Der Marshall-Plan[1]
Von Paul Thomes und Rebecca Belvederesi-Kochs
EinleitungDas European Recovery Program (ERP), gemeinhin als Marshall-Plan bezeichnet, war das bedeutendste, von den USA getragene europäische Wiederaufbauprogramm nach dem Zweiten Weltkrieg. Es ist bis heute ganz überwiegend positiv besetzt, zumal es in der Wahrnehmung der begünstigten Staaten unmittelbar mit der Wohlstandserfahrung der ersten Nachkriegsjahrzehnte korrespondiert. So wurden die Effekte der US-amerikanischen Auslandshilfe beispielsweise nicht nur direkt mit dem westdeutschen „Wirtschaftswunder“ assoziiert; im politischen und medialen Diskurs arrivierten der Marshall-Plan und die mit ihm verknüpften Institutionen zu Symbolen der gemeinsamen Erfolgsgeschichte der europäischen Wohlstandsgesellschaften.
Der Name des Programms geht auf Georg C. Marshall zurück. Er bekleidete von 1947 bis 1949 das Amt des US-amerikanischen Außenministers und erhielt 1953 den Friedensnobelpreis für seine Verständigungsbemühungen. In einer Rede anlässlich einer Absolventenfeier der Harvard University am 5. Juni 1947 verkündete Marshall erstmals öffentlich das Vorhaben der amerikanischen Regierung, allen europäischen Staaten massive Hilfen zukommen zu lassen.[2] Ziel sollte es sein, „Hunger, Armut, Verzweiflung und Chaos“[3] und die daraus in Europa allseits resultierende Not zu lindern. Der erhebliche Zerstörungsgrad der Versorgungs- und Verkehrsinfrastruktur sowie der agrarischen und gewerblichen Produktionskapazitäten machte im Verbund mit einem eklatanten Mangel an Gütern und Arbeitskräften humanitäre und wirtschaftliche Hilfestellungen in der Tat unverzichtbar.
Marshall bezeichnete sie als elementaren Beitrag zu einer stabilen europäischen Nachkriegsordnung, basierend auf demokratisch-liberalen Prinzipien. Zudem sahen die USA nur in diesem Weg eine Chance auf die rasche Wiederherstellung des weltwirtschaftlichen Gleichgewichts. Als multilaterales System sollte das Wiederaufbauprogramm nach dem Hilfe-zur-Selbsthilfe-Prinzip organisiert sein. Das heißt, die USA erwarteten von den teilnehmenden Nationen explizit Eigeninitiative, Eigenverantwortung und Kooperation. Diesen auf Partizipation basierenden Ansatz nahm die Weltöffentlichkeit mehrheitlich positiv auf, und die Erfolge des Programms sollten dann auch für sich sprechen.
Entstehungskontext und Motive
Im Vorfeld der zukunftsweisenden Ansprache Marshalls hatte sich die US-Regierung ein umfassendes Bild von den Zuständen in Europa verschafft. Im Wesentlichen lassen sich vier Ursachen für die Notwendigkeit eines Hilfsprogramms identifizieren: die Linderung der offensichtlichen humanitären Not, die Marktfunktion Europas für den Absatz US-amerikanischer Erzeugnisse, die zeitliche Begrenzung von US-Hilfeleistungen und nicht zuletzt die Eindämmung des sowjetischen Einflusses.
Als die Siegermächte auf der Moskauer Außenministerkonferenz im März/April 1947 über besatzungspolitische Fragen diskutierten, versuchte die USA erstmals die Realisierungspotentiale eines gesamteuropäischen Wiederaufbauprogramms auszuloten.[4] Allerdings offenbarten sich ob der kontroversen Interessenlage tief greifende Differenzen, die letztlich eine gemeinsame Rekonstruktionspolitik verhinderten.
Als eine Reaktion auf die Unstimmigkeiten veranlassten Briten und Amerikaner in der seit Januar 1947 bestehenden gemeinsamen, als Bizone bezeichneten deutschen Besatzungszone Anfang April den Beginn des Wiederaufbaus. Die Rekonstruktionsmaßnahmen erfolgten nicht zuletzt deshalb ohne sowjetische Beteiligung,[5] weil sich beide Staaten darüber einig waren, dass eine Konsolidierung Deutschlands den transatlantischen sicherheitspolitischen und ökonomischen Interessen dauerhaft zweckdienlicher sein würde als eine wie auch immer geartete Ausgrenzung.
