Adolf Hitler, Erlaß des Führers und Reichskanzlers zur Festigung deutschen Volkstums (Berlin, 7. Oktober 1939); [Transkript und Scan des Originals]

Adolf Hitler, Erlaß des Führers und Reichskanzlers zur Festigung deutschen Volkstums (Berlin, 7. Oktober 1939); [Transkript und Scan des Originals][1]

[Früherer Titel der Quelle: Erlaß des Führers und Reichskanzlers zur Festigung deutschen Volkstums vom 7. Oktober 1939.]

Die Folgen von Versailles in Europa sind beseitigt. Damit hat das Großdeutsche Reich die Möglichkeit, deutsche Menschen, die bisher in der Fremde leben mußten, in seinem Raum aufzunehmen und anzusiedeln und innerhalb seiner Interessengrenzen die Siedlung der Volksgruppen so zu gestalten, daß bessere Trennungslinien zwischen ihnen erreicht werden. Die Durchführung dieser Aufgabe übertrage ich dem Reichsführer-SS nach folgenden Bestimmungen:

I.

Dem Reichsführer-SS obliegt nach meinen Richtlinien:

1. die Zurückführung der für die endgültige Heimkehr in das Reich in Betracht kommenden Reichs- und Volksdeutschen im Ausland,

2. die Ausschaltung des schädigenden Einflusses von solchen volksfremden Bevölkerungsteilen, die eine Gefahr für das Reich und die deutsche Volksgemeinschaft bedeuten,

3. die Gestaltung neuer deutscher Siedlungsgebiete durch Umsiedlung, im besonderen durch Seßhaftmachung der aus dem Ausland heimkehrenden Reichs- und Volksdeutschen.

Der Reichsführer-SS ist ermächtigt, alle zur Durchführung dieser Obliegenheiten notwendigen allgemeinen Anordnungen und Verwaltungsmaßnahmen zu treffen.

Zur Erfüllung der ihm in Absatz 1 Nr. 2 gestellten Aufgaben kann der Reichsführer-SS den in Frage stehenden Bevölkerungsteilen bestimmte Wohngebiete zuweisen.

II.

In den besetzten ehemals polnischen Gebieten führt der Verwaltungschef Ober-Ost die dem Reichsführer-SS übertragenen Aufgaben nach dessen allgemeinen Anordnungen aus. Der Verwaltungschef Ober-Ost und die nachgeordneten Verwaltungschefs der Militärbezirke tragen für die Durchführung die Verantwortung. Ihre Maßnahmen sind den Bedürfnissen der militärischen Führung anzupassen.

Personen, die zur Durchführung dieser Aufgaben mit Sonderaufträgen versehen sind, unterstehen insoweit nicht der Wehrmachtsgerichtsbarkeit.

III.

Die dem Reichsführer-SS übertragenen Aufgaben werden, soweit es sich um die Neubildung deutschen Bauerntums handelt, von dem Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft nach den allgemeinen Anordnungen des Reichsführers-SS durchgeführt.

Im übrigen bedient sich im Gebiete des Deutschen Reichs der Reichsführer-SS zur Durchführung seines Auftrages der vorhandenen Behörden und Einrichtungen des Reichs, der Länder und der Gemeinden sowie der sonstigen öffentlichen Körperschaften und der bestehenden Siedlungsgesellschaften.

Falls über eine zu treffende Maßnahme zwischen dem Reichsführer-SS einerseits und der zuständigen obersten Reichsbehörde – im Operationsgebiet dem Oberbefehlshaber des Heeres – eine nach Gesetzgebung und Verwaltungsorganisation erforderliche Einigung nicht erzielt werden sollte, ist meine Entscheidung durch den Reichsminister und Chef der Reichskanzlei einzuholen.

IV.

Verhandlungen mit ausländischen Regierungsstellen und Behörden sowie mit den Volksdeutschen, solange sich diese noch im Auslande befinden, sind im Einvernehmen mit dem Reichsminister des Auswärtigen zu führen.

V.

