Geistige Kriegspropaganda. Der Aufruf von Wissenschaftlern und Künstlern an die Kulturwelt
Von Rüdiger vom Bruch
Wahrlich, international war die Gelehrtenrepublik vor dem Ersten Weltkrieg. Man kannte sich, man las einander, korrespondierte miteinander, Fremdsprachen bildeten keine Barriere. Man traf sich auf internationalen Kongressen, publizierte in den gleichen Zeitschriften, beteiligte sich an Besuchsprogrammen wie etwa dem deutsch-amerikanischen Professorenaustausch, bei dem der deutsche Kaiser Wilhelm II. als Schirmherr den amerikanischen Präsidenten Roosevelt 1910 als Redner in Berlin begrüßte. Führende deutsche Gelehrte waren Mitglieder bedeutender ausländischer Wissenschaftsakademien, und bedeutende Ausländer waren an deutschen Akademien willkommen.
Internationalismus verband im Zeitalter des Imperialismus, der zugleich nationale Konkurrenzen förderte. Man war überzeugt von der weltweiten Überlegenheit der weißen Rasse und wetteiferte um Kulturmission im Nahen und im Fernen Osten wie in Südamerika. Man sah in den Konkurrenten die gleichwertigen Herausforderer, nicht einen Feind – allenfalls mit Ausnahme der deutsch-französischen Beziehungen, auch wenn hier enge personelle Kontakte bestanden. Sogar bedeutende russische Gelehrte waren in Deutschland willkommen, auch wenn im Frühjahr 1914 eine systematisch von der deutschen Reichsleitung inszenierte Pressekampagne östliches Barbarentum als Zivilisationsbruch perhorreszierte.
Grundlegend veränderte sich die Situation Anfang August 1914. Im Gefolge der Julikrise nach dem serbischen Mordanschlag auf den österreichischen Thronfolger in Sarajewo eskalierten Ultimaten und Mobilmachungen. Das mit Österreich verbündete Deutsche Kaiserreich erklärte Russland den Krieg, was aufgrund der Bündniskonstellationen automatisch den Kriegszustand mit Frankreich bewirkte. Damit trat für Deutschland jener Zweifrontenkrieg ein, für den der Schlieffenplan gedacht war: Dieser sah die rasche Niederringung Frankreichs unter Verletzung der belgischen Neutralität sowie danach einen neuen Hauptschlag gegen Russland vor. Wie würde sich England verhalten, das war die entscheidende Frage. Zum Entsetzen der Deutschen erklärte auch England den Krieg, relativ leicht vorhersehbar aufgrund der Bündnisverpflichtungen und von den Briten mit dem völkerrechtswidrigen Einmarsch in Belgien begründet.
Nachrichten von deutschen Kriegsgräueln in Belgien machten rasch die Runde, sie schienen die Propagandathesen vom barbarischen deutschen Militarismus zu bestätigen. Die Deutschen empfanden sich als hilflos, weil mit dem Kappen der Überseekabel Gegeninformation unterbunden und die Informationshoheit der Entente gesichert war. In dieser Situation wurden zahlreiche deutsche Gelehrte und Künstler aufgefordert, eine Protestresolution zu unterzeichnen. Die Stimmung war eindeutig. Das „Augusterlebnis“ hatte die Deutschen zusammengeschmiedet, wenn auch nicht so einheitlich, wie die deutsche Propaganda glauben machen wollte. Von Region zu Region schwankte die Stimmung, in den Städten zeigte sich vor allem das Bürgertum kriegsbegeistert, weniger die Arbeiterschaft, und auf dem Lande gab es verhaltene Reaktionen. Gleichwohl beherrschten die „Ideen von 1914“ die öffentliche Meinung. Man befinde sich isoliert in einer Welt von Feinden, man verteidige deutsche Kultur gegen östliche Barbarei, gegen verflachte westliche Zivilisation und gegen englischen Krämergeist. Zudem erschien der Krieg als rettender Ausbruch aus kultureller Einöde, aus massengesellschaftlichem Materialismus, aus der Erstarrung idealistischer Impulse. Befreiungsschlag aus innerer Stagnation und Empörung über unerträgliche feindliche Vorwürfe, das war die Grundstimmung in intellektuell führenden bürgerlichen Schichten unter Einschluss der künstlerischen Avantgarde. Der vom Kaiser verordnete überparteiliche „Burgfrieden“ wurde überschwänglich begrüßt, an die Stelle innerer Zerrissenheit sollte ein gesamtnationaler Aufbruch treten.