In diesem Kontext spielte die im März 1947 formulierte sogenannte Truman-Doktrin eine wichtige Rolle. Sie löste die seit 1823 geltende Monroe-Doktrin der Nichteinmischung ab und formulierte die Eingrenzung des sowjetischen Einflusses als außenpolitisches Programm der USA (containment policy). Danach würden die USA „allen Völkern, deren Freiheit von militanten Minderheiten oder durch einen äußeren Druck bedroht ist“[6] künftig Beistand leisten. Konkret galt es etwa, das weitere Erstarken des Kommunismus in Italien und Frankreich zu verhindern.[7] Insofern avancierte der auf demokratisch-liberalen Wirtschaftsprinzipien basierende Wiederaufbau Europas auch zur ideologischen Offensive. Entsprechend charakterisiert Gerd Hardach den Marshall-Plan treffend als „ein Programm für die geteilte Welt des Kalten Krieges.“[8]
Vor diesem Hintergrund lief Ende April 1947 im US-Außenministerium die Konzeption des europäischen Hilfsprogramms unter der Leitung von George F. Kennan an. Deutschland und Österreich beanspruchten aufgrund ihrer Lage an der Nahtstelle zwischen Ost und West besondere Aufmerksamkeit. Schließlich hatte der Hoover-Report[9] von März 1947 die Schlüsselrolle beider Staaten für die europäische Wirtschaft hervorgehoben und eine Abkehr von der bisherigen Besatzungspolitik empfohlen.[10] Diese auf Integration bedachte Position teilte auch William Clayton. Er nahm als amerikanischer Delegierter an den Gesprächen zum General Agreement on Tarifs and Trade (GATT) teil und arbeitete seit Mai 1947 ebenfalls an der Konzeption eines europäischen Aufbauprogramms.[11] Unter friedens- und wirtschaftspolitischen Gesichtspunkten schien eine gesamteuropäische Vorgehensweise alternativlos, während eine politische Aufgliederung Deutschlands in vielerlei Hinsicht wohlfahrtsdezimierende Effekte hervorgebracht hätte. Eine solche Konstellation hätte die internationale Arbeitsteilung ebenso wie die Austauschbeziehungen tiefgreifend gestört, was wiederum die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit Europas dauerhaft beeinträchtigt hätte.
Bereits im Mai 1947 existierten dann erste Grundsatztexte, von denen sich Marshall inspirieren lassen konnte. Zwar fiel das internationale Echo auf die Rede größtenteils positiv aus, doch gab es auch gravierende, unterschiedlich gelagerte politische Vorbehalte. Auf der Pariser Konferenz der Außenminister Großbritanniens, Frankreichs und der Sowjetunion, die am 2. Juli 1947 endete, artikulierte die britische Regierung die Befürchtung eines übermächtigen geopolitischen Erstarkens der USA. Sie stand damit gar nicht so fern von der sowjetischen Position, die den Plan als verfrüht ablehnte. Stattdessen schlug die Sowjetunion weitergehende planwirtschaftliche Maßnahmen vor und sah sich selbst, als Folge ihrer kriegsfolgebedingten desolaten Wirtschaftslage, zu Hilfeleistungen nicht in der Lage. Derlei grundsätzliche Einwände hegte die französische Seite zwar nicht. Sie tat sich allerdings mit der gleichberechtigten Behandlung Deutschlands schwer und verwehrte sich zudem gegen eine alliierte Einflussnahme auf die eigene Besatzungspolitik.