Sofern für die Seßhaftmachung zurückkehrender Reichs- oder Volksdeutscher Grund und Boden im Gebiet des Reichs benötigt wird, so finden für die Beschaffung des benötigten Landes das Gesetz über die Landbeschaffung für Zwecke der Wehrmacht vom 29. März 1935 (Reichsgesetzbl. I S. 467) und die zu ihm ergangenen Durchführungsverordnungen entsprechende Anwendung. Die Aufgaben der Reichsstelle für Landbeschaffung übernimmt die vom Reichsführer-SS bestimmte Stelle.

VI.

Die zur Durchführung der Maßnahmen erforderlichen Mittel stellt der Reichsminister der Finanzen dem Reichsführer-SS zur Verfügung.

Berlin, 7. Oktober 1939

Der Führer und Reichskanzler

gez. Adolf Hitler

Der Vorsitzende des Ministerrats für die Reichsverteidigung

gez. Göring

Generalfeldmarschall

Der Reichsminister und Chef der Reichskanzlei

gez. Dr. Lammers

Der Chef des Oberkommandos der Wehrmacht

gez. Keitel


[1] Der Erlass befindet sich im Bundesarchiv: Bundesarchiv, R 43 II/604, Bl. 27-28; als Beweisdokument PS-686 abgedruckt in: Der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof, Nürnberg 1947, Bd. 26, S. 255-257, sowie in: Martin Moll (Hg.), „Führer-Erlasse“ 1939-1945, Stuttgart 1997, S. 100-102. Eine Druckversion der Quelle befindet sich in: Hartmut Kaelble, Rüdiger Hohls (Hgg.): Geschichte der europäischen Integration bis 1989, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2016, S. 43–44, Band 1 der Schriftreihe Europäische Geschichte in Quellen und Essays.

Die Veröffentlichung dieser Abbildungen erfolgt mit Unterstützung und freundlicher Genehmigung des Bundesarchivs. © 2007 Copyright Bundesarchiv, URL: http://www.bundesarchiv.de.

Zugehöriger Essay: Völkische Neuordnung Europas

Völkische Neuordnung Europas[1]

[Weitere Artikel Version 2007]

Von Michael Wildt

Der Begriff, mit dem Hitler die rassistische Neuordnung Ostmitteleuropas umschrieb, fiel gleich zu Beginn des Krieges gegen Polen im September 1939: „Flurbereinigung“. Dieser Terminus aus der Agrarpolitik, mit dem die Zusammenfassung und Neuaufteilung von Feldern bezeichnet wird, um sie effizienter bewirtschaften zu können, bezeichnete treffend die Verbindung von Territorialität, Siedlungspolitik und rassenbiologischer Ordnungsphantasie, die der NS-Führung vorschwebte. Menschen waren in ihren Augen nichts anderes als Bodengewächse, die man hier und dort anpflanzen oder auch wie Unkraut ausreißen konnte. Räume mussten „bereinigt“ werden, das heißt die in ihnen lebenden Menschen unterworfen, vertrieben, deportiert oder getötet werden, um diese Räume zu beherrschen, auszubeuten oder zu besiedeln. „Lebensraum“ bildete einen zentralen Terminus nationalsozialistischer Politik.[2]

Dass dieser „Lebensraum“ nicht in fernen Kolonien zu suchen sei, sondern im Osten, zu Lasten Russlands, hatte Hitler unmissverständlich in Mein Kampf geschrieben. Das neue deutsche Reich müsse sich wie einst die Ordensritter in Marsch setzen, „um mit dem deutschen Schwert dem deutschen Pflug die Scholle, der Nation aber das tägliche Brot zu geben“.[3] Ganz anders als die preußische Politik kenne die nationalsozialistische Bewegung kein „Germanisieren“, das sich auf kulturelle Vorherrschaft, insbesondere auf die Durchsetzung der deutschen Sprache gründete. Nicht Menschen, nur der Boden könne „germanisiert“ werden, wenn er mit dem Schwert erobert und mit deutschen Bauern besiedelt würde. Ein völkischer Staat dürfe daher „unter gar keinen Umständen Polen mit der Absicht annektieren, aus ihnen eines Tages Deutsche machen zu wollen“, sondern müsse die Polen „kurzerhand entfernen und den dadurch freigewordenen Grund und Boden den eigenen Volksgenossen überweisen“.[4]

