Minderheitenschutzvertrag zwischen den Alliierten und Assoziierten Hauptmächten und Polen (Versailles, 28. Juni 1919)[1]
Die Vereinigten Staaten von Amerika, das Britische Reich, Frankreich, Italien und Japan, die Alliierten und Assoziierten Hauptmächte einerseits[2]
in Anbetracht, dass die Alliierten und Assoziierten Mächte durch den Erfolg ihrer Waffen der polnischen Nation die Unabhängigkeit gegeben haben, deren sie ungerechterweise beraubt war;
in Anbetracht, dass durch die Proklamation vom 30. März 1917 die russische Regierung der Wiederherstellung eines unabhängigen polnischen Staates zugestimmt hat;
dass ferner der polnische Staat, der jetzt tatsächlich die Souveränität über die überwiegend von Polen bewohnten Teile des alten russischen Kaiserreichs ausübt, von den Alliierten und Assoziierten Hauptmächten schon als souveräner Staat anerkannt worden ist;
in Anbetracht ferner, dass kraft des von den Alliierten und Assoziierten Hauptmächten mit Deutschland geschlossenen Friedensvertrages, den Polen mitunterzeichnet hat, gewisse Gebiete des alten deutschen Kaiserreiches in das Gebiet Polens einverleibt werden;
und dass nach dem Wortlaute des genannten Friedensvertrages die Grenzen Polens, die noch nicht festgesetzt sind, später durch die Alliierten und Assoziierten Hauptmächte bestimmt werden sollen;
unter Bestätigung ihrer Anerkennung des polnischen Staates innerhalb der genannten Grenzen als Gliedes der Familie der Nationen, als souverän und unabhängig und weiter im Bestreben, die Ausführung des Artikels 93 des genannte Friedensvertrages mit Deutschland sicherstellen;
Polen andererseits,
das seine Einrichtungen den Grundsätzen der Freiheit und Gerechtigkeit anzupassen und davon allen Einwohnern der Gebiete, über die es die Souveränität übernommen hat, eine sichere Gewähr zu bieten wünscht,
haben zu diesem Zwecke, und zwar die hohen vertragschließenden Teile vertreten, wie folgt […] nach Austausch ihrer Vollmachten, die als gut und formrichtig anerkannt wurden, die nachfolgenden Vereinbarungen vereinbart:
Artikel 1
Polen verpflichtet sich, die in den Artikeln 2-8 dieses Kapitels enthaltenen Bestimmungen als Grundgesetz abzuerkennen, mit der Wirkung, dass kein Gesetz, keine Vereinbarung oder keine amtliche Handlung im Gegensatz oder Widerspruch zu ihnen stehen, und dass kein Gesetz, keine Verordnung und keine amtliche Handlung gegen sie Geltung beanspruchen darf.
Artikel 2
Die polnische Regierung verpflichtet sich, allen Einwohnern ohne Unterschied der Geburt, der Staatsangehörigkeit, der Sprache, des Volkstums und der Religion den umfassendsten Schutz ihres Lebens und ihrer Freiheit zu gewähren.
Allen Einwohnern Polens soll das Recht auf freie private und öffentliche Ausübung jeden Bekenntnisses, jeder Religion oder Weltanschauung haben, deren Betätigung nicht mit der öffentlichen Ordnung und den guten Sitten unvereinbar ist.
Artikel 3
Polen anerkennt als polnische Staatsangehörige rechtmäßig ohne jede Förmlichkeit die deutschen, österreichischen, ungarischen oder russischen Staatsangehörigen, die im Augenblicke des Inkrafttretens des gegenwärtigen Vertrages in dem Gebiete wohnen, welches als Teil Polens schon anerkannt ist oder noch wird, jedoch unbeschadet aller Bestimmungen der Friedensverträge mit Deutschland oder Österreich hinsichtlich derjenigen Personen, die in diesen Gebieten nach einem bestimmten Datum ihren Wohnsitz nehmen. Gleichwohl haben alle obenbezeichneten Personen, die über 18 Jahre alt sind, das Recht, unter den in den genannten Verträgen vorgesehenen Bedingungen für jede andere Nationalität, die ihnen offen steht, zu optieren. Die Option des Ehemannes schließt die der Ehefrau ein, die der Eltern derjenigen ihrer Kinder unter 18 Jahren.
Die Personen, die das erwähnte Optionsrecht ausgeübt haben, müssen innerhalb der nächstfolgenden 12 Monate, soweit nicht Bestimmungen des Friedensvertrages mit Deutschland entgegenstehen, ihren Wohnsitz in den Staat verlegen, zu dessen Gunsten sie optiert haben. Sie sind berechtigt, ihren unbeweglichen Besitz im polnischen Gebiet zu behalten. Sie dürfen ihr bewegliches Eigentum jeder Art mit sich nehmen. Dabei darf ihnen keinerlei Ausfuhrzoll auf solches Gut auferlegt werden.
