John Schehr und Genossen. Ein Gedicht von Erich Weinert (1934)

John Schehr und Genossen. Ein Gedicht von Erich Weinert (1934)

John Schehr und Genossen. Ein Gedicht von Erich Weinert[1]

Es geht durch die Nacht. Die Nacht ist kalt.
Der Fahrer bremst. Sie halten im Wald.
Zehn Mann Geheime Staatspolizei.
Vier Kommunisten sitzen dabei,
John Schehr und Genossen.

Der Transportführer sagt: "Kein Mensch zu sehn."
John Schehr fragt: "Warum bleiben wir stehn?"
Der Führer flüstert: "Die Sache geht glatt!"
Nun wissen sie, was es geschlagen hat,
John Schehr und Genossen.

Sie sehn, wie die ihre Pistolen ziehn.
John Schehr fragt: "Nicht wahr, jetzt müssen wir fliehn?"
Die Kerle lachen. "Na, wird es bald?
Runter vom Wagen und rein in den Wald,
John Schehr und Genossen!"

John Schehr sagt: "So habt ihr es immer gemacht!
So habt ihr Karl Liebknecht umgebracht!"
Der Führer brüllt: "Schmeißt die Bande raus!"
Und schweigend steigen die viere aus,
John Schehr und Genossen.

Sie schleppen sie in den dunklen Wald.
Und zwölfmal knallt es und widerhallt.
Da liegen sie mit erloschenem Blick,
jeder drei Nahschüsse im Genick,
John Schehr und Genossen.

Der Wagen saust nach Berlin zurück.
Das Schauhaus quittiert: "Geliefert vier Stück."
Der Transportführer schreibt ins Lieferbuch:
"Vier Kommunistenführer, beim Fluchtversuch,
John Schehr und Genossen."

Dann begibt er sich in den Marmorsaal,
zum General, der den Mord befahl.
Er stellt ihn, mitten im brausenden ball.
"Zu Befehl, Exzellenz! Erledigt der Fall
John Schehr und Genossen."

Erledigt der Fall? Bis zu einem Tag!
Da kracht seine Türe vom Kolbenschlag.
Er springt aus dem Bett. "Was wollt ihr von mir?"
"Kommt mit, Exzellenz, die Abrechnung für
John Schehr und Genossen.


[1] Erich Weinert, Es kommt der Tag. Gedichte, Moskau/Leningrad 1934, S. 20.


Zugehöriger Essay: Kommunistischer Antifaschismus zwischen Halbwahrheit und Humanismus in der DDR

Kommunistischer Antifaschismus zwischen Halbwahrheit und Humanismus in der DDR [1]

Udo Grashoff

Erich Weinerts Ballade John Schehr und Genossen war ein wichtiger Text des in der DDR propagierten Antifaschismus. Das Gedicht war obligatorischer Bestandteil des Lehrplans der DDR-Schulen[2] und verdeutlicht exemplarisch die verzerrte Repräsentation des kommunistischen Widerstandskampfes gegen den Nationalsozialismus in der DDR. Dessen politische Instrumentalisierung hat Historiker veranlasst, vom „verordneten“, „gesäuberten“, „missbrauchten“ und „gescheiterten Anti-Faschismus der SED“ zu sprechen.[3] Um die eigene Parteidiktatur zu legitimieren, überhöhte die SED die Bedeutung des kommunistischen Widerstands und propagierte ein normatives Heldenbild, das Ambivalenz, Opportunismus und Zweifel weitgehend ausblendete.[4] Das Zurechtrücken von historischen Verzerrungen – vom Thälmann-Kult über die roten Kapos von Buchenwald und die Marginalisierung der Shoah bis zu vereinzelten Fälschungen – war nach 1990 zunächst vor allem Teil der Delegitimierung der Diktatur. In diesem Zusammenhang wurden die negativen Aspekte des kommunistischen Antifaschismus stark betont.[5] Jüngere Studien haben demgegenüber ein differenziertes Verständnis angeregt.[6] Die nachfolgende Diskussion von Weinerts Gedicht knüpft daran an.

Die Ballade beschreibt ein historisches Ereignis: den Mord an vier Kommunisten in einem Wald bei Berlin am Abend des 1. Februar 1934, ausgeführt von einem Kommando der Gestapo. Bei den Opfern handelte es sich um den Thälmann-Stellvertreter John Schehr, den Mitarbeiter des KPD-Nachrichtenapparates Rudolf Schwarz, den Leiter des illegalen Schriftenvertriebs der KPD Eugen Schönhaar und den für Kontakte aus dem KZ Sonnenburg zur KPD-Leitung zuständigen Erich Steinfurth, der von 1929 bis 1933 dem Preußischen Landtag angehört hatte.