In seiner Reichstagsrede vom 6. Oktober 1939, die der Beauftragung Himmlers mit der „Festigung deutschen Volkstums“ unmittelbar vorausging, brachte Hitler die völkische „Lebensraum“-Politik als Kernstück seiner Kriegsziele zur Sprache. Die Aufgaben, die sich dem Deutschen Reich durch den „Zerfall des polnischen Staates“ stellten, bestünden in der „Herstellung einer Reichsgrenze, die den historischen, ethnografischen und wirtschaftlichen Gegebenheit gerecht wird“, in der „Befriedung des gesamten Gebiets“, der „Gewährleistung der Sicherheit“ und dem Neuaufbau von Wirtschaft und Verkehr. „Als wichtigste Aufgabe aber: eine neue Ordnung der ethnografischen Verhältnisse, das heißt, eine Umsiedlung der Nationalitäten so, daß sich am Abschluß der Entwicklung bessere Trennlinien ergeben, als es heute der Fall ist.“ Eine solche Aufgabe greife aber weit über Polen hinaus. Der ganze Osten und Südosten Europas seien „mit nichthaltbaren Splittern des deutschen Volkstums gefüllt“, die nun rückgesiedelt werden sollten. „Im Zeitalter des Nationalitätenprinzips und des Rassegedankens ist es utopisch zu glauben, daß man diese Angehörigen eines hochwertigen Volkes ohne weiteres assimilieren könne.“ Was hier als vornehmlich auf die volksdeutschen Minoritäten bezogen zu sein scheint, beinhaltet in Wirklichkeit ein umfassendes völkisch-rassisches Neuordnungskonzept, das mittels Vertreibungen, Deportationen und Völkermord Siedlungsgebiete für „arische“ Deutsche schaffen sollte. Wenig später sprach Hitler dann konsequent nicht mehr nur von der „Ordnung des gesamten Lebensraums nach Nationalitäten“, sondern auch von einer „Ordnung und Regelung des jüdischen Problems“.[5]

Aber auch etliche Planer, Historiker, Ökonomen, Agrarwissenschaftler und Soziologen waren von den Möglichkeiten, die sich im „Osten“ eröffneten, fasziniert und bemühten sich, ihr Wissen für eine „Germanisierung“ des Ostens in die politische Praxis einfließen zu lassen. Zum Beispiel verfasste Theodor Schieder auf der Grundlage von verschiedenen Diskussionen unter Forscherkollegen Anfang Oktober 1939 eine Denkschrift über „Siedlungs- und Volkstumsfragen in den wiedergewonnenen Ostprovinzen“, in der als „oberstes Gesetz einer Neuordnung“ die „Sicherung des deutschen Volksbodens im Osten durch eine geschlossen siedelnde, alle Schichten umfassende deutsche Bevölkerung mit einer gesunden sozialen Ordnung“ gefordert wurde, die „Bevölkerungsverschiebungen allergrössten Ausmasses“ und neben anderen Maßnahmen die „Herauslösung des Judentums aus den polnischen Städten“ notwendig mache.[6]

Am 22. August 1939 hatte Hitler den Befehlshabern der Wehrmacht auf dem Obersalzberg seine Vorstellungen zum bevorstehenden Krieg gegen Polen erläutert: „Vernichtung Polens im Vordergrund. Ziel ist die Beseitigung der lebendigen Kräfte, nicht die Erreichung einer bestimmten Linie. [...] Herz verschließen gegen Mitleid. Brutales Vorgehen. 80 Mill. Menschen müssen ihr Recht bekommen. Ihre Existenz muß gesichert werden. Der Stärkere hat das Recht. Größte Härte.“[7]

Seit Beginn des Krieges gegen Polen führten Milizen der volksdeutschen Minderheit, SS-Einsatzgruppen und Polizeiverbände wie auch Einheiten der Wehrmacht einen mörderischen Kampf gegen die polnische Zivilbevölkerung, insbesondere gegen die Angehörigen der polnischen Intelligenz, die, wie Heydrich formulierte, „so gut wie möglich unschädlich gemacht“ werden solle.[8] Am 20. September legte Hitler den Oberbefehlshabern des Heeres seine Pläne von einer „Umsiedlung im großen“, wie es im Kriegstagebuch des Generalsstabschefs hieß, dar, also die Vertreibung von Polen und Juden aus den westpolnischen Gebieten.[9] Die Verantwortung für die „Bereinigung“ liege nicht beim Militär, sondern bei der Zivilverwaltung. Tags darauf informierte Heydrich seine führenden Mitarbeiter und Einsatzgruppenchefs in Berlin, dass Westpolen deutsches Gebiet werden solle, durch einen noch zu bauenden Ostwall geschützt, und jenseits des Walls ein „fremdsprachiger Gau“ geschaffen würde, in den die Juden, auch aus Deutschland, deportiert werden sollten. Zum „Siedlungskommissar für den Osten“ werde Heinrich Himmler eingesetzt, der bereits im Sommer 1939 mit der geplanten Umsiedlung der Südtiroler beauftragt worden war.[10]

