György Konrád, Mein Traum von Europa (September 1985)

Bis wohin erstreckt sich Europa? Vom Atlantischen Ozean bis zur Elbe? Bis zur sowjetischen Grenze? Bis zum Ural? Bis zum Stillen Ozean? Gehören nur die Länder des Gemeinsamen Marktes zu Europa, die neutralen Staaten Westeuropas nicht? Und was ist mit uns Osteuropäern, die wir uns lieber als Mitteleuropäer bezeichnen? [...]

György Konrád: Mein Traum von Europa (September 1985)[1]

Der demokratische Nationalismus und der Nationalstaat

Bis wohin erstreckt sich Europa? Vom Atlantischen Ozean bis zur Elbe? Bis zur sowjetischen Grenze? Bis zum Ural? Bis zum Stillen Ozean? Gehören nur die Länder des Gemeinsamen Marktes zu Europa, die neutralen Staaten Westeuropas nicht? Und was ist mit uns Osteuropäern, die wir uns lieber als Mitteleuropäer bezeichnen?

Es ist mir sympathisch, wenn der wirtschaftlichen Integration in den Ländern des Gemeinsamen Marktes die politische Integration folgt. Es ist gut, wenn sich mit der ersten Person Plural nicht nur eine nationale Gemeinschaft, sondern ein halber Kontinent verbindet. Der supranationale Zusammenschluß erhöht die Selbständigkeit der Agglomerationen und Regionen innerhalb des Nationalstaats. Als geschlossene Einheiten sind die europäischen Nationalstaaten ziemlich provinziell; Europäer zu sein ist wenigstens so vernünftig wie Franzose oder Ungar zu sein. Die Union des kleinen Europa - ein Weg zur Union des großen Europa.

Ist Europa groß? Keineswegs. Es ist eine feingliedrige und rege westliche Halbinsel Eurasiens. Das kleine Westeuropa irrt, wenn es sich mit Europa im allgemeinen identifiziert. Es irrt, wenn es sich, indem es dem Osten den Rücken zukehrt, innerhalb des Blocksystems Ruhe und Sicherheit erhofft. Selbst seine inneren Konflikte wird es erst dann lösen können, wenn es die Utopie von der Einheit Europas vorantreibt. Die Idee der europäischen Identität steht im Widerspruch zur dauerhaften Stabilität des Blocksystems. [...]

In einer konstitutionellen europäischen Friedensordnung würden die osteuropäischen Länder militärisch neutral sein und zur Sowjetunion gutnachbarliche Beziehungen unterhalten. Ebenso wie Finnland. Polen, Tschechen und Ungarn sehnen sich nach einer Finnlandisierung. Durch stufenweise geschlossene Verträge könnten wir zu dieser Station der Emanzipation gelangen. Nur so wäre eine Entwicklung zu ausgeglichenen, demokratisch-sozialistischen Gesellschaften vorstellbar, in denen ein eventueller Regierungswechsel nicht gleichbedeutend sein würde mit einem Systemwechsel.

Die Sowjetunion besitzt ein Recht auf unsere Freundschaft, nicht aber auf die Bestimmung unseres gesellschaftlich-politischen Systems. Wünschenswert für unsere Länder sind die militärische Neutralität, die wirtschaftliche-kulturelle Kooperation und im Inneren die Selbstbestimmung. Sozialistische und kapitalistische Elemente in Wirtschaft und Kultur sollten sich ganz nach den Bedürfnissen unserer Gesellschaft durchsetzen können. [...]

Der demokratische Sozialismus osteuropäischer Prägung wäre auch für den westeuropäischen Raum, wo die sozialistischen und sozialdemokratischen Parteien heute nicht nur durch die konservativen und liberalen Parteien, sondern auch durch das bedrückende Beispiel des osteuropäischen Staatssozialismus in ihrer Rolle als Erneuerer behindert werden, ein lehrreiches Versuchslabor. Es könnte sich eine Kultur entwickeln, die nicht nur innerhalb der Staatsgrenzen demokratische und verfassungsmäßige Verhältnisse beanspruchen, sondern die Europäer zu Bürgern eines zivilen Europa machen würde.