Weinert stellt die Kommunisten als aufrechte, den Faschisten ausgelieferte Opfer und die nationalsozialistischen Täter als brutale, zynische Büttel dar. Damit erweckt er den Eindruck, dass die vier vor allem wegen ihrer kommunistischen Überzeugung ermordet wurden. Zugleich verschweigt er das Hauptmotiv: Es handelte sich um Vergeltung für einen anderen Mord. Am Morgen desselben Tages war Alfred Kattner, ein ehemaliger Mitarbeiter Ernst Thälmanns, der seit Herbst 1933 Informant der Gestapo war, ermordet worden.[7] Thälmanns einstiger Vertrauter, der in einem geplanten Hochverratsprozess als Kronzeuge gegen den KPD-Vorsitzenden aussagen sollte,[8] hatte der KPD durch seine Kollaboration mit der Gestapo schwer geschadet. Sowohl die Festnahme des amtierenden Führers der Partei, John Schehr, am 9. November 1933, als auch, zwei Tage später, des Herausgebers der illegalen Roten Fahne, Eugen Schönhaar, „gelang mit Hilfe Kattners“, wie ein Bericht des Gestapodezernats für „Internationalen Bolschewismus und allgemeinen Kommunismus“ an Rudolf Diels, den damaligen Chef der Gestapo, hervorhob.[9] Zudem führte die Kollaboration Kattners auch zum vorübergehenden Kollaps des Geheimdienstes der KPD, des sogenannten AM-Apparates.[10] Am 18. Dezember 1933 wurden Hermann Dünow und Karl Langowski verhaftet, einige Tage danach Rudolf Schwarz. Durch Geständnisse gefolterter Funktionäre fiel der Gestapo das Abwehrarchiv sowie ein in der Treptower Sternwarte verstecktes Archiv der Passfälscherabteilung in die Hände.[11] Kattner führte die Gestapo auch zu Geheimverstecken im Karl-Liebknecht-Haus, der ehemaligen Parteizentrale der KPD. Hier lagerten Verzeichnisse sämtlicher KPD-Funktionäre mit Adressen und Lebensläufen, von Thälmann handschriftlich korrigierte Manuskripte, die als Beweismaterial für den Prozess in Frage kamen, sowie einige wenige Waffen.[12] Laut einem internen Papier des KPD-Abwehrapparates wusste Kattner zudem von Plänen, Kommunisten aus dem KZ Sonnenburg zu befreien, und hat dies vermutlich der Gestapo verraten.[13] Schließlich gab Kattner, der zeitweise als Spitzel in Gefängnissen eingesetzt wurde, auch die Funktion des AM-Funktionärs Theodor Bottländer preis, der bereits im Oktober 1933 verhaftet worden war, aber seine leitende Stellung im KPD-Geheimdienst wochenlang verschleiern konnte.[14]

Kattners Ermordung kann als verzweifelter Versuch der illegalen KPD verstanden werden, ihre Handlungsfähigkeit wieder herzustellen. Der Fememord wurde für die Partei jedoch, wie der Historiker Ronald Sassning formuliert hat, zum „antikommunistischen Bumerang“.[15] Den im Detail nicht immer zuverlässigen Erinnerungen des Gestapo-Chefs Rudolf Diels zufolge soll der zornentbrannte Hitler zunächst die Erschießung von 1.000 verhafteten Kommunisten angeordnet haben. Diels habe angesichts dieser unrealistischen Forderung bei Göring vorgesprochen, der offenbar auf der Statuierung eines Exempels bestanden habe, wenngleich in geringerem Umfang.[16] In der NS-Presse wurde der Mord an den vier hochrangigen KPD-Funktionären vertuscht. Sie seien auf der Flucht erschossen worden, hieß es. Den Tatort am Kilometerberg in Berlin-Wannsee begründete der Völkische Beobachter damit, dass die Kommunisten nach Potsdam transportiert werden sollten, um dort über die Hintergründe des Fememordes verhört zu werden.[17]

Demgegenüber erklärte das nach Paris emigrierte Zentralkomitee der Kommunistischen Partei am 2. Februar 1934: „Die angeblich vor einigen Tagen erfolgte Erschießung eines Subjekts namens Kattner, eines feigen und bestochenen Überläufers, nahmen sie [die Nationalsozialisten] zum Anlaß, unsere vier Genossen nach gräßlichen Mißhandlungen