Die grundsätzliche Entscheidung, die SS mit der „völkischen Neuordnung“ zu beauftragen, war also zu diesem Zeitpunkt bereits gefallen, als mit der Umsiedlung der Volksdeutschen aus der Sowjetunion die Volkstumspolitik eine zusätzliche Radikalisierung erfuhr. Nachdem der Landesleiter der Lettlanddeutschen, Erhard Kroeger, in einem Gespräch mit Heinrich Himmler am 26. September die drohende Bolschewisierung beschwor und sich für eine „Rückführung“ aller Baltendeutschen stark machte, führten hektische diplomatische Aktivitäten zwei Tage später, am 28. September, zu einer geheimen Vereinbarung mit der Sowjetführung zur Umsiedlung der deutschstämmigen Bevölkerungen aus dem Baltikum und der Sowjetunion ins Deutsche Reich.

Die Ankunft zehntausender Volksdeutscher aus den baltischen Staaten in den nächsten Wochen – das erste Schiff mit Volksdeutschen aus Estland traf bereits am 18. Oktober in Danzig ein – verschärfte die Deportationspolitik erheblich, sollte doch jetzt innerhalb kürzester Zeit Platz für die Neuankömmlinge in den annektierten westpolnischen Gebieten geschaffen werden. Die Aufgaben, mit denen Himmler am 7. Oktober 1939 von Hitler beauftragt wurde, reichten denn auch weit über die bloße Funktion eines „Siedlungskommissars für den Osten“ hinaus.[11] Himmler war nunmehr nicht nur für die „Zurückführung der für die endgültige Heimkehr in das Reich in Betracht kommenden Reichs- und Volksdeutschen im Ausland“ verantwortlich, sondern zugleich für die „Ausschaltung des schädigenden Einflusses von solchen volksfremden Bevölkerungsteilen, die eine Gefahr für das Reich und die deutsche Volksgemeinschaft bedeuten“ und für die „Gestaltung neuer deutscher Siedlungsgebiete durch Umsiedlung, im besonderen durch die Seßhaftmachung der aus dem Ausland heimkehrenden Reichs- und Volksdeutschen“. Veröffentlicht wurde der Erlass nicht; im Gegenteil, in seinem Schreiben, mit dem der Chef der Reichskanzlei Lammers die obersten Reichsbehörden informierte, wies er ausdrücklich darauf hin, dass es nicht erwünscht sei, dass der Erlass „weiteren Kreisen bekannt“ würde.

Himmler, der sich aufgrund dieses Erlasses eigenmächtig, doch unwidersprochen den Titel eines Reichskommissars für die Festigung deutschen Volkstums (RKF) zulegte, war damit die Gesamtkompetenz für die Volkstumspolitik zugefallen – eine Schlüsselposition innerhalb der rassistischen Politik des NS-Regimes, die Himmler sogleich auszubauen verstand. In einer ersten Anordnung wenige Tage nach seiner Ernennung richtete er eine zentrale Dienststelle unter Ulrich Greifelt ein, der unter Himmler bereits bei der geplanten Umsiedlung der Südtiroler gearbeitet hatte. Bestand anfangs die RKF-Dienststelle nur aus wenigen Mitarbeitern, so expandierte sie in den kommenden zwei Jahren personell wie institutionell rasch. Im Juni 1941 erhob Himmler den RKF-Stab zu einem SS-Hauptamt und stellte es damit auf eine institutionelle Ebene wie das Reichssicherheitshauptamt oder das Rasse- und Siedlungshauptamt der SS.[12]