Wenn sich der Sozialismus von der Zwangsvorstellung trennen könnte, daß der Nationalstaat sein einziges zuverlässiges Medium sei, könnte er als mehrdimensionale, pluralistische, komplexe Gesellschaft imponieren, deren vornehmstes und auf unveräußerlichen Rechten bestehendes Subjekt (im Sinne der europäischen Kulturtradition) der zivile Bürger wäre: wenigstens ebenso Bürger Europas wie des Nationalstaats. [...]

Gibt es noch einen Traum von Mitteleuropa?

Ja, es gibt noch einen Traum von Mitteleuropa. Er erfordert jedoch einige Bildung, historische Einsicht und philosophische Unvoreingenommenheit. Die Massenkulturen sind national. Der mitteleuropäische Traum ist kein massenkulturelles Phänomen, er ist romantisch und subversiv.

Der Begriff Mitteleuropa transzendiert die Blockgrenzen und läßt sie zweifelhaft erscheinen. [...]

Ein gegenseitiges besseres Kennen- und Verstehenlernen setzt voraus, daß wir uns frei machen von unseren Minderwertigkeitskomplexen. Heute schämen wir uns noch ein bißchen für den anderen. Wie die armen Verwandten. Solange wir uns nicht gegenseitig entdecken, bleiben wir provinziell.

Wir sind Kinder kleiner und mittelgroßer Völker. Wir mögen ein bis zweihundert Millionen Mitteleuropäer sein. Es gibt schon viele, die sich so sehen. Ich halte es für wahrscheinlich, daß diese Qualifikation Mode werden wird. Wir brauchen diesen konzentrischen Kreis einer Erweiterung unseres persönlichen Selbstbewußtseins. [...]

Zu Mitteleuropa gehört eigentlich auch das deutsche Volk, das mehrere Male vergebens versuchte, die umliegenden Völker zu unterwerfen, während die eigene Selbstbestimmung chronisch krank war. Dieser Größenwahnsinn des deutschen Reiches führte dazu, daß es heute kein Mitteleuropa gibt und sich die Kontakte zwischen unseren Völkern vermutlich auf einer niedrigeren Stufe bewegen als vor hundert Jahren.

In unserer Gegend ist der homogene Nationalstaat die Ausnahme und als Norm nicht brauchbar. Zu unserer heterogenen Wirklichkeit passen keine homogenen Vorstellungen und Formen. Wir sind nicht einsprachig, verschiedene Wertsysteme und Denkweisen bestehen nebeneinander.

Die mitteleuropäische Idee bedeutet die blühende Vielfalt der Bestandteile, des Selbstbewußtseins der Diversität. [...]

Einer kleinen Nation angehören heißt, mehr lernen müssen als andere.

Können wir uns organisch über das Nationale hinweg ausdehnen? Bis zum nächstliegenden Kreisring, bis nach Mitteleuropa. Der Weg zu Europa und zur weiten Welt führt über Mitteleuropa.

Mitteleuropäer ist der, dessen staatliche Existenz und dessen staatlicher Kontext irgendwie künstlich ist und nicht ganz seinem Realitätsempfinden entspricht. Wenn sich die mitteleuropäischen Städte voneinander entfremden, so ist das ein künstlicher Zustand. Solange wir von Budapest aus nicht ohne Genehmigung für einen Opernbesuch nach Wien fahren dürfen, entspricht unsere Lage nicht der Friedenszeit.

Mitteleuropäer ist der, den die Teilung unseres Erdteils verletzt, berührt, behindert, beunruhigt und beengt. In den vergangenen Jahrhunderten haben wir unsere Aufgaben erfüllt. Wir haben den Osten und den Westen voneinander getrennt und ihn einander näher gebracht. Gäbe es ein selbstbewußtes Mitteleuropa, dann könnte von dort eine Inspiration zu einer europäischen Friedensregelung kommen.