Indessen begrüßten die übrigen Staaten das Hilfsprogramm uneingeschränkt, da sich nur auf diese Weise die besorgniserregende Engpassökonomie der europäischen Volkswirtschaften möglichst rasch überwinden ließ.[12] Der spätestens seit Ende der Kampfhandlungen institutionalisierte Mangelzustand hatte beispielsweise in der britischen und amerikanischen Besatzungszone Deutschlands im Winter 1946/47 bei einer durchschnittlichen täglichen Kalorien-Zuteilung von maximal 1.000 kcal zu signifikanter Unterernährung geführt.[13] Die prekäre Lage erforderte eine entschiedene Korrektur des besatzungspolitischen Kurses, der bis dato von im Krieg entwickelten restriktiven Konzepten wie dem Morgenthau-Plan geprägt war. Derweil setzten die deutschen Politiker jenseits der kommunistischen Partei große Hoffnungen in den Marshall-Plan, weil sie seine Bedeutung für die wirtschaftliche und politische Zukunft erahnten.[14]
Als weiterer akuter Sachzwang, der aus Sicht der Alliierten die Realisierung des ERP unter Einbeziehung der westlichen Besatzungszonen beförderte, ist der Energiemangel zu nennen. Europa brauchte für die Rekonstruktion dringend deutsche Ressourcen wie die Ruhrkohle,[15] denn in der Nachkriegszeit war Energie ein ebenso knappes wie für den Aufbau zentrales Gut. Insofern korrespondierten das amerikanische und das europäische Interesse an der Einbeziehung Deutschlands in das Konzept.
Das Kernproblem lag aber darin, dass Europa seine akuten Bedürfnisse infolge der Kriegszerstörungen aus eigener Kraft nicht decken konnte. Georg C. Marshall brachte das Dilemma in seiner Ansprache auf den Punkt: „In Wirklichkeit handelt es sich darum, daß Europas Bedarf an ausländischen Nahrungsmitteln und sonstigen lebenswichtigen Gütern ? hauptsächlich aus Amerika ? so viel größer als seine gegenwärtige Zahlungsfähigkeit ist, daß es entweder wesentliche zusätzliche Hilfe benötigt oder aber sich einem wirtschaftlichen, sozialen und politischen Niedergang sehr ernsten Charakters gegenüber sehen wird.“[16]
Da es aber den Europäern an den notwendigen Devisen (Dollarlücke) mangelte, um sich in den USA mit den benötigten Gütern zu versorgen, gab es zu einem Hilfsprogramm keine Alternative, zumal sich damit aus Sicht der USA ein binnenwirtschaftliches Problem lösen ließ. Gerade hier offenbart sich das Zusammenspiel von utilitaristischen und humanitären Aspekten. Denn die europäische Nachfrage erleichterte den USA zweifelsohne die Konversion in eine Friedenswirtschaft und trug dazu bei, eine drohende Anpassungskrise zumindest abzumildern. Schließlich war die US-amerikanische Wirtschaft während des Krieges in ihrer Funktion als Lieferant der Welt rasant gewachsen und benötigte nach Kriegsende mehr denn je aufnahmefähige Exportmärkte. So lässt sich mit Tomizawa festhalten: „The Marshall Plan was based on enlightened self-interest. The US government willingly placed its powerful economy and large trade surplus at the service of the postwar world. It gave unstintingly in order to receive.”[17]
Demzufolge sollte der Wiederaufbau auch einen wichtigen Beitrag zur sozialen Befriedung und Stabilität in Europa leisten. Da eine „Desorganisation des ganzen Gefüges der europäischen Wirtschaft“ eingetreten war, sah Marshall nicht zuletzt die „politische Stabilität und ein(en) gesicherte(n) Friede(n)“ bedroht.[18] Dieser Aspekt ist angesichts der Lehren, die man aus der suboptimalen Bewältigung des Ersten Weltkriegs zu ziehen gedachte, besonders hervorzuheben. Die nach 1918 in Europa auftretenden Versorgungsengpässe, Anpassungskrisen und Währungsprobleme hatten auf internationaler Ebene zu isolationistisch-protektionistischen Wirtschaftspolitiken geführt, welche die Normalisierung anhaltend behinderten. Im Deutschen Reich begünstigte dieser Ursachenzusammenhang Anfang 1933 die Machtübertragung an die Nationalsozialisten und führte letztlich zu jenem Krieg, dessen Folgen es nun zu überwinden galt. Das ERP sollte demnach einen neuerlichen Teufelskreis aus Abschottung, politischer Radikalisierung und Armutsspirale verhindern helfen.[19] Deshalb sollten konsequenterweise alle europäischen Staaten in gemeinsamer Verantwortung und in Hinblick auf die Schaffung eines europäischen Wirtschaftsraums daran teilhaben.