Die Volkstumspolitik der SS war von vornherein auf mehrere Institutionen verteilt. Das Reichssicherheitshauptamt (RSHA) beanspruchte für sich die Exekutivkompetenz für die Deportationen und Mordpolitik. Unter seiner Führung entstanden die so genannten Umsiedlerzentralstellen (UWZ) in den annektierten polnischen Gebieten, die die Räumung der polnischen Höfe und Vertreibung von Polen und Juden organisierten, sowie die Einwandererzentralstelle (EWZ), die die eintreffenden Volksdeutschen rassisch überprüfte und kategorisierte. Die Volksdeutsche Mittelstelle, die seit 1937 vom Himmler-Vertrauten Lorenz geleitet wurde, sorgte sich um die Unterbringung der Volksdeutschen in den Übergangslagern. Wirtschaftlich kümmerte sich die Deutsche Umsiedlungstreuhand GmbH (DUT) um das zurückgelassene Vermögen der volksdeutschen Einwanderer und kompensierte es mit der entschädigungslosen Enteignung polnischen und jüdischen Eigentums. Das Rasse- und Siedlungshauptamt (RuSHA) war wiederum verantwortlich für eine laufende rassische Überprüfung der als „deutsch“ bzw. „eindeutschungsfähig“ eingestuften Angehörigen der einheimischen Bevölkerungen in den besetzten Gebieten. Der RKF-Dienststelle fiel dabei eine insgesamt koordinierende und konzeptionelle Funktion zu. Hier entstanden unter der Federführung des Agrarwissenschaftlers Konrad Meyer die von der Deutschen Forschungsgemeinschaft als Schwerpunktprojekt finanziell geförderten Arbeiten am berüchtigten „Generalplan Ost“, der die Vertreibung und Ermordung von Millionen Menschen in Osteuropa und der Sowjetunion vorsah.

Nach eigenen Angaben hatte der RKF bis Ende 1942 über 600.000 Volksdeutsche „umgesiedelt“, was nicht zuletzt selbst für diese Gruppen vielschichtige, widerspruchsvolle Erfahrungen von Heimatverlust und (Zwangs-)Migration, völkischer Aufwertung, „Heim-ins-Reich“-Hoffnungen und schließlich Vertreibung bedeuteten. Denn der sicher geglaubte militärische Sieg gegen die Rote Armee blieb aus und die deutschen Besatzer hatten sich gegen einen immer stärker werdenden Gegner zu wehren. An groß angelegte Siedlungsprojekte war nicht mehr zu denken, was aber keineswegs hieß, dass Himmler seine „Germanisierungs“-Pläne aufgab. Den ganzen Krieg hindurch bemühte er sich stets darum, in der Ukraine oder Zentralpolen deutsche Siedlungen zu gründen, die mehr Wehrdörfern glichen als friedlichen Ortschaften. Zuvor wurde die einheimische Bevölkerung brutal enteignet und vertrieben, die volksdeutschen Siedlungsanwärter wiederum von den SS-Rasseexperten erfasst, geprüft und klassifiziert. Auf der Suche nach so genanntem „guten Blut“ musterten sie Soldatenkinder ebenso wie Kinder von ermordeten Einheimischen und verschleppten sie, falls sie zu einem positiven Urteil kamen, nach Deutschland, wo diese geraubten Kinder in Heimen oder deutschen Familien aufwuchsen, ohne mehr etwas von ihren wirklichen Eltern zu erfahren.

Die völkischen Neuordnungspläne der NS-Führung hatten keine Karte von Staaten mehr im Blick, sondern allein Völker und Volksgruppen, die rassenbiologisch bewertet und dementsprechend in ihrer Existenzberechtigung und „Nutzbarmachung“ für das deutsche „Herrenvolk“ hierarchisch eingestuft wurden. Europa, so Hitler, sei kein geografischer, sondern ein „blutsmäßig bedingter Begriff“.[13]