Mitteleuropäer ist, wer die Teilung Europas weder für natürlich noch für endgültig hält. Möglicherweise könnte die Europäisierung Europas durch die Mitteleuropäisierung Mitteleuropas erst richtig vorankommen. Aus unserer Lage ergibt sich eine Philosophie der paradoxen Mitte, die eigentlich analog ist zu einer europäischen Ideologie. [...]

Wir kokettieren mit dem Begriff des Schicksals, wir sind daran gewöhnt, die Niederlage für verhängnisvoll zu halten und nicht für einen Fehler, der zu beheben ist. Wir neigen verdächtig zum Pathos, deshalb sind wir ironisch. Da wir uns gern in einer tragischen Rolle sehen, nehmen wir das Bestehende mit östlicher Ergebenheit hin. Wir sind eine ziemlich phantastische und groteske Menge von halsstarrigen Subjekten, die sich ihrer Umgebung nicht unterwerfen. [...]

Im Vergleich zur geopolitischen Realität Osteuropas und Westeuropas existiert Mitteleuropa heute lediglich als eine kulturpolitische Antihypothese. Da es Mitteleuropa de facto nicht gibt, ist der mitteleuropäische Standpunkt ein blocktranszendenter. Mitteleuropäer zu sein ist eine Weltanschauung, keine Staatsangehörigkeit. [...]

Die Verbreitung der Mitteleuropa-Idee hängt mit dem Wunsch zusammen, daß wir im eigenen Schicksal Subjekte sein wollen und nicht Objekte. Als jeweilige Nation können wir weder souverän noch originell sein. Die Städte Mitteleuropas bleiben unrettbar provinziell, solange sie sich nicht zusammen mit den anderen als Städtesternhaufen betrachten. [...]

Mitteleuropa hat seine Souveränität seit tausend Jahren nicht aufgegeben. Warum sollte es sie gerade jetzt aufgeben? Mitteleuropäer zu sein ist heute für die herrschenden Klischeesysteme eine Herausforderung. Wir haben eine blocktranszendierende Interessen-, man könnte fast sagen Schicksalsgemeinschaft. Es ist einfach unmöglich, den anderen zu vergessen, wenn wir wechselseitig verschmutztes oder sauber gehaltenes Wasser trinken. Wie sollten wir voneinander unabhängig sein, wenn es in unserer Macht steht, uns gegenseitig zu vergiften?

Vielleicht ist Mitteleuropa tatsächlich eine konservative Idee, aber mich interessiert ein Roman mehr als die neueste Technologie, und ich sehe unsere Umgebung gerne romanhaft. Allein die Vorstellung und das Festhalten daran, daß die östliche und die westliche Hälfte zusammen Europa bilden, ist schon romanhaft. [...]

Der Mensch wird dumm und häßlich, wenn er keine Utopie hat. Man kann die Idee Mitteleuropas für eine halsstarrige Träumerei halten, allerdings besteht die Besonderheit des Phänomens darin, daß viele Menschen in Mitteleuropa dieses Bewußtsein brauchen, das scheinbar weiter ist als das nationalstaatliche Selbstbewußtsein. Ohne Mitteleuropa bleiben alle unsere größeren Städte Endstationen, Grenzstädte, vielleicht sogar Frontstädte. Wenn wir keine Strategie haben, sind wir Statisten und Opfer. [...]


[1] Konrád, György, Mein Traum von Europa, in: Kursbuch, Nr. 81, September 1985, S. 175-193.


György Konráds „Mein Traum von Europa“: Die Mitteleuropadiskussion der 1980er Jahre.[1]