Artikel 4
Polen anerkennt als polnische Staatsangehörige rechtmäßig und ohne jede Förmlichkeit Personen deutscher, österreichischer, ungarischer oder russischer Nationalität, die in den genannten Gebieten von daselbst ihren Wohnsitz habenden Eltern geboren wurden, wenngleich sie selbst ihren Wohnsitz z. Z. des Inkrafttretens des gegenwärtigen Vertrages dort nicht haben.
Gleichwohl können solche Personen innerhalb von 2 auf das Inkrafttreten des gegenwärtigen Vertrages folgenden Jahren vor den zuständigen polnischen Behörden ihres Aufenthaltslandes erklären, dass sie auf die polnische Staatsangehörigkeit verzichten, und sie werden alsdann nicht mehr als polnische Staatsangehörige angesehen. In dieser Hinsicht gilt die Erklärung des Ehemannes als verbindlich für die Ehefrau, die der Eltern für die Kinder unter 18 Jahren.
Artikel 5
Polen verpflichtet sich keinerlei Hindernisse der Ausübung des Optionsrechtes zu bereiten, wie es in den von den Alliierten und Assoziierten Mächten mit Deutschland, Österreich, Ungarn oder Russland abgeschlossenen oder noch zu schließenden Verträgen vorgesehen ist und den Beteiligten gestattet, die polnische Nationalität zu erwerben oder nicht zu erwerben.
Artikel 6
Die polnische Staatsangehörigkeit wird rechtmäßig schon durch die Tatsache der Geburt auf polnischem Gebiete für jede Person erworben, die keine andere Staatsangehörigkeit für sich geltend machen kann.
Artikel 7
Alle polnischen Staatsangehörigen sind vor dem Gesetze gleich und genießen ohne Unterschied des Volkstums, der Sprache oder der Religion die gleichen bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte.
Der Unterschied der Religion, der Weltanschauung oder des Bekenntnisses soll keinem polnischen Staatsangehörigen im Genuss der bürgerlichen oder staatsbürgerlichen Rechte schaden, insbesondere bei der Zulassung zu öffentlichen Ämtern, Tätigkeiten und Ehrenstellungen oder bei der Ausübung der verschiedenen Berufe und Gewerbe.
Kein polnischer Staatsangehöriger darf in dem freien Gebrauch einer beliebigen Sprache irgendwie beschränkt werden, weder in seinen persönlichen oder wirtschaftlichen Beziehungen, noch auf dem Gebiete der Religion, der Presse oder bei Veröffentlichungen jeder Art, noch endlich in öffentlichen Versammlungen.
Unbeschadet des Rechts der polnischen Regierung, eine Staats- und Amtssprache zu bestimmen, müssen den fremdsprachigen Staatsangehörigen für den schriftlichen oder mündlichen Gebrauch ihrer Sprache vor den Gerichten angemessene Erleichterungen gewährt werden.
Artikel 8
Die polnischen Staatsangehörigen, die zu einer völkischen, religiösen oder sprachlichen Minderheit gehören, sollen die gleiche Behandlung und die gleichen rechtlichen und tatsächlichen Sicherheiten genießen wie die übrigen polnischen Staatsangehörigen. Sie sollen insbesondere das gleiche Recht haben, auf ihre Kosten Wohlfahrts-, religiöse oder soziale Einrichtungen sowie Schulen und andere Erziehungsanstalten zu errichten, zu leiten und zu beaufsichtigen und ihre Religion frei auszuüben.
Artikel 9
Auf dem Gebiete des öffentlichen Unterrichts soll die polnische Regierung in den Städten und Bezirken, in denen fremdsprachige polnische Staatsangehörige in beträchtlichem Verhältnis wohnen, angemessene Erleichterungen schaffen, um sicherzustellen, dass den Kindern dieser polnischen Staatsangehörigen in den niederen Schulen der Unterricht in ihrer eigenen Sprache erteilt wird. Diese Bestimmung soll nicht ausschließen, dass die polnische Regierung in diesen Schulen die polnische Sprache zum Pflichtfache macht.
In den Städten und Bezirken, in denen polnische Staatsangehörige einer völkischen, religiösen oder sprachlichen Minderheit in beträchtlichem Verhältnis wohnen, soll für diese Minderheiten ein gerechter Anteil an dem Genusse und der Verwendung der Summen sichergestellt werden, die in staatlichen, kommunalen oder anderen Haushaltsplänen für Zwecke der Erziehung, der Religion oder der Wohlfahrt ausgeworfen werden.