Andererseits machte spätestens die oben erwähnte Pariser Konferenz klar, dass die Sowjetunion aus politischen wie wirtschaftlichen Überzeugungen nicht auf ein kapitalistisch-freihändlerischen Maximen verpflichtetes Hilfsprogramm eingehen würde. In der Folge übte sie auf ihre osteuropäischen Satelliten massiven politischen Druck aus. Aus diesem Grund kamen letztlich nur die nichtsozialistischen europäischen Staaten in den Genuss der ERP-Hilfen. Eine Ausnahme stellt das seinerzeit auch von sowjetischen Truppen besetzte Österreich dar.
Umsetzung
Am 22. September 1947 unterzeichneten 16 Staaten den Marshall-Plan-Vertrag. Es waren dies Belgien, Dänemark, Frankreich, Griechenland, Großbritannien, Irland, Island, Italien, Luxemburg, die Niederlande, Norwegen, Österreich, Portugal, Schweden, die Türkei sowie die westlichen Besatzungszonen Deutschlands.[20]
Ende des Jahres 1947 stellte Präsident Harry S. Truman dem Kongress einen zwischenzeitlich im US-Außenministerium grundlegend überarbeiteten Programmentwurf vor. Am 3. April 1948 unterzeichnete Präsident Truman das Foreign Assistance Bill (Auslandshilfegesetz), welches unter anderem die Marshall-Plan-Hilfe festlegte. Das Repräsentantenhaus billigte das Gesetz mit 318 zu 75 Stimmen. Unmittelbar im Anschluss entstand die Economic Cooperation Adminstration (ECA) als ministeriumsähnliche Lenkungsinstitution zur Durchführung des ERP. Ende 1951 wurde diese Aufgabe der Mutual Security Agency (MSA) übertragen.[21]
Parallel dazu schlossen sich ebenfalls noch im April 1948 die europäischen Teilnehmerstaaten im Rahmen der „Konvention über die europäische wirtschaftliche Zusammenarbeit“ zur Organization for European Economic Cooperation (OEEC) als „europäische Marshallplan-Organisation“ [22] zusammen. Aus ihr ging 1961 die Organization for Economic Cooperation and Development (OECD) hervor, die bekanntlich bis heute existiert. An der OEEC beteiligten sich aus wirtschaftspolitischen Motiven auch die Schweiz, wenngleich sie nicht direkt am ERP teilnahm, sowie das britisch-amerikanisch besetzte Territorium von Triest.
Die Organisation mit Sitz in Paris sollte die ERP-Mittelverteilung diskutieren, „die Wirtschaftspolitik der teilnehmenden Länder koordinieren und die wirtschaftliche Integration in Westeuropa fördern.“[23] Letztere sollte durch den Abbau von Handelsbeschränkungen gelingen. Demgemäß oblag der OEEC die Mitwirkung an der Konzeption und Etablierung eines gemeinsamen europäischen Wirtschaftsraums inklusive eines Zahlungssystems. Die dem ERP von deutscher Seite zugemessene Bedeutung spiegelt sich in der Einrichtung eines Bundesministeriums für den Marshall-Plan im Jahr 1949 wider.
Was den Umfang der materiellen Hilfen anging, veranschlagten die USA Ende 1947 ein Gesamtvolumen von 17 Mrd. $. Der weitaus größte Teil dieses Betrags war als eine nicht rückzahlbare Beihilfe konzipiert; einzige Ausnahme hiervon bildete Westdeutschland, welches die erhaltene Auslandshilfe ursprünglich in voller Höhe zurückzahlen sollte.[24] Tatsächlich gelangten zwischen April 1948 und Ende 1952, als das Programm auslief, Hilfen im Wert von knapp 14 Mrd. $, und damit fast 20 % weniger als ursprünglich geplant, nach Europa. Das mag durchaus als Indiz für die Richtigkeit des Ansatzes gewertet werden.
