Über den Beruf des Virtuosen. 1852

Einer allgemeinen These zufolge würde es dem Künstler zum Gewinn gereichen, wenn er nur die Gesellschaft „aufgeklärter Aristokraten“ suchte; denn nicht ohne jegliche Berechtigung rief Graf Joseph de Maistre, als er einst eine Erklärung des Schönen improvisieren wollte, aus: „Schön ist das, was dem aufgeklärten Aristokraten gefällt.“[...]

Franz Liszt über den Beruf des Virtuosen (1852)[1]

Einer allgemeinen These zufolge würde es dem Künstler zum Gewinn gereichen, wenn er nur die Gesellschaft „aufgeklärter Aristokraten“ suchte; denn nicht ohne jegliche Berechtigung rief Graf Joseph de Maistre, als er einst eine Erklärung des Schönen improvisieren wollte, aus: „Schön ist das, was dem aufgeklärten Aristokraten gefällt.“ – Allerdings müßte der Aristokrat vermöge seiner gesellschaftlichen Stellung über allen eigennützigen Beweggründen und materiellen Neigungen stehen, die man als Fehler des Bürgertums betrachtet, in dessen Händen die materiellen Interessen der Nation liegen. Der Adel ist berufen, den Ausdruck aller der heroischen und zarten, den großen Gegenständen und Ideen geweihten Gefühle, welche die Kunst in ihren erhabenen Schöpfungen in all ihrem Glanze strahlen läßt, ja, zu irdischer Unsterblichkeit verklärt, nicht allein zu verstehen, sondern auch anzuregen und zu ermutigen. Dies wäre die These. Fassen wir jedoch die Antithese ins Auge, so müssen wir leider, von Ausnahmefällen abgesehen, zugeben, daß der Künstler zuweilen mehr verliert als gewinnt, wenn er an der heutigen vornehmen Gesellschaft Geschmack findet. Hier entnervt er, er geht zurück, sinkt zum liebenswürdigen Unterhalter, zu einem feinen und kostspieligen Zeitvertreib herab, dafern man ihn nicht geschickt ausbeutet, was man auf den Höhen wie in den Tiefen der aristokratischen Gesellschaft beobachten kann.

Bei Hofe verbraucht man seit undenklichen Zeiten die Kraft des Dichters und Künstlers bis zur gänzlichen Erschöpfung und überläßt es dabei anderen Mäzenen, sie würdig zu belohnen, weil man sich einbildet, daß ein kaiserliches Lächeln, eine königliche Belobung und Gunstbezeigung, eine Busennadel oder ein Paar Diamantknöpfe mehr als ausreichend seien, um ihn für alle Verluste an Zeit und Lebenskraft, denen er sich durch Annäherung an diese glühenden Sonnenkreise aussetzte, zu entschädigen. [...] Bei den Königen und Fürsten der Finanzwelt dagegen, wo man die Art und Weise des wahrhaft Vornehmen mehr nachäfft als nachahmt, bezahlt man alles bar, selbst den Besuch eines Potentaten wie Karl V., dem man, wenn er sich herabläßt, sich von seinem Bankier beherbergen zu lassen, seine eigenen Wechsel anbietet, um sein Kaminfeuer anzuzünden. Somit brauchen auch Dichter und Künstler nicht umsonst auf ein Honorar zu warten, das ihr Alter vor Sorgen schützt. Herr von Rothschild, um nur einen einzigen zu nennen, ließ Rossini an Geldgeschäften teilnehmen, die ihm Reichtümer im Überfluss zuführten. [...]

Was ist die Folge solchen Gegensatzes? Die Höfe erschöpfen Genius und Talent des Künstlers, Inspiration und Phantasie des Dichters, so wie die Schönheit aufsehenerregender Frauen durch die fortgesetzte Bewunderung, die sie herausfordert, Mut und Ausdauer des Mannes erschöpft. Das reich gewordene Bürgertum läßt Künstler und Poeten in der Gefräßigkeit des Materialismus untergehen. Hier wissen Frauen und Männer nichts Besseres zu tun, als sie zu mästen, wie man die King-Charles der Boudoir-Sofas mästet, bis sie, angesichts ihres japanischen Porzellantellers, vor Fettsucht umkommen. – Auf diese Weise ist die Herrlichkeit der ersten wie der letzten Stufen der Macht und des Reichtums gleicherweise verderblich für die vom Schicksal mit dem Stempel „schön und verhängnisvoll“ Gezeichneten, die von der Natur Bevorzugten, von denen die Griechen sagten, daß der Herr des Himmels, als er sie bei Verteilung der Güter dieser Erde vergessen hatte, ihnen zum Ersatz das Vorrecht gewährte, zu ihm emporzusteigen, sooft sie den Wunsch dazu verspürten. Da sie nun nicht minder als andere bösen Versuchungen zugänglich sind, so muß die vornehme und feine Welt die Verantwortung für diejenigen übernehmen, die sie aufreiben oder umkommen lassen hinter ihren schweren seidenen Portieren. Vergessen aber die Bevorzugten der Natur ihr Recht, zum Gott des Himmels emporzusteigen, so verlangt die Gerechtigkeit, dass man mit ihnen zugleich auch die verdamme, die, da sie nicht zu hören verstehen, wenn jene die Stimmen einer bessern Welt ertönen lassen, sich damit begnügen, das Talent derselben auszubeuten, ohne Achtung für den göttlichen Funken in ihnen. [...]