Die Bestimmungen des gegenwärtigen Artikels dürfen nur auf die polnischen Staatsangehörigen deutscher Zunge in denjenigen Teilen Polens angewendet werden, die am 1. August zum deutschen Gebiet gehörten.
Artikel 10
Örtliche Schulausschüsse, die von den jüdischen Gemeinden eingesetzt werden, sollen unter der allgemeinen Aufsicht des Staates die Verteilung des verhältnismäßigen Anteils, der den jüdischen Schulen gemäß Artikel 9 zusteht, sowie die Einrichtung und Leitung dieser Schulen sicherstellen. Die Bestimmungen des Artikel 9 über den Gebrauch der Sprache finden auf diese Schulen Anwendung.
Artikel 11
Die Juden dürfen nicht gezwungen werden, irgendwelche Handlungen vorzunehmen, die eine Verletzung ihres Sabbat in sich schließen, und sie dürfen keine Entrechtung erleiden, wenn sie sich weigern, am Sabbat vor den Gerichten zu erscheinen oder Rechtshandlungen vorzunehmen. Diese Bestimmung befreit jedoch die Juden nicht von den Pflichten, die allen polnischen Staatsangehörigen im Hinblick auf die Notwendigkeit des Heeresdienstes, der nationalen Verteidigung oder der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung obliegen.
Polen erklärt, dass es nicht beabsichtigt, allgemeine oder örtliche Wahlen an einem Sonnabend vorzuschreiben oder zu gestatten; es darf keine obligatorische Einstellung in Wählerlisten und dergleichen an einem Sonnabend stattfinden.
Artikel 12
Polen ist damit einverstanden, dass insoweit die Bestimmungen der vorstehenden Artikel Personen einer völkischen, religiösen oder sprachlichen Minderheit betreffen, diese Bestimmungen Verpflichtungen von internationalem Interesse begründen und unter der Garantie des Völkerbundes gestellt werden. Sie können nur mit Zustimmung der Mehrheit des Völkerbundes geändert werden. Die Vereinigten Staaten von Amerika, das Britische Reich, Frankreich, Italien und Japan verpflichten sich, keiner Änderung der bezeichneten Artikel ihre Zustimmung zu versagen, wenn sie von der Mehrheit des Völkerbundrates formgerecht angenommen worden ist.
Polen ist damit einverstanden, dass jedes Mitglied des Völkerbundrates befugt ist, die Aufmerksamkeit des Rates auf jede Verletzung oder jede Gefahr einer Verletzung irgendeiner dieser Verpflichtungen zu lenken, und dass der Rat befugt ist, alle Maßnahmen zu treffen und alle Weisungen zu geben, die nach Lage des Falles zweckmäßig und wirksam erscheinen.
Polen ist ferner damit einverstanden, dass im Falle einer Meinungsverschiedenheit zwischen der polnischen Regierung und einer jeden alliierten und assoziierten Hauptmacht oder jede Macht, die Mitglied des Völkerbundrates ist, über die rechtlichen und tatsächlichen Fragen, die diese Artikel betreffen, diese Meinungsverschiedenheit als Streit anzusehen ist, die im Sinne des Artikels 14 der Völkerbundsatzung internationalen Charakter trägt. Die polnische Regierung ist damit einverstanden, dass jeder Streit dieser Art auf Verlangen des anderen Teiles vor den Ständigen Internationalen Gerichtshof gebracht wird. Die Entscheidung des Ständigen Gerichtshofs soll endgültig sein und dieselbe Kraft und Wirkung haben wie eine auf Grund des Artikels 13 der Völkerbundsatzung gefällte Entscheidung. [...]
[1] Vertrag zwischen den Alliierten und Assoziierten Hauptmächten und Polen, abgeschlossen zu Versailles am 28. Juni 1919, in: Kraus, Herbert (Hg.), Das Recht der Minderheiten. Materialien zur Einführung in das Verständnis des modernen Minoritätenproblems (= Stilke’s Rechtsbibliothek 57), Berlin 1927, S. 65-71.
[2] Nach dem Muster des vorliegenden Vertrags wurden Minderheitenschutzverträge mit folgenden Staaten unterzeichnet: Österreich, Tschechoslowakei, Jugoslawien, Bulgarien, Rumänien, Ungarn, Griechenland und Türkei. Einseitige Minderheitenschutzdeklarationen vor dem Völkerbundsrat wurden nach demselben Muster von Albanien und Litauen abgegeben.
Zugehöriger Essay: Staatsbürgerschaft und Minderheitenschutz. "Managing diversity" im östlichen und westlichen Europa.