Die höchsten Transfers entfielen im Sinne des Hilfe-zur-Selbsthilfe-Konzepts mit 43% auf das erste Planjahr. Die größten Empfängerstaaten insgesamt waren Großbritannien mit rund 25%, Frankreich mit 20% und Italien mit 11%, gefolgt von der Bundesrepublik mit 10% und den Niederlanden mit knapp 8%. Die fünf Staaten erhielten damit knapp drei Viertel der Unterstützungen.[25] Ein differenziertes Bild ergibt der Blick auf die Pro-Kopf-Anteile der Maßnahmen, welche die Niederlande, Österreich und Frankreich an der Spitze zeigen.[26]
Die Transfers entfielen auf Sachleistungen wie Nahrungsmittel, Dünger, Medikamente, Rohstoffe, Treibstoffe und Maschinen bzw. technisches Gerät, wobei der durch die USA forcierte und im US Technical Assistance and Productivity Program realisierte Austausch von Know-how nicht vergessen werden sollte. Die bewusste Flexibilität des Programms dokumentiert die Verlagerung des Schwerpunkts der Maßnahmen seit 1949 von der unmittelbaren Überlebenshilfe auf die Verbesserung der Produktivität durch Rationalisierung und Innovationen.[27] Unter dem Eindruck des Koreakrieges dienten die Hilfen auch der Aufrüstung. Bis Mitte 1951 entfiel etwa je ein Viertel auf Grundstoffe und Halbwaren bzw. Nahrung, Futtermittel und Dünger, 15 % entfielen auf Maschinen und Fahrzeuge und etwas weniger auf Treibstoffe.[28] Über die Verwendung entschieden die europäischen Staaten im Einvernehmen mit der ECA. Das ökonomische Eigeninteresse der USA spiegelt sich u.a. darin, dass 50% der Waren auf amerikanischen Schiffen zu transportieren und 25% der Weizenlieferungen bereits in den USA zu mahlen waren, während die europäischen Staaten in den USA benötigte Güter zu angemessenen Preisen ausschließlich dorthin exportieren sollten.
Die enorme Reichweite des Plans mag ein anderer Aspekt der Umsetzung dokumentieren, der eine doppelt positive und nachhaltige Wirkung zur Folge hatte. Da die Hilfsgüter auf dem inländischen Markt nicht kostenlos an die Empfänger abgegeben, sondern in der jeweiligen Landeswährung verkauft wurden, generierten die Staaten Finanzmittel, die sogenannten Gegenwertfonds. In Form eines revolvierenden Systems standen sie der Wirtschaft als Wiederaufbaukredite zur Verfügung und wurden damit zum zentralen Bestandteil der transatlantischen Hilfe-zur-Selbsthilfe-Strategie. Das Konzept barg mindestens drei entscheidende Vorteile: Einerseits ermöglichte es den Import amerikanischer Waren trotz Devisenknappheit. Andererseits erweiterte es die nationalen Finanzierungsspielräume und trug damit zur Konsolidierung der Kapitalmärkte bei. Die Mittel standen insbesondere rekonstruktionswichtigen Industrien sowie zum Neuaufbau der Verkehrs- und Versorgungsinfrastruktur zur Verfügung.[29]
Nicht zuletzt sei an dieser Stelle auf den innereuropäischen sogenannten Kleinen Marshallplan verwiesen. Er stand in Zusammenhang mit der Reaktivierung der europäischen Handelsbeziehungen und drängte Länder mit einem Zahlungsbilanzüberschuss „wie Großbritannien, Belgien/Luxemburg, Italien und Westdeutschland […] ihrerseits potentiellen Defizitländern Wirtschafthilfe zu leisten.“ Auf diese Weise justierte das System die ERP Mittelverteilung gemäß der einzelstaatlichen Leistungsfähigkeit und der Marshall-Plan erhielt eine weitere Dimension.[30]
Wirkungen und Relevanz
Die Marshall Rede bildete den weithin öffentlich sichtbaren Ausgangspunkt für ein komplexes, multidimensionales Programm, dessen Bewertung bezüglich Reichweite und Bedeutung seit einiger Zeit Gegenstand einer kontrovers geführten Diskussion ist.[31] Werner Abelshauser relativierte beispielsweise die ökonomische Relevanz des ERP für die westdeutsche Nachkriegswirtschaft in den 1970er und 1980er Jahren. Indem er das Einsetzen eines sich selbst tragenden Wachstums bereits vor den Erhalt der ersten ERP-Lieferungen datierte, trug er generell zur Entmystifizierung der US-amerikanischen Auslandshilfe bei und leistete damit einen wichtigen Beitrag zur kritischen Analyse des europäischen Rekonstruktionsprozesses.[32] Herausgearbeitet hat die Forschung zwischenzeitlich auch die US-amerikanische Motivationslage als eine Mischung aus strategischen, utilitaristischen und humanitären Aspekten.