Da nun der vom Thron ausgehende Sonnenstrahl vielleicht niemals zu ihnen den Weg findet, da der Goldregen, den die Banknoten ausstreuen, die Muse einschläfert, was Wunder, wenn in dieser Voraussicht Künstler und Dichter, statt ihre Offenbarungen den Verständnislosen zu künden, es oftmals vorzogen, Hunger und Frost zu leiden an Leib und Seele und in unfruchtbarer Einsamkeit zu verharren; ihrer eigensten Natur zum Trotz, die des Lichtes und der Wärme, eines Echos und Widerscheins bedarf, soll sie Glauben an sich selber gewinnen.



[1] Liszt, Franz, Schriften zur Tonkunst, hg. von Wolfgang Marggraf, Leipzig 1981, S. 128-131; Der Quellentext entstammt ursprünglich: Liszt, Franz, Frédéric Chopin, als Artikelserie in: La France Musicale (1851), als Buch Paris 1851, erheblich erweitert 1879, dt. Übersetzung als Band 1 der Gesammelten Schriften, Leipzig 1880.

 


Die Druckversion des Essays findet sich in Hohls, Rüdiger; Schröder, Iris; Siegrist, Hannes (Hg.), Europa und die Europäer. Quellen und Essays zur modernen europäischen Geschichte, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2005.

Herr des Publikums, Diener der Kunst [1]

Von Jürgen Osterhammel

Kaum ein anderer Sozialtypus, der im frühen 19. Jahrhundert entstand, hat sich so wenig verändert in die Gegenwart hinein erhalten wie der des öffentlich auftretenden Musikvirtuosen. Bereits in früheren Jahrhunderten gab es musikalische Zelebritäten, von denen ganz Europa sprach und zu denen man von weither reiste, um von ihnen zu lernen. Sie waren zumeist Komponisten und Meister der musikalischen Theorie. Weniger den Berühmtheiten, die durch ihren Gesang oder ihr Instrumentalspiel faszinierten, galt die Verehrung der Musikwelt als den Schöpfern neuer Kunst. Viele, möglicherweise die meisten von ihnen brachten ihre eigenen Werke mit höchster technischer Kompetenz selbst zur Aufführung. Reine musici oder virtuosi prattici genossen ein geringeres Prestige. Auch im 19. Jahrhundert hielten viele an der Einheit von Komponist und Interpret fest. Richard Wagner erstrebte die vollständige Kontrolle über die authentische Interpretation seiner Werke, und Gustav Mahler soll als Dirigent seiner eigenen Symphonien nie übertroffen worden sein. Daneben entstand der ausschließlich ausführende musikalische Star: die Operndiva, der Tastenlöwe, der vom dienenden maestro di capella zum Herrscher über Klangkörper von neuartiger Größe und oft bedeutender Leistungsfähigkeit aufgestiegene Dirigent. Diese Art des Musikbetriebs gibt es noch heute. Die technische Reproduzierbarkeit von Musik durch Schallplatte, Rundfunk und später sogar Film und Fernsehen hat die älteren Tendenzen eher noch verstärkt. Erst die Verbreitung von Konzertsälen und Opernhäusern auf allen Kontinenten, dann die Technologien der Schallaufnahme ließen wahrhafte Weltstars entstehen: den Tenor Enrico Caruso, den Bariton Mattia Battistini, die Sopranistin Adelina Patti, den Dirigenten Arturo Toscanini, die Geiger Pablo Sarasate und Joseph Joachim, die Pianisten Anton Rubinstein und Ignacy Jan Paderewski – um nur einige zu nennen. Ihr Rollenverständnis im Spannungsfeld von Showbusiness und Werktreue war ein Erbe des zweiten Quartals des 19. Jahrhunderts. Dieses Erbe beherrscht auch noch die industriell organisierte „E-Musik“ der Gegenwart.