Von Steffi Franke

Der Essay des ungarischen Schriftstellers György Konrád „Mein Traum von Europa“ steht neben Milan Kunderas berühmten Diktum vom „occident kidnappé“ [2] (1984) am Beginn einer intensiven Diskussion über Mitteleuropa. Diese beschäftigte während der achtziger Jahre dissidente und exilierte Intellektuelle und Künstler in und aus der Tschechoslowakei, Ungarn, Polen, teilweise auch der DDR, aber ebenso zunehmend westliche Intellektuelle und Politiker. Dabei ging es im Allgemeinen um die Identität und Einheit Europas und im Besonderen um das Selbstverständnis jener Länder, die damals im sowjetischen Einflussbereich lagen, historisch jedoch auf eine lange Geschichte der Verbundenheit mit dem westlichen Europa zurückblicken konnten. Außer in Samizdat-Publikationen fand die Diskussion in einer Reihe internationaler Foren statt. Dazu gehörte die Zeitschrift „Cross Currents A Yearbook of Central European Culture“, die 1982 vom Slavic Department der Universität Michigan mit dem Ziel begründet wurde, die Kultur und Geschichte derjenigen Nationen zu bewahren, die durch den Eisernen Vorhang von der Bildfläche westlicher Wahrnehmungen zu verschwinden drohten;[3] außerdem das westdeutsche „Kursbuch“ und die in New York erscheinende „Social Research. An International Quarterly of the Social Sciences“ mit ihren thematischen Serien zu Ostmitteleuropa.

György Konráds 1985 im „Kursbuch“ veröffentlichter „Traum von Europa“, der in den folgenden Ausführungen im Mittelpunkt steht, repräsentiert dabei nicht nur eine Debatte, die gegen Ende des Kalten Krieges einigen Einfluss erlangte. Er kann gleichermaßen als Etappe einer lang andauernden Selbstverständigung Europas über seine Identität gelten und damit dem Prozess des modernen mental mapping Europas zugeordnet werden. Dessen Teilung in Ost und West mit Hilfe kultureller Kriterien hatte sich im Zuge der Aufklärung herausgebildet.[4] Zwischen diese beiden Hälften des Kontinents schob sich am Ende des 19. Jahrhunderts die Vorstellung einer „Mitte“. Seither wird über deren geografische, kulturelle und politische Bestimmung wie auch über deren Bedeutung und Funktion für die Einheit, Identität und politische Gliederung des Kontinents gestritten.

Im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert können in der Diskussion über die Mitte Europas bzw. Mitteleuropa zunächst zwei Argumentations- und Traditionsstränge unterschieden werden. Die erste Variante stand im Zusammenhang mit den Hegemoniebestrebungen des Deutschen Kaiserreichs und war von Friedrich Naumann 1915 richtungweisend formuliert worden.[5] Die nationalsozialistische Ideologie und Praxis entwickelte diese für die Begründung des Vernichtungskriegs im Osten weiter, sodass dieser Entwurf zum Synonym für deutsche Allmachtsphantasien wurde. Eine zweite Auffassung von „Mitteleuropa“ stand für den habsburgisch geprägten Entwurf eines Vermittlungsraums zwischen der lateinischen, germanischen und slawischen Tradition. Diese Vorstellung basierte auf einer dynastischen Staatsauffassung, betonte die transnationalen und regionalen Beziehungen und verwarf das Konzept der Staatsnation. Dahinter stand die Idee eines organischen Raums der Vielfalt, dessen gemeinsame Interessen in der geopolitischen Lage einerseits und in der Vermittlung dieser Vielfalt andererseits liegen. Die Überlegungen T.G. Masaryks, nach 1918 der erste tschechoslowakische Präsident, schlossen daran an. Er entwarf Mitteleuropa als Zone der „kleinen“, demokratischen Staaten zwischen Deutschland und Russland.[6]

