György Konrád: Mein Traum von Europa (September 1985)[1]
Der demokratische Nationalismus und der Nationalstaat
Bis wohin erstreckt sich Europa? Vom Atlantischen Ozean bis zur Elbe? Bis zur sowjetischen Grenze? Bis zum Ural? Bis zum Stillen Ozean? Gehören nur die Länder des Gemeinsamen Marktes zu Europa, die neutralen Staaten Westeuropas nicht? Und was ist mit uns Osteuropäern, die wir uns lieber als Mitteleuropäer bezeichnen?
Es ist mir sympathisch, wenn der wirtschaftlichen Integration in den Ländern des Gemeinsamen Marktes die politische Integration folgt. Es ist gut, wenn sich mit der ersten Person Plural nicht nur eine nationale Gemeinschaft, sondern ein halber Kontinent verbindet. Der supranationale Zusammenschluß erhöht die Selbständigkeit der Agglomerationen und Regionen innerhalb des Nationalstaats. Als geschlossene Einheiten sind die europäischen Nationalstaaten ziemlich provinziell; Europäer zu sein ist wenigstens so vernünftig wie Franzose oder Ungar zu sein. Die Union des kleinen Europa - ein Weg zur Union des großen Europa.
Ist Europa groß? Keineswegs. Es ist eine feingliedrige und rege westliche Halbinsel Eurasiens. Das kleine Westeuropa irrt, wenn es sich mit Europa im allgemeinen identifiziert. Es irrt, wenn es sich, indem es dem Osten den Rücken zukehrt, innerhalb des Blocksystems Ruhe und Sicherheit erhofft. Selbst seine inneren Konflikte wird es erst dann lösen können, wenn es die Utopie von der Einheit Europas vorantreibt. Die Idee der europäischen Identität steht im Widerspruch zur dauerhaften Stabilität des Blocksystems. [...]
In einer konstitutionellen europäischen Friedensordnung würden die osteuropäischen Länder militärisch neutral sein und zur Sowjetunion gutnachbarliche Beziehungen unterhalten. Ebenso wie Finnland. Polen, Tschechen und Ungarn sehnen sich nach einer Finnlandisierung. Durch stufenweise geschlossene Verträge könnten wir zu dieser Station der Emanzipation gelangen. Nur so wäre eine Entwicklung zu ausgeglichenen, demokratisch-sozialistischen Gesellschaften vorstellbar, in denen ein eventueller Regierungswechsel nicht gleichbedeutend sein würde mit einem Systemwechsel.
Die Sowjetunion besitzt ein Recht auf unsere Freundschaft, nicht aber auf die Bestimmung unseres gesellschaftlich-politischen Systems. Wünschenswert für unsere Länder sind die militärische Neutralität, die wirtschaftliche-kulturelle Kooperation und im Inneren die Selbstbestimmung. Sozialistische und kapitalistische Elemente in Wirtschaft und Kultur sollten sich ganz nach den Bedürfnissen unserer Gesellschaft durchsetzen können. [...]
Der demokratische Sozialismus osteuropäischer Prägung wäre auch für den westeuropäischen Raum, wo die sozialistischen und sozialdemokratischen Parteien heute nicht nur durch die konservativen und liberalen Parteien, sondern auch durch das bedrückende Beispiel des osteuropäischen Staatssozialismus in ihrer Rolle als Erneuerer behindert werden, ein lehrreiches Versuchslabor. Es könnte sich eine Kultur entwickeln, die nicht nur innerhalb der Staatsgrenzen demokratische und verfassungsmäßige Verhältnisse beanspruchen, sondern die Europäer zu Bürgern eines zivilen Europa machen würde.
Wenn sich der Sozialismus von der Zwangsvorstellung trennen könnte, daß der Nationalstaat sein einziges zuverlässiges Medium sei, könnte er als mehrdimensionale, pluralistische, komplexe Gesellschaft imponieren, deren vornehmstes und auf unveräußerlichen Rechten bestehendes Subjekt (im Sinne der europäischen Kulturtradition) der zivile Bürger wäre: wenigstens ebenso Bürger Europas wie des Nationalstaats. [...]
Gibt es noch einen Traum von Mitteleuropa?
Ja, es gibt noch einen Traum von Mitteleuropa. Er erfordert jedoch einige Bildung, historische Einsicht und philosophische Unvoreingenommenheit. Die Massenkulturen sind national. Der mitteleuropäische Traum ist kein massenkulturelles Phänomen, er ist romantisch und subversiv.
Der Begriff Mitteleuropa transzendiert die Blockgrenzen und läßt sie zweifelhaft erscheinen. [...]
Ein gegenseitiges besseres Kennen- und Verstehenlernen setzt voraus, daß wir uns frei machen von unseren Minderwertigkeitskomplexen. Heute schämen wir uns noch ein bißchen für den anderen. Wie die armen Verwandten. Solange wir uns nicht gegenseitig entdecken, bleiben wir provinziell.
Wir sind Kinder kleiner und mittelgroßer Völker. Wir mögen ein bis zweihundert Millionen Mitteleuropäer sein. Es gibt schon viele, die sich so sehen. Ich halte es für wahrscheinlich, daß diese Qualifikation Mode werden wird. Wir brauchen diesen konzentrischen Kreis einer Erweiterung unseres persönlichen Selbstbewußtseins. [...]