Der bewunderte Musikvirtuose und sein Gegenstück, eine kenntnisreiche Hörerschaft, waren keine europäische Besonderheit. Wir finden sie auch in entwickelten aristokratischen und höfischen Kulturen andernorts auf der Welt, zum Beispiel in Mogul-Indien. Einzigartig für das moderne Europa und universal stilbildend war indes die Lösung des Künstlers aus fürstlichem Mäzenatentum. Dieser Übergang von Gunst zu Lohn ist wohl bekannt. Schon Händel hatte in England für ein zahlendes bürgerliches Publikum gearbeitet und Haydn dort in den 1790er Jahren den musikalischen Markt erfolgreich bedient. Richard Wagner distanzierte sich allmählich von seinem königlichen Pa­tron Ludwig II. von Bayern und ersann die Idee eines regelmäßigen Festspiels, das ihn zum Herrn über wallfahrende Besucher und Nutznießer ihrer Freigebigkeit machen würde. Schon um 1820 war das Zeitalter mäzenatischer Hofmusik im Wesentlichen beendet, auch wenn sich ein Musikfreund wie Herzog Georg II. von Sachsen-Meiningen im thüringischen Meiningen bis zum Ersten Weltkrieg eines der besten Orchester Deutschlands leistete. Nur in Europa entwickelten sich die städtische Oper als besonderer Raum der sozialen Repräsentation von Oberschichten und das Konzert als Geselligkeitsform einer „stockenden Masse“, wie Elias Canetti es beschrieben hat: „Wie eine ausgerichtete Herde, so sitzen die Menschen da, still und in unendlicher Geduld.“[2]

Diese Arten der Reproduktion und Konsumption von Kunst waren nicht nur „typisch“ europäisch – und verbreiteten sich rasch auch in den neo-europäischen Gesellschaften in Übersee, so dass das Opernhaus von New York zum musikalisch wichtigsten der Welt und dasjenige von Sydney zu einem ihrer bekanntesten Gebäude wurde. Sie waren auch gesamteuropäisch. Die romantische Ausprägung nationaler Musikidiome verhinderte nicht, daß der Konzertbetrieb kosmopolitisch blieb. Er gehörte zu den „Mechanismen des Internationalismus“, wie sie heute bei Historikern viel Aufmerksamkeit finden. Viele Opernsänger mochten zu einem festen Ensemble gehören und daher relativ wenig mobil sein. Die ganz großen Stars unter ihnen jedoch waren unaufhörlich unterwegs und gastierten in allen Kunstzentren zwischen Lissabon und St. Petersburg. Battistini zum Beispiel, der „König der Baritone“, stand mit dem Zaren „auf vertraulichem Fuße“[3]und gab seinen letzten Auftritt 1927 auf dem Nebenschauplatz Graz. Instrumentalsolisten, die unweigerlich als Individualunternehmer arbeiteten, waren noch stärker als Sänger auf das Reisen angewiesen und woben die Netze ihrer Tourneen über den ganzen Kontinent hinweg. Mit dem Virtuosentum erblühte das Geschäft der Agenten und Impresarii, auch sie frühe „transnationale“ Akteure. Daß man sich in Elitekreisen aller europäischen Länder mühelos auf Französisch – und notfalls auch in mehreren anderen Sprachen – verständigen konnte, erleichterte den Umgang über Grenzen hinweg. Auch das Publikum war unterwegs und mischte sich international. Mochte Wagners Massenbasis auch aus „Bier trinkenden, Würstchen verzehrenden Spießbürgern“ bestehen, so versammelte sich doch in Bayreuth „jene internationale society, die der völkische Nationalist verabscheuen mußte“.[4]

Am Anfang dieser Neuerungen steht der erste aller musikalischen Superstars: Niccolò Paganini, der 1828 die Alpen überquerte und damit eine beispiellose Karriere als konzertierender Violinist begann. Franz Liszt war bereits im Dezember 1823 als zwölfjähriges Wunderkind aus dem Habsburgerreich nach Paris gekommen. Erst das Erlebnis Paganinis bewog ihn, sich als dämonischen Verzauberer der Massen, als einen Paganini des Klaviers, neu zu erfinden. Nicht nur verwandelte er die berühmten Capriccen des Geigers in Etüden von beispiellosem technischem Raffinement; er kultivierte auch mit Berechnung den Habitus des über extremste Schwierigkeiten triumphierenden Podiumsheroen, der sich sein Publikum unterwarf. In einer schier unglaublichen Kraftleistung reiste Liszt zwischen 1838 und 1847 – noch in Kutschen! – kreuz und quer durch Europa. Von Glasgow im Norden bis Neapel im Süden, von Cadiz bis Istanbul gab er Konzerte und vergaß dabei auch Kleinstädte wie Limerick, Montauban, Freiburg, Bautzen oder Schitomir in der Ukraine nicht. 1847 zog sich der bedeutendste Pianist des Jahrhunderts, zugleich einer seiner größten Komponisten, plötzlich vom Konzertleben zurück und trat während der restlichen 39 Jahre seines Lebens öffentlich fast nur noch als Dirigent in Erscheinung, der sich allein zu Benefizzwecken auch gelegentlich noch an den Flügel setzte.