Nach dem Zweiten Weltkrieg schien die Mitte Europas durch die politische Teilung des Kontinents verloren gegangen zu sein. Winston Churchill beschrieb es damals so: „From Stettin in the Baltic to Trieste in the Adriatic an iron curtain has descended across the Continent. Behind that line lie all the capitals of the ancient states of Central and Eastern Europe.”[7] Vierzig Jahre später, vor dem Hintergrund des mit der KSZE eingeleiteten Entspannungsprozesses, der Abrüstungsdebatte und der Perestroika in der Sowjetunion unter Michail Gorbatschow, gewannen die Gebiete und Gesellschaften gleich hinter dem Eisernen Vorhang wieder mehr Sichtbarkeit und Gewicht in der westlichen Wahrnehmung. In den heute als ostmitteleuropäisch bezeichneten Ländern war zuvor eine Reihe von Ausbruchsversuchen aus dem Ostblock gescheitert: die ungarische Revolution 1956, die polnischen Aufstände 1956, 1968, 1970, 1976 und 1980/81 sowie der PragerFrühling 1968. Der Mitteleuropa-Diskurs tschechoslowakischer, ungarischer und polnischer Prägung entfaltete in den 1980er Jahren eine neue Qualität und Dynamik, weil hier versucht wurde, über die Grenzen des Ostblocks hinweg, auch an den Westen adressiert und für diesen wahrnehmbar, mithilfe des Begriffs „Mitteleuropa“ Gegenentwürfe und Alternativstrategien zur damals bestehenden politischen Ordnung Europas zu entwickeln. Dabei sprachen aus ihm nicht eine gemeinschaftliche, sondern viele verschiedene Stimmen, die sich aber alle gemeinsam auf die Position und Gestalt der Mitte Europas im Verhältnis zu Ost und West sowie auf den Charakter des gesamten Kontinents und die daran geknüpften politischen und kulturellen Visionen bezogen. Eine Strömung ist dabei unter anderem mit dem Namen Václav Havels verknüpft, der mit seinem Modell der Antipolitik die Logik des Politischen grundsätzlich in Frage stellte und in seine Zivilisationskritik auch den Westen einschloss. Eine gesonderte Rolle nahm die Mitteleuropadiskussion in Polen ein, wo der Begriff das Stigma der deutschen expansionistischen Tradition schwer loswerden konnte.

Konrád kam in der Diskussion eine vermittelnde Position zu, u.a. in Bezug auf seine Bewertung der Blockkonfrontation und deren Ursachen. Er forderte dabei auch eine kritische Haltung gegenüber der ostmitteleuropäischen Geschichte. Milan Kundera, der damals wohl prominenteste Vertreter der Mitteleuropadebatte, betonte dagegen unversöhnlich die Differenz zum „russischen“ Osten, hob den Opferstatus der Völker der Region hervor und hatte keine Zweifel an der Zugehörigkeit Mitteleuropas zum Westen.

Das Verhältnis zu Russland und der Sowjetunion spielte für die Diskussion, wie auch schon in den erwähnten älteren Traditionen, eine besondere Rolle. Die zivilisatorische Konfrontation Mitteleuropas mit „Osteuropa“, womit im Wesentlichen Russland und die Sowjetunion gemeint waren, wurde damals und wird bis heute von einer ganzen Reihe ostmitteleuropäischer Intellektueller betont. Für sie war und ist Russland das europäische „Andere“ und seine Kultur, seine Geschichte, seine Bestimmung seien grundlegend von denen des Westens zu unterscheiden. Konrád vertrat 1985 auch hier eine moderate Haltung: „Die Sowjetunion besitzt ein Recht auf unsere Freundschaft, nicht aber auf die Bestimmung unseres gesellschaftlich-politischen Systems.“[8]

Konráds Essay von 1985 enthielt zentrale Muster der Mitteleuropadiskussion, bot aber Nuancen an. Der Verfasser ordnete den mitteleuropäischen Raum nicht so eindeutig dem Westen zu, wie dies Kundera in seinem ein Jahr früher erschienen Essay getan hatte.[9] Er problematisierte außerdem die Gleichsetzung Westeuropas mit Europa schlechthin. Konráds „Mitte Europas“ stellte die Teilung des Kontinents radikal in Frage, sie ist in diesem Zusammenhang aber weniger geographisch bestimmt. Ihre räumliche Ausdehnung war dabei immer umstritten. Am einfachsten schien die Abgrenzung nach Westen, gegenüber Frankreich, erheblich diffuser blieb dies Richtung Osten. Die Diskussion der achtziger Jahre suchte die Antwort auf dieses Problem nicht so sehr in der Geografie und Politik als in der Kultur und Mentalität. So formulierte der polnische Literaturnobelpreisträger Czeslaw Milosz 1986 in der eingangs erwähnten amerikanischen Zeitschrift „Cross Currents“: „Central Europe is hardly a geographical notion. […] The ways of feeling and thinking of its inhabitants must thus suffice for drawing mental lines which seem to be more durable than the borders of the states.”[10] Die gemeinsame Geschichte und Kultur, insbesondere des frühen zwanzigsten Jahrhunderts, begründeten die räumliche Definition der Zusammengehörigkeit. György Konrád ging auch in diesem Punkt noch einen Schritt weiter: Ob jemand Mitteleuropäer ist oder nicht, sei eine Frage der Weltanschauung und der Einstellung.