In diesem Kontext ist der „Aufruf der 93“ zu verorten. Er erschien am 4. Oktober 1914 als ein von 93 deutschen Schriftstellern, Gelehrten und Künstlern unterzeichneter Aufruf „An die Kulturwelt“, um Vorwürfe der Entente gegen einen deutschen „Militarismus“ und gegen Gräuel der deutschen Armee insbesondere im überfallenen neutralen Belgien als „unwahr“ zurückzuweisen. Der Aufruf fügt sich in zahlreiche, vor allem von bekannten Kulturgrößen getragene Manifeste beider Seiten im „Krieg der Geister“ (Hermann Kellermann 1915) zur Beeinflussung der öffentlichen Meinung vornehmlich in den neutralen Staaten ein, galt aber bereits zeitgenössisch und im Nachhinein als ein verhängnisvolles Schlüsseldokument arroganter und freilich auch naiver deutscher
Überheblichkeit.
Ausgangspunkt für den Aufruf war zum einen ein Artikel über „Die Wirkung der englischen Lüge“ im Berliner Tageblatt vom 9. September 1914, der den Kaufmann Erich Buchwald zur Anregung einer Gegenaktion beim Schriftsteller Hermann Sudermann bewog. Hinzu kam zum anderen eine damit verknüpfte systematische Propagandakampagne des Chefs des Nachrichtenbüros im Reichsmarineamt, Heinrich Löhlein, der gemeinsam mit dem Schriftsteller Ludwig Fulda, dem Berliner Archäologen und Vertreter des Auswärtiges Amtes Theodor Wiegand und dem Berliner Bürgermeister Georg Reicke aktiv wurde. Unter Mitwirkung Sudermanns verfasste Fulda den Text, den Reicke in rhetorisch einprägsamer, an Luthers 95 Thesen von 1517 angelehnter Wucht auf ein sechsfaches „es ist nicht wahr“ zuspitzte „gegen die Lügen und Verleumdungen, mit denen unsere Feinde Deutschlands reine Sache in dem ihm aufgezwungenen schweren Daseinskampfe zu beschmutzen trachten.“ Unterzeichnen sollten 40-50 weltberühmte Künstler und Gelehrte. Politiker, Industrielle und hohe Beamte sollten bewusst außen vor bleiben.
Am 19. September setzte die reichsweite, zumeist telegraphische Werbung für das Manifest ein, das neben den Akteuren bereits von den Gelehrten Emil Fischer, Adolf von Harnack, Franz von Liszt, Alois Riehl und Gustav von Schmoller sowie von dem Komponisten Engelbert Humperdinck und dem Maler Max Liebermann unterzeichnet worden war. Einige von ihnen waren nach eigener späterer Aussage über den genauen Text gar nicht informiert worden. 93 Unterschriften kamen bis zur Publikation zusammen, ein geistig und politisch breit gefächertes Spektrum von Kunst und Wissenschaft. Entschiedene Pazifisten und Weltbürger wie Albert Einstein, Friedrich Wilhelm Foerster und Hermann Hesse wurden gar nicht erst gefragt. Einige Unterzeichner wie der Münchener Ökonom Lujo Brentano und der Physiker Max Planck distanzierten sich wenig später entschieden oder gewunden von dem Aufruf, dessen Text offenbar in vielen Fällen bei der Unterzeichnung nicht oder nicht vollständig vorlag und im Vertrauen auf die Integrität bereits bekannter Unterschriften unterstützt wurde.