Zu Mitteleuropa gehört eigentlich auch das deutsche Volk, das mehrere Male vergebens versuchte, die umliegenden Völker zu unterwerfen, während die eigene Selbstbestimmung chronisch krank war. Dieser Größenwahnsinn des deutschen Reiches führte dazu, daß es heute kein Mitteleuropa gibt und sich die Kontakte zwischen unseren Völkern vermutlich auf einer niedrigeren Stufe bewegen als vor hundert Jahren.
In unserer Gegend ist der homogene Nationalstaat die Ausnahme und als Norm nicht brauchbar. Zu unserer heterogenen Wirklichkeit passen keine homogenen Vorstellungen und Formen. Wir sind nicht einsprachig, verschiedene Wertsysteme und Denkweisen bestehen nebeneinander.
Die mitteleuropäische Idee bedeutet die blühende Vielfalt der Bestandteile, des Selbstbewußtseins der Diversität. [...]
Einer kleinen Nation angehören heißt, mehr lernen müssen als andere.
Können wir uns organisch über das Nationale hinweg ausdehnen? Bis zum nächstliegenden Kreisring, bis nach Mitteleuropa. Der Weg zu Europa und zur weiten Welt führt über Mitteleuropa.
Mitteleuropäer ist der, dessen staatliche Existenz und dessen staatlicher Kontext irgendwie künstlich ist und nicht ganz seinem Realitätsempfinden entspricht. Wenn sich die mitteleuropäischen Städte voneinander entfremden, so ist das ein künstlicher Zustand. Solange wir von Budapest aus nicht ohne Genehmigung für einen Opernbesuch nach Wien fahren dürfen, entspricht unsere Lage nicht der Friedenszeit.
Mitteleuropäer ist der, den die Teilung unseres Erdteils verletzt, berührt, behindert, beunruhigt und beengt. In den vergangenen Jahrhunderten haben wir unsere Aufgaben erfüllt. Wir haben den Osten und den Westen voneinander getrennt und ihn einander näher gebracht. Gäbe es ein selbstbewußtes Mitteleuropa, dann könnte von dort eine Inspiration zu einer europäischen Friedensregelung kommen.
Mitteleuropäer ist, wer die Teilung Europas weder für natürlich noch für endgültig hält. Möglicherweise könnte die Europäisierung Europas durch die Mitteleuropäisierung Mitteleuropas erst richtig vorankommen. Aus unserer Lage ergibt sich eine Philosophie der paradoxen Mitte, die eigentlich analog ist zu einer europäischen Ideologie. [...]
Wir kokettieren mit dem Begriff des Schicksals, wir sind daran gewöhnt, die Niederlage für verhängnisvoll zu halten und nicht für einen Fehler, der zu beheben ist. Wir neigen verdächtig zum Pathos, deshalb sind wir ironisch. Da wir uns gern in einer tragischen Rolle sehen, nehmen wir das Bestehende mit östlicher Ergebenheit hin. Wir sind eine ziemlich phantastische und groteske Menge von halsstarrigen Subjekten, die sich ihrer Umgebung nicht unterwerfen. [...]
Im Vergleich zur geopolitischen Realität Osteuropas und Westeuropas existiert Mitteleuropa heute lediglich als eine kulturpolitische Antihypothese. Da es Mitteleuropa de facto nicht gibt, ist der mitteleuropäische Standpunkt ein blocktranszendenter. Mitteleuropäer zu sein ist eine Weltanschauung, keine Staatsangehörigkeit. [...]
Die Verbreitung der Mitteleuropa-Idee hängt mit dem Wunsch zusammen, daß wir im eigenen Schicksal Subjekte sein wollen und nicht Objekte. Als jeweilige Nation können wir weder souverän noch originell sein. Die Städte Mitteleuropas bleiben unrettbar provinziell, solange sie sich nicht zusammen mit den anderen als Städtesternhaufen betrachten. [...]
Mitteleuropa hat seine Souveränität seit tausend Jahren nicht aufgegeben. Warum sollte es sie gerade jetzt aufgeben? Mitteleuropäer zu sein ist heute für die herrschenden Klischeesysteme eine Herausforderung. Wir haben eine blocktranszendierende Interessen-, man könnte fast sagen Schicksalsgemeinschaft. Es ist einfach unmöglich, den anderen zu vergessen, wenn wir wechselseitig verschmutztes oder sauber gehaltenes Wasser trinken. Wie sollten wir voneinander unabhängig sein, wenn es in unserer Macht steht, uns gegenseitig zu vergiften?
Vielleicht ist Mitteleuropa tatsächlich eine konservative Idee, aber mich interessiert ein Roman mehr als die neueste Technologie, und ich sehe unsere Umgebung gerne romanhaft. Allein die Vorstellung und das Festhalten daran, daß die östliche und die westliche Hälfte zusammen Europa bilden, ist schon romanhaft. [...]
Der Mensch wird dumm und häßlich, wenn er keine Utopie hat. Man kann die Idee Mitteleuropas für eine halsstarrige Träumerei halten, allerdings besteht die Besonderheit des Phänomens darin, daß viele Menschen in Mitteleuropa dieses Bewußtsein brauchen, das scheinbar weiter ist als das nationalstaatliche Selbstbewußtsein. Ohne Mitteleuropa bleiben alle unsere größeren Städte Endstationen, Grenzstädte, vielleicht sogar Frontstädte. Wenn wir keine Strategie haben, sind wir Statisten und Opfer. [...]
[1] Konrád, György, Mein Traum von Europa, in: Kursbuch, Nr. 81, September 1985, S. 175-193.
Zugehöriger Essay: György Konráds "Mein Traum von Europa". Die Mitteleuropadiskussion der 1980er Jahre