Ein zentrales Argument innerhalb der Mitteleuropadiskussion war das Verhältnis der so genannten „kleinen“ Nationen zu ihrer Geschichte. Die „großen“ westeuropäischen Nationen könnten sich als Subjekt ihrer eigenen Geschichte verstehen, wogegen die „kleinen“ ihr stärker ausgeliefert und permanent in ihrer Existenz bedroht seien. „For us, every new turn of history has brought great losses. We spend a lot on history, we have an ongoing affair with it, we love it, we hate it; after supper we can argue heatedly over five hundred years of events”, schrieb György Konrád 1986.[11] Er plädierte dafür, sich aus dieser scheinbaren Unmündigkeit zu befreien.[12] In einem späteren Aufsatz, der 1990 veröffentlicht wurde, als die Einigung Europas schon greifbar schien, wurde er mit Blick auf die Judenvernichtung noch deutlicher: „Die Geschichte des 20. Jahrhunderts hier in Osteuropa ist ziemlich trostlos [...]. Die Ermordung von zwei Dritteln des europäischen Judentums war nicht nur das Werk der Deutschen. Die faschistischen Bewegungen der gesamten Region haben dabei mitgewirkt.“[13]

Prägend für die gesamte Mitteleuropadiskussion war der Versuch der Vermittlung von Nation und übernationalem Raum. Letzterer steht bei Konrád im Zentrum. Dieser Raum wurde als Gemeinschaft von „kleinen“ Nationen beschrieben, die ständig durch die Ambitionen der mächtigeren in ihrer Existenz bedroht seien. Der Eigenwert der mitteleuropäischen Völker speise sich aber aus der Teilhabe an gemeinsamen historischen und kulturellen Erfahrungen. Die Verflechtung mit anderen nationalen Kulturen sei die Quelle der eigenen Stärken, einer anderen Art von „Größe“. Auch die Entwicklung des westlichen Europa wurde kritisch bewertet. „Die Idee der europäischen Identität“ stand laut Konrád „im Widerspruch zur dauerhaften Stabilität des Blocksystems“. „Mitteleuropäer zu sein ist heute für die herrschenden Klischeesysteme eine Herausforderung.“[14] Die westliche Identitätskrise, die sich exemplarisch und radikalisiert im Schicksal Mitteleuropas zeige, könne genau hier gelöst werden. Mitteleuropa könne für Westeuropa „ein lehrreiches Versuchslabor“[15] werden: „Möglicherweise könnte die Europäisierung Europas durch die Mitteleuropäisierung Mitteleuropas erst richtig vorankommen.“[16]

Zusammenfassend bleibt festzuhalten: Der Diskurs über Mitteleuropa war immer auch eine Verständigung über europäische Identität und Werte, nicht nur für die heutigen ostmitteleuropäischen Neumitglieder der Europäischen Union, sondern mit dem Anspruch einer gesamteuropäischen Vision. Deshalb besitzt er bis heute Relevanz auch für die gegenwärtigen Diskussionen über europäische Identitäten, die Grenzen Europas, die Konstitution eines Kerneuropas und das Verhältnis zwischen alten und neuen EU-Mitgliedern. Der Konsens und Dissens über politisch-kulturelle Leitbegriffe wie Demokratie, Menschenrechte, Souveränität und Gerechtigkeit wird durch den historischen Mitteleuropadiskurs mitgeprägt. Seine genauere Betrachtung kann damit auch Aufschluss über Missverständnisse zwischen „alten“ und „neuen“ EU-Mitgliedern geben, die zwar alle die gleichen Begriffe verwenden, diesen aber aufgrund unterschiedlicher historischer Erfahrungen partiell eine andere Bedeutung geben. Die Kenntnis dieser Zusammenhänge sollte die Grundlage für den Dialog unter denjenigen sein, die sich heute über die Bedeutungen und Funktionen Europas verständigen.