Liszt prägte das neue Konzertleben wie kein zweiter und wurde dadurch zum reichen Mann und zum berühmtesten Musiker Europas. Die Musik war ihm freilich kein bloßer Broterwerb. Er spielte eigene Kompositionen, aber auch Älteres, das sonst selten zu hören war. Der Tastenzauberer konnte auch zum selbstlosen Diener an den Werken anderer werden. Durch Bearbeitungen und Paraphrasen für Klavier machte er Beethoven-Symphonien, Schubert-Lieder und zahlreiche Opern einem provinzialen Publikum zugänglich, dem die Chance fehlte, dergleichen jemals in Originalgestalt kennenzulernen. Auf diese Weise trug er zur künstlerischen Integration, ja, zur musikalischen Zivilisierung Europas bei. Auch sonst war er ein Lehrer: Der späte Liszt, stets unentgeltlich unterrichtend, wurde zum wichtigsten Klavierpädagogen der Epoche. Zugleich erkannte er mit großer Klarsicht, in welche Widersprüche der Konzertbetrieb den romantischen Künstler, das Genie, verstrickte. 1852, drei Jahre nach dem Tod seines Freundes Chopin (der selbst öffentliche Auftritte eher gemieden hatte), nutzte er die Gelegenheit, um in einem gemeinsam mit der Fürstin Carolyne von Sayn-Wittgenstein geschriebenen Buch über den polnischen Meister die Zwänge des musikalischen Schaugewerbes schonungslos zu analysieren.[5]Für sich selbst nahm Liszt übrigens den Prozeß der Emanzipation von herrscherlichem Patronat zurück. Dem „Goldregen“ des großbürgerlichen Philistertums, dessen er wie kein Zweiter teilhaftig geworden war, zog er die karge Freiheit eines kleinstädtischen Residenzlebens vor. Liszt akzeptierte das Amt eines Hofkapellmeisters in Weimar und lebte fortan, wie Alan Walker in seiner großartigen Biografie schreibt, als „Riese in Liliput“. Das Publikum wurde ihm immer gleichgültiger. Im Alter komponierte er Werke, die erst im 20. Jahrhundert verständnisvolle Spieler und Hörer fanden. Die einstige Inkarnation des musikalischen Showbusiness wurde, allein dem späten Beethoven folgend, zum soziologischen Urtyp des Avantgardisten.

 


[1] Essay zur Quelle Nr. 1.5, Franz Liszt über den Beruf des Virtuosen (1852).

[2] Canetti, Elias, Masse und macht, Hamburg 1960, S. 36.

[3] Fischer, Jens-Malte, Große Stimmen, Stuttgart 1993, S. 29.

[4] Adorno, Theodor W., Einleitung in die Musiksoziologie. Zwölf theoretische Vorlesungen, Reinbek 1968, S. 129.

[5] Der Quellentext entstammt ursprünglich: Liszt, Franz, Frédéric Chopin, als Artikelserie in: La France Musicale (1851), als Buch Paris 1851, erheblich erweitert 1879, dt. Übersetzung als Band 1 der Gesammelten Schriften, Leipzig 1880.

 


Literaturhinweise:

  • Adorno, Theodor W., Einleitung in die Musiksoziologie. Zwölf theoretische Vorlesungen, Reinbek 1968
  • Canetti, Elias, Masse und Macht, Hamburg 1960
  • Dahlhaus, Carl, Die Musik des 19. Jahrhunderts, in: Ders., Gesammelte Schriften in zehn Bänden, hg. von Hermann Danuser, Bd. 5, Laaber 2003, S. 11-390
  • Ehrlich, Cyril, The Piano: A History, Oxford 2002
  • Gooley, Dana, The Virtuoso Liszt, Cambridge 2004
  • Walker, Alan, Franz Liszt, 3 Bde., London 1983-1997
Quelle zum Essay
Herr des Publikums, Diener der Kunst.
( 2006 )
Zitation
Über den Beruf des Virtuosen. 1852, in: Themenportal Europäische Geschichte, 2006, <www.europa.clio-online.de/quelle/id/q63-28295>.
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