Das ändert nichts an der positiven Bewertung des ERP. Zwar kann es weder für sich beanspruchen, das erste noch das einzige Hilfsprogramm gewesen zu sein. Jedoch ist die von der Marshall-Plan-Rede ausgehende Symbolkraft, die den europäischen Staaten im Sommer 1947 inmitten der desolaten Nachkriegsjahre Hoffnung auf eine baldige Konsolidierung signalisierte, nicht hoch genug zu bewerten. Die unmittelbaren Auswirkungen des ERP in Form von Hilfslieferungen spielten eine ebenso zentrale Rolle für die europäische Nachkriegszeit wie seine mittel- bis langfristigen Effekte für die politisch-ökonomische Integration Europas. Die in seinem Kontext geschaffenen, vielfach bis heute existierenden Institutionen trugen wesentlich zur Stärkung der europäischen Identität und zum europäischen Self-Empowerment bei.
[1] Essay zur Quelle: George C. Marshall, „Marshall-Rede“ (Harvard University, 5. Juni 1947); [Englisches Transkript und Übersetzung].
[2] Für eine Aufschlüsselung der Hilfen nach Ländern vgl. Hardach, Gerd, Der Marshall-Plan. Auslandshilfe und Wiederaufbau in Westdeutschland 1948-1952, München 1994, S. 244.
[3] Marshall, George C.: Rede an der Harvard University, 5. Juni 1947. In: <http://www.tmw.at/Medien/Website%20Download%5C02%20ausstellungen%5C0200%20Sonderausstellungen%5Coesterreich%20
baut%20auf%5CRede%20Marshall%201947_dt.pdf > (13.07.2010). Um den Lesefluss zu verbessern, wurden die direkten Zitate aus der deutschsprachigen Version der Marshall-Plan-Rede in den vorliegenden Beitrag eingefügt, hier S. 3.
[4] Vgl. Gimbel, John, The Origins of the Marshall-Plan, Stanford 1976, S. 179.
[5] Vgl. Hardach, Der Marshall-Plan, S. 31.
[6] „As a result of these tragic conditions, a militant minority, exploiting human want and misery, was able to create political chaos which, until now, has made economic recovery impossible.” Modern History Sourcebook: The Truman Doctrine, 1947. In: <http://www.fordham.edu/halsall/mod/1947TRUMAN.html> (13.07.2010).
[7] Zum Zusammenhang zwischen Truman-Doktrin und Marshall-Plan, vgl. Link, Werner, Der Marshall-Plan und Deutschland, in: Hans-Jürgen Schröder (Hg.), Marshallplan und westdeutscher Wiederaufstieg. Positionen - Kontroversen, Stuttgart 1990, S. 79-94, S. 80.
[8] Hardach, Der Marshall-Plan, S. 67.
[9] Vgl. weiterführend Hogan, Michael J., The Marshall Plan. America, Britain, and the reconstruction of Western Europe 1947-1952, Cambridge 2002, S. 33ff.
[10] Vgl. Hoover, Herbert, Report No. 3. The necessary steps for the promotion of German exports, so as to relieve amercian taxpayers of the burdons of relief and for economic recovery of Europe, 18.03.1947, Official File, Truman Papers, S. 1f.
[11] Vgl. Hardach, Der Marshall-Plan, S. 43ff.
[12] Vgl. Ebd., S. 50.
[13] Vgl. Abelshauser, Werner, Deutsche Wirtschaftsgeschichte seit 1945, München 2004, S. 114ff.
[14] Vgl. Lehmann, Axel, Der Marshall-Plan und das neue Deutschland. Die Folgen amerikanischer Besatzungspolitik in den Westzonen, Münster u. a. 2000, S. 196 ff.