[1] Essay zur Quelle: Konrád, György: Mein Traum von Europa ( September 1985)

[2] Vgl. den im Themenportal „Europäische Geschichte“ 2007 veröffentlichen Ausschnitt aus Kundera, Milan, Un occident kidnappé oder die Tragödie Zentraleuropas (1983) und den dazu gehörigen Essay von Ther, Philipp: Milan Kundera und die Renaissance Zentraleuropas, URL: http://www.europa.clio-online.de/2007/Article=153 (22.9.2008)

[3] Die Zeitschrift wurde 1993 eingestellt.

[4] Wolff, Larry, Inventing Eastern Europe. The Map of Civilization in the Mind of Enlightenment, Stanford 1995.

[5] Naumann, Friedrich, Mitteleuropa, Berlin 1915. Vgl. auch den im Themenportal „Europäische Geschichte“ 2008 veröffentlichten Essay von Kiesewetter, Hubert: Der Mitteleuropäische Wirtschaftsverein. Eine Schweizer Initiative im frühen 20. Jahrhundert, URL: http://www.europa.clio-online.de/2008/Article=126 (22.9.2008) sowie die dazu gehörende Quelle: Mitteleuropäischer Wirtschaftsverein. Bericht des französischen Generalkonsuls in Zürich über eine Diskussion in der Schweiz 1904.

[6] Vgl. u.a. LeRider, Jacques, Mitteleuropa. Auf den Spuren eines Begriffs, Wien 1994.

[7] Churchill, Winston, The Iron Curtain; in: Blood, Toil, Tears and Sweat: The Speeches of Winston Churchill, hg. von David Cannadine, Boston 1989, S. 303-305.

[8] Siehe Quelle.

[9] Vgl. Anm. 2.

[10] Milosz, Czeslaw, Central European Attitudes; in: Cross Currents 5 (1986), S. 101-108, hier S. 101.

[11] György Konrád, Is The Dream Of Central Europe Still Alive?; in: Cross Currents 5 (1986), S. 109-121, hier S. 114.

[12] Ebd., S. 184.

[13] Konrád, György, Die Melancholie der Wiedergeburt; in: Kursbuch 102 (Dezember 1990), S. 25-42, hier S. 41.

[14] Ebd., S. 192.

[15] Ebd. S. 183.

[16] Ebd. S. 187.


Literaturhinweise:

  • Churchill, Winston, „The Iron Curtain“; in: Blood, Toil, Tears and Sweat: The Speeches of Winston Churchill, hg. von David Cannadine, Boston 1989, S. 303-305.
  • Konrád, György, Mein Traum von Europa, in: Kursbuch 81 (1985), S. 175-193.
  • Ders., Is The Dream Of Central Europa Still Alive?, in: Cross Currents 5 (1986), S. 109-121
  • Ders., Die Melancholie der Wiedergeburt; in: Kursbuch 102 (Dezember 1990), S. 25-42.LeRider, Jacques, Mitteleuropa. Auf den Spuren eines Begriffs, Wien 1994.
  • LeRider, Jacques, Mitteleuropa. Auf den Spuren eines Begriffs, Wien 1994.
  • Milosz, Czeslaw, Central European Attitudes, in: Cross Currents 5 (1986), S. 101-108.
  • Naumann, Friedrich, Mitteleuropa, Berlin 1915.
  • Wolff, Larry, Inventing Eastern Europe. The Map of Civilization in the Mind of Enlightenment, Stanford 1995.