder ob sie ein Mittel war, um in einer Welt chronischer Unterbeschäftigung – bei gleichzeitig langer Arbeitszeit mit täglich bis zu 12 Stunden – die Arbeitslosigkeit zu begrenzen bzw. die Arbeitssuchenden selbst für das Finden eines Arbeitsplatzes verantwortlich zu machen. Denn Arbeitsämter gab es nicht, und Arbeitslosen blieb nur übrig, bei kirchlicher oder kommunaler Armenfürsorge vorzusprechen oder zu betteln. Ein zünftiger Handwerksgeselle bettelte nicht. Das war die Norm. Wir wissen jedoch, dass vielen oft gar nichts anderes übrig blieb und manche sich daran gewöhnten, ebenso wie sie sich gewöhnten, obdachlos zu sein oder zu trinken. Dewald gehörte eindeutig zu denjenigen Wanderburschen, die etwas lernen und die Welt sehen wollten und die sich an die zünftigen Regeln hielten. Er konnte es sich auch erlauben, denn er hatte ein Elternhaus im Rücken, in das er jederzeit zurückkehren konnte.

Was Dewald jedoch auf seiner Wanderschaft vorfindet, ist eine teilweise andere, sich wandelnde Welt. Wenn er in große Städte kommt, wird sein Handwerksgruß kaum noch erwidert; vielmehr wird er oft wie ein Bettler behandelt, wenn er um ein „Zeichen“ bittet. Bei den Mitgesellen vermisst er die Solidarität, denn viele arbeiten gar nicht mehr in Handwerksbetrieben, sondern in Fabriken und wohnen nicht mehr im Haus des Meisters, sondern in Schlafsälen. Die Fabrikarbeit, die auch er zeitweise, zum Beispiel in Prag, ausführt, behagt ihm nicht, denn er hat, wenn er den ganzen Tag die gleiche Tätigkeit verrichten muss, das Gefühl, er „triebe sein Gewerb nur halb“. Aber er sieht doch ein: „Muß wohl in einer Fabrik solcherweis geschehen“, und bezeugt damit, dass er offenen Auges durch die Welt geht und nicht nur am Hergebrachten sich orientiert. Womit er aber nicht einverstanden ist – und hier zeigt sich der Meistersohn – ist die Haltung mancher Gesellen und vieler Fabrikarbeiter gegenüber ihrem Arbeitgeber. Da streitet er mit einem mitwandernden Gesellen, weil dieser sein Wort gegenüber dem Meister, die angebotene Arbeit anzunehmen, bricht und lieber weiter wandert, oder er belehrt die Arbeiter, die im Fabrikbesitzer nur den „Reichen“ sehen, dem man ein Schnippchen schlagen kann, dass auch ein Arbeitgeber, ob Meister oder Fabrikant, rechnen müsse, wenn er über die Runden kommen wolle, dass er sein Einkommen keineswegs „arbeitslos“ erziele und dass ihre eigenen Arbeitsplätze gefährdet werden, wenn die Arbeiter den Arbeitgeber betrügen und so möglicherweise in den Bankrott treiben. Wiederum hat er dabei den väterlichen Meisterbetrieb im Blick.

Schon in Bayern hatte er kurze Bekanntschaft damit gemacht, dass in Fabriken andere Sitten herrschten. Als er mit seinem Wandergefährten in einem Gasthaus gegenüber einer Gerberei-Fabrik saß, kamen die „Gesellen“ dieser Fabrik zum Vesperbrot, ohne sie eines Blickes zu würdigen oder gar, wie es in seinen Augen sein sollte, ihnen einen ehrbaren Gruß zu erweisen. Eigentlich hatten die Wanderburschen sich „ordentlich darauf gespitzt, recht ausführlich von ihnen über die Arbeit in solcher großen Werkstatt zu hören“. Aber erst der Werkmeister, bei dem sie wegen eines „Zeichens“ vorsprachen, lud sie ein, die Fabrik zu besuchen. Dewald „wechselte mit jedem Gesellen ehrlichen Gruß, weil es mir leid gewesen wäre, den zünftigen Brauch zu missachten, den mir der Herr Vater auf die Seele gebunden, nie ohne Not zu verletzen“ Nicht besser erging es ihm in München. „Der Handwerksbrauch scheint hier auch ganz ausgestorben zu sein“, notierte er in einem Tagebuch, „wo die meisten in Fabriken arbeiten, wie sie sich allerorten jetzt etablieren, und unter Gesellen kein Zusammenhang mehr zu finden ist. Mußte es also wohl daran geben, in München zu konditionieren“, das heißt eine Arbeit anzunehmen.