Konsequent wurde deshalb keine staatliche Behörde, sondern eine spezifisch nationalsozialistische Institution, die SS, mit der Ausarbeitung wie Exekution der rassistischen Volkstumspolitik beauftragt. Himmler verstand seine Aufgabe von vornherein keineswegs als bloße organisatorische Bewältigung dieser Zwangsumsiedlungs- und Vertreibungspläne. Ihm ging es vor allem um ethnische Säuberung, um eine rassische Neuordnung der gesamten Region. Die SS bildete den organisatorischen wie konzeptionellen Kern einer nationalsozialistischen Biopolitik, die, in den Worten Michel Foucaults, darüber entschied, wer leben soll und wer sterben muss. Volkstumspolitik beinhaltete stets zwei Seiten, die beide im Erlass Hitlers vom 7. Oktober 1939 benannt werden: die Ansiedlung der eigenen Volksgenossen, die als „rassisch einwandfrei“ bewertet wurden, ebenso wie eine erbbiologische Politik der Züchtung und Förderung „rassisch wertvoller“ neuer Volksgenossen auf der einen Seite und das Ausmerzen „lebensunwerten“ Lebens sowie die „Ausschaltung“, Vertreibung, Ermordung „rassisch minderwertiger“ Völker auf der anderen Seite. Beide Seiten gehören untrennbar zusammen.



[1] Essay zur Quelle: Adolf Hitler, Erlaß des Führers und Reichskanzlers zur Festigung deutschen Volkstums (Berlin, 7. Oktober 1939); [Transkript und Scan des Originals]. Druckversion des Essays befindet sich in: Hartmut Kaelble, Rüdiger Hohls (Hgg.): Geschichte der europäischen Integration bis 1989, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2016, S. 37–43, Band 1 der Schriftreihe Europäische Geschichte in Quellen und Essays.

[2] Vgl. Schwartz, Michael, Ethnische „Säuberungen“ in der Moderne. Globale Wechselwirkungen nationalistischer und rassistischer Gewaltpolitik im 19. und 20. Jahrhundert, München 2013; Jureit, Ulrike, Das Ordnen von Räumen. Territorium und Lebensraum im 19. und 20. Jahrhundert, Hamburg 2012.

[3] Hitler, Adolf, Mein Kampf, 349.–351. Auflage, München 1938, S. 154.

[4] Hitlers zweites Buch. Ein Dokument aus dem Jahr 1928, eingeleitet und kommentiert von Gerhard L. Weinberg, Stuttgart 1961, S. 81; vgl. dazu das Kapitel „Die Eroberung von Raum“ bei Jäckel, Eberhard, Hitlers Weltanschauung. Entwurf einer Herrschaft, erw. u. überarb. Neuausg., Stuttgart 1991, S. 29–54; Wolf, Gerhard, Ideologie und Herrschaftsrationalität. Nationalsozialistische Germanisierungspolitik in Polen, Hamburg 2012.

[5] Der Text der gut einstündigen Rede wurde in den Reichstagsprotokollen veröffentlicht (Verhandlungen des Reichstages, Band 460, Stenografische Protokolle 1939–1942, 4. Sitzung, 06.10.1939, S. 51–63) und ist im Internet verfügbar unter der URL: <http://www.reichstagsprotokolle.de/Blatt2_n4_bsb00000613_00052.html> (16.11.2015); vgl. dazu meinen Aufsatz: „Eine neue Ordnung der ethnographischen Verhältnisse“. Hitlers Reichstagsrede vom 6. Oktober 1939, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 3 (2006), H. 1, S. 129–137, online verfügbar unter der URL: <http://www.zeithistorische-forschungen.de/site/40208590/default.aspx> (16.11.2015).

[6] Zitiert nach: Vorläufer des „Generalplans Ost“. Eine Dokumentation über Theodor Schieders Polendenkschrift vom 7. Oktober 1939, eingeleitet und kommentiert von Angelika Ebbinghaus und Karl Heinz Roth, in: 1999. Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts 7 (1992), H. 1, S. 62–94, hier: S. 86f., S. 90; siehe dazu die Debattenbeiträge vor allem von Götz Aly, Wolfgang J. Mommsen und Ingo Haar in: Schulze, Winfried; Oexle, Otto Gerhard (Hgg.), Deutsche Historiker im Nationalsozialismus, Frankfurt am Main 1999.