[15] Vgl. Herbst, Ludolf, Option für den Westen. Vom Marshallplan bis zum deutsch-französischen Vertrag, München 1989, S. 75.
[16] Marshall, Rede, S. 2.
[17] Tomizawa, Hideki, Japan’s ‘Marshall Plan’ Needs Work, disributed by the Asia Foundations’s Translation Service in San Francisco and printed in International Herald Tribune, 20th November 1987.
[18] Marshall, Rede, S. 1-3.
[19] Vgl. Ebd., S. 2.
[20] Vgl. Hardach, Der Marshall-Plan, S. 100f.
[21] Vgl. Ebd., S. 245.
[22] Zeeman, Bert, Der Brüsseler Pakt und die Diskussion um einen westdeutschen Militärbeitrag, in: Herbst, Ludolf; Bührer, Werner; Sowade, Hanno (Hgg.), Vom Marshallplan zur EWG. Die Eingliederung der Bundesrepublik Deutschland in die westliche Welt, München 1990, S. 407.
[23] Hardach, Der Marshall-Plan, S. 101; vgl. weiterführend Mai, Gunther, Der Alliierte Kontrollrat in Deutschland. 1945-1948, München 1995, S. 99ff.
[24] Eine Regelung wurde im Londoner Schuldenabkommen getroffen.
[25] Vgl. Hardach, Der Marshall-Plan, S. 244 f.
[26] Angaben nach Abelshauser, Werner, Der Kleine Marshallplan, Handelsintegration durch innereuropäische Wirtschaftshilfe 1948-1950, in: Berding, Helmut (Hg.), Wirtschaftliche und politische Integration in Europa im 19. und 20. Jahrhundert, Göttingen 1984, S. 212-224, S. 222f.; vgl. darüber hinaus auch Hardach, Der Marshall-Plan, S.236.
[27] Vgl. hierzu weiterführend Kleinschmidt, Christian, Entwicklungshilfe für Europa. Die European Productivity Agency und das US Technical Assistance and Productivity Program. In: Themenportal Europäische Geschichte, <http://www.europa.clio-online.de/2008/Article=328> (13.07.2010); zur Flexibilität vgl. Hardach, Der Marshall-Plan, S. 163 f.
[28] Hogan, The Marshall Plan, S. 415.
[29] Vgl. weiterführend Borchardt, Knut; Buchheim, Christoph, Die Wirkung der Marshallplan-Hilfe in Schlüsselbranchen der deutschen Wirtschaft, in: Schröder, Hans-Jürgen (Hg.), Marshallplan und westdeutscher Wiederaufstieg. Positionen – Kontroversen, Stuttgart 1990, S. 119-149.
[30] Abelshauser, Werner, Der Kleine Marshallplan, Handelsintegration durch innereuropäische Wirtschaftshilfe 1948-1950, in: Berding, Helmut (Hg.), Wirtschaftliche und politische Integration in Europa im 19. und 20. Jahrhundert, Göttingen 1984, S. 212-224, S. 214f.
[31] Lehmann, Der Marshall-Plan und das neue Deutschland, S. 138ff.
[32] Abelshauser, Werner, Wirtschaft in Westdeutschland 1945-1948. Rekonstruktion und Wachstumsbedingungen in der amerikanischen und britischen Zone, Stuttgart 1985; Abelshauser, Deutsche Wirtschaftsgeschichte seit 1945, S. 130ff.
Literaturhinweise:
Bischof, Günter;Stiefel, Dieter (Hg.), Images of the Marshall Plan in Europe. Films, Photographs, Exhibits, Posters, Innsbruck 2009.
Eichengreen, Barry, The European Economy since 1945. Coordinated Capitalism and Beyond, Princeton 2007.
Gimbel, John, The Origins of the Marshall-Plan, Stanford 1976.
Hardach, Gerd, Der Marshall-Plan. Auslandshilfe und Wiederaufbau in Westdeutschland 1948-1952, München 1994.
Hogan, Michael J., The Marshall Plan. America, Britain, and the reconstruction of Western Europe 1947-1952, Cambridge 2002.