Noch etwas anderes treibt den wandernden Gesellen um, der sich nicht als Proletarier versteht, sondern „stolz auf sein Metier“ ist und niemals verleugnen will, „ein Wandergesell und ein Gerber zu sein!“ Im Kontakt zu anderen bürgerlichen Gruppen, etwa zu gleichaltrigen Studenten, den er durchaus sucht, stellt er fest, dass die bürgerlichen Freiheiten im nachnapoleonischen Europa Beschränkungen unterliegen. Handwerksburschen pflegten in der vorrevolutionären Zeit Staatsgrenzen ohne große Formalitäten zu überschreiten. Das war nun anders. Die Polizei kontrollierte überall. Die Handwerksburschen sahen das als Schikane an. Erst als Dewald in Freiburg bei Feiern der studentischen Burschenschaft Opfer eines Polizeieinsatzes wurde, erkannte er einen politischen Hintergrund. Die entwürdigende Behandlung durch die Freiburger Stadtsoldaten kränkte seine Ehre: „Was sollten die zu Hause denken, die Eltern und Jungfer Theres!“ Nachdem die Handwerksburschen ihre Wanderbücher, die sie in der Herberge gelassen hatten, am nächsten Tag vorlegen und sich damit als wandernde Gesellen ausweisen konnten, wurden sie zwar freigelassen, nicht ohne jedoch vorher auf Krätze untersucht zu werden, wobei sie sich nackt ausziehen mussten, eine andere Arte der Entwürdigung, der wandernde Gesellen – vermutlich nicht ganz grundlos – öfters unterworfen wurden. „Dies alles aber, weil wir mit den Studenten ein Lied auf das ganze Deutschland gesungen hatten! Machen es einem wahrlich nit leicht, auf sein Vaterland stolz zu sein, soll mir aber nichts nit die Liebe zu meiner Heimat aus dem Herzen reißen!“ Und als die Studenten die weiter wandernden Gesellen mit ihren deutschen Liedern begleiteten und sie in einem Dorfgasthaus „tractierten“, ihnen also ein „ordentliches Frühstück“ vorsetzten, machte ihm „die herzliche Brüderlichkeit der Studenten zu uns wandernden Gesellen das Blut recht warm“.

Doch blieb eine gewisse Distanz zu den Bildungsbürgern. Als die Gesellen beim Eintritt nach Bayern bei Lindau noch einmal polizeiliche Kontrollen über sich ergehen lassen mussten mit erneuter Kontrolle auf Krätze, dem Vorzeigen von Reisegeld und den drohend klingenden Hinweis, „daß wir in Bayern wären und nit irgendwo auf der Welt“, meint er zwar: „Diese ewigen Grenzen im Deutschen Reich sind wahrhaft vom Teufel erfunden“, aber er findet im Rückblick auf das übermütige Treiben der Freiburger Studenten auch: „Das faule Reden allein ändert nichts nit, und die Neunmalweisen haben die Welt noch keine Elle voran gebracht.“

Schlimmer noch traf Dewald es in Italien an. In Mailand fand er „das gleiche Elend mit den Gesellen, wie überall in der letzten Zeit. Die meisten Einlogierten glichen in keiner Weise ordentlichen Gesellen, schienen mir auch ihre Profession nit zu ehren und führten sich nit nach der Zunft auf. Keine Frage nach woher und wohin, dabei aber ein wüster Spektakel in ordinärster Art. Der alte Handwerksbrauch ist hier ganz im Schwinden. Kein Zusammenhalt und die übelste Aufführung. Glich doch die Herberge vielmehr einer Spelunke als einer ordentlichen Unterkunft.“ Und in den Fabriken hielt man ihn wieder für einen Bettler, wenn er um ein „Zeichen“ nachkam. „Ist schon ganz geschwunden, daß der Gesell ein Recht auf ein zünftiges Zeichen hat, und steht da als ein Faulenzer, so man vorspricht. Habe es dran gegeben, weil ich lieber hungern wollte, als solche Unehre zu ertragen. Ist aber noch nit soweit und hab noch Gulden in der Tasch.“