[7] Akten zur Deutschen Auswärtigen Politik (ADAP), Serie D: 1937–1941, Bd. 7: Die letzten Wochen vor Kriegsausbruch. 9. August bis 3. September 1939, Baden-Baden 1956, S. 172. Über diese Rede Hitlers am 22.08.1939 existieren fünf Aufzeichnungen, die allesamt keine offiziellen Protokolle darstellen, da Hitler den Teilnehmern ausdrücklich untersagt hatte, mitzuschreiben, sondern es handelt sich um private Mitschriften bzw. Notizen, deren Verfassen zum Teil unbekannt sind. Zwei Fassungen gelangten als offizielle Dokumente in die Beweisunterlagen des Nürnberger Prozesses (Dok. 798-PS, IMG, Bd. 26, S. 338–344, und Dok. 1014-PS, ebd., S. 523–524); vgl. dazu Baumgart, Winfried, Zur Ansprache Hitlers vor den Führern der Wehrmacht am 22. August 1939, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 16 (1968), S. 120–149; Boehm, Hermann; Baumgart, Winfried, Zur Ansprache Hitlers am 22. August 1939. Miszelle, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 19 (1971), S. 294–304.

[8] Protokoll der Amtschefbesprechung vom 07.09.1939, Bundesarchiv, R 58/825, Bl. 1f.; vgl. Mallmann, Klaus-Michael; Böhler, Jochen; Matthäus, Jürgen, Einsatzgruppen in Polen. Darstellung und Dokumentation, hrsg. im Auftrag des Deutschen Historischen Instituts Warschau und der Forschungsstelle Ludwigsburg der Universität Stuttgart, Darmstadt 2008; Mallmann, Klaus-Michael; Musial, Bogdan (Hg.), Genesis des Genozids. Polen 1939–1941, Darmstadt 2004.

[9] Generaloberst Halder, Kriegstagebuch, bearbeitet von Hans-Adolf Jacobsen in Verbindung mit Alfred Philippi, Bd. 1, Stuttgart 1962, S. 82.

[10] Protokoll der Besprechung vom 21.09.1939, Bundesarchiv R 58/825, Bl. 26–30.

[11] Erlaß des Führers und Reichskanzlers zur Festigung deutschen Volkstums (7. Oktober 1939), in: Bundesarchiv, R 43 II/604, Bl. 7–9; abgedruckt in: Martin Moll (Hg.), „Führer-Erlasse“ 1939–1945, Stuttgart 1997.

[12] Vgl. Stiller, Alexa, Gewalt und Alltag der Volkstumspolitik. Der Apparat des Reichskommissars für die Festigung deutschen Volkstums und andere gesellschaftliche Akteure der veralltäglichten Gewalt, in: Böhler, Jochen; Lehnstaedt, Stephan (Hgg.), Gewalt und Alltag im besetzten Polen 1939–1945, Osnabrück 2012, S. 45–66.

[13] Picker, Henry, Hitlers Tischgespräche im Führerhauptquartier, vollst. überarb. u. erw. Neuausg., Stuttgart 1977, S. 69 (08./09.09.1941).



Literaturhinweise

  • Aly, Götz, „Endlösung“. Völkerverschiebung und der Mord an den europäischen Juden, Frankfurt am Main 1995.
  • Heinemann, Isabel; Wagner, Patrick (Hgg.), Wissenschaft – Planung – Vertreibung. Neuordnungskonzepte und Umsiedlungspolitik im 20. Jahrhundert, Stuttgart 2006.
  • Mallmann, Klaus-Michael; Musial, Bogdan (Hgg.), Genesis des Genozids. Polen 1939–1941, Darmstadt 2004.
  • Schwartz, Michael, Ethnische „Säuberungen“ in der Moderne. Globale Wechselwirkungen nationalistischer und rassistischer Gewaltpolitik im 19. und 20. Jahrhundert, München 2013.
  • Wolf, Gerhard, Ideologie und Herrschaftsrationalität. Nationalsozialistische Germanisierungspolitik in Polen, Hamburg 2012.


Quelle zum Essay
Völkische Neuordnung Europas
( 2007 )
Zitation
Adolf Hitler, Erlaß des Führers und Reichskanzlers zur Festigung deutschen Volkstums (Berlin, 7. Oktober 1939); [Transkript und Scan des Originals], in: Themenportal Europäische Geschichte, 2007, <www.europa.clio-online.de/quelle/id/q63-28467>.
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