Ironischerweise wurzelte dieser im Ausland als Ausweis einer chauvinistisch verblendeten deutschen Kultur gebrandmarkter Aufruf vielfach in kulturliberalen intellektuellen Netzwerken. Diese reichten zurück bis zu den Protesten von 1900/01 gegen eine Knebelung künstlerischer und wissenschaftlicher Freiheit in der so genannten lex Heinze. Das mindert nicht die Verantwortung der Unterzeichner, verweist aber zum einen auf eine vorrangig defensiv konsensfähige, freilich im Ausland so nicht rezipierte Tendenz bei vielen Unterzeichnern des Aufrufs. Zum anderen deutet er auf eine bezeichnende Diskrepanz zwischen intellektueller emphatischer Naivität und politisch kühl gesteuerter Kampagne hin. Im Original und in zehn Übersetzungen gelangte der Text in mindestens 14 neutrale Staaten.
Kühl-distanziert bis ablehnend wurde er etwa in Holland, der Schweiz und den USA aufgenommen. Gelassen-maßvoll blieben die Reaktionen in England, wo man allerdings wirkungsvoll-spaltend zwischen einer positiv gewerteten deutschen Kulturtradition und einem nunmehr übermächtigen deutschen Militarismus unterschied. Voller Hass reagierte Frankreich, dessen führende Akademiemitglieder das Band zu den Unterzeichnern des Aufrufs durchschnitten und auf internationale Isolation der deutschen Wissenschaftsinstitutionen drängten, welche freilich auch einer Selbstisolation Vorschub leisteten. In der Sache konnte die vermeintliche im Aufruf beschworene Wahrheit nicht überzeugen, da allein schon der völkerrechtswidrige deutsche Einfall in Belgien die neutralen Staaten als Zielgruppe des Aufrufs bedenklich stimmen musste und da sich deutsche Kriegsgräuel wie Geiselerschießungen und die Zerstörung der einzigartigen Universitätsbibliothek in Löwen, sowie zuletzt auch der Beschuss der Kathedrale von Reims nicht leugnen ließen.
Spätestens die Diktatur der 3. Obersten Heeresleitung (OHL) von 1917 bestätigte einen Politik, Gesellschaft und Militär umschließenden deutschen Militarismus. Vereinzelte distanzierende Stimmen vormaliger Unterzeichner des Aufrufs noch während des Krieges und eine von dem Völkerrechtler Hans Wehberg 1919 betriebene, freilich in der Stoßrichtung versandende aufklärend-korrigierende Gegenkampagne zum Aufruf vermochten dessen verheerende Wirkung nicht wirklich einzudämmen, welche maßgeblich zu einer internationalen Ächtung vor allem der deutschen Wissenschaft bis zum Ende der 1920er Jahre beigetragen hat.
[1] Essay zur Quelle: Der Aufruf der 93 „An die Kulturwelt!“ (1914).
Literaturhinweise:
Flasch, Kurt, Die geistige Mobilmachung. Die deutschen Intellektuellen und der Erste Weltkrieg. Ein Versuch, Berlin 2000
Hirschfeld, Gerhard; Krumeich, Gerd; Renz, Irina (Hg.), Enzyklopädie Erster Weltkrieg, 2. Aufl., Paderborn 2004
Mommsen, Wolfgang J. (Hg.), Kultur und Krieg. Die Rolle der Intellektuellen, Künstler und Schriftsteller im Ersten Weltkrieg, München 1996
Ungern-Sternberg, Jürgen von; Ungern-Sternberg, Wolfgang von, Der Aufruf "An die Kulturwelt!" Das Manifest der 93 und die Anfänge der Kriegspropaganda im Ersten Weltkrieg. Mit einer Dokumentation, Stuttgart 1996