Als Dewald über die Schweiz wieder nach Deutschland wollte, geriet er erneut in die Turbulenzen des erwachenden Nationalismus und der staatlichen Unterdrückungsmaschinerie gegenüber solchen Bestrebungen. 1832 hatte der im Jahr zuvor aus dem Königreich Piemont ausgewiesene Advokat Giuseppe Mazzini (1805-1872) den Geheimbund „La giovine Italia“ (Das junge Italien) gegründet und 1834 in Bern „La giovine Europa“ mit Gruppen aus italienischen, deutschen und polnischen Emigranten in der Schweiz. Mazzini forderte den Aufstand der Italiener als Initiative zum Aufstand des jungen Europa der Völker gegen das alte Europa der Monarchen. Fortan galt die Schweiz für die norditalienischen Behörden als gefährlich, und junge Leute, die dorthin wollten, wurden scharf kontrolliert. Als Dewald sich in Como als ordentlicher Handwerksgeselle nach der Schweiz „visieren“ lassen, das heißt dies in sein Wanderbuch eintragen lassen wollte, musste er sich strengen Verhören unterziehen und notierte in sein Tagebuch: „Muß doch aber ein gefährlich Stück Erde sein, die Schweiz, und hätte meintag nit für möglich gehalten, soviel Schwierigkeiten zu finden“. Obwohl schließlich ordnungsgemäß visiert, wurde er von zwei Grenzposten „hart angelassen und auf meine Erwiderung hin einfach arretiert und unter Eskorte von zwei Grenzpolizisten, die zu meiner besseren Bewachung ihre Musketen schußbereit hielten, nach Como zurückgebracht. Man beratschlagte gewaltig, ob man mich in Mayland einliefern sollte, hatte aber Angst derwegen, da ich mit der Zeit gute Übung gewonnen hatte und auf mein ordentlich visiertes Wanderbuch vertraute. War denn auch richtig, und nach groben Unfreundlichkeiten durfte ich meines Weges ziehen.“

Erst als er wieder in Süddeutschland eintraf, fand er die alten Bräuche noch in Kraft. Zugleich aber war er neugierig auf das Neue: Die Eisenbahn. Hatte er sie schon in Österreich ausprobiert, so setzte er nun einen extra Tag an, um mit der ersten deutschen Eisenbahn von Fürth nach Nürnberg und zurück zu fahren, was ihm mächtig imponierte, und er sinnierte über die Vor- und Nachteile der neuen Zeit: Ein Handwerksgeselle war an der Schwelle des Industriezeitalters angekommen.



[1] Essay zur Quelle Nr. 1.1, Reiseerinnerungen und Reflexionen eines rheinischen Gerbergesellen 1836/38.

[2] Vgl. Quelle Nr. 1.1. Die hier zugrundegelegte Quelle ist erstmals publiziert worden in: Biedermeier auf Walze. Aufzeichnungen und Briefe des Handwerksburschen Johann Eberhard Dewald 1836-1838, hg. v. Georg Maria Hofmann, Berlin 1936. Auszugsweise abgedruckt bei Fischer, Wolfram, Quellen zur Geschichte des deutschen Handwerks. Selbstzeugnisse seit der Reformationszeit, Göttingen 1957, S. 123-135. In diesem Band sind überdies weitere Auszüge aus siebzehn solcher Reiseberichte veröffentlicht.

 


Literaturhinweise:
  • Engelhardt, Ulrich (Hg.), Handwerker in der Industrialisierung. Lage, Kultur und Politik vom späten 18. Jahrhundert bis ins frühe 20. Jahrhundert, Stuttgart 1984
  • Fischer, Wolfram, Das deutsche Handwerk in den Frühphasen der Industrialisierung, in: Ders., Wirtschaft und Gesellschaft im Zeitalter der Industrialisierung, Göttingen 1972, S. 315-337
  • Lenger, Friedrich, Sozialgeschichte des deutschen Handwerks seit 1800, Frankfurt am Main 1988
  • Pierenkemper, Toni, Gewerbe und Industrie im 19. und 20. Jahrhundert, München 1994
  • Stadelmann, Rudolf; Fischer, Wolfram, Die Bildungswelt des deutschen Handwerkers um 1800, Berlin 1955
Quelle zum Essay
Das Handwerk im Umbruch am Beginn des Industriezeitalters
( 2006 )
Zitation
Reiseerinnerungen und Reflexionen eines rheinischen Gerbergesellen . 1836/38, in: Themenportal Europäische Geschichte, 2006, <www.europa.clio-online.de/quelle/id/q63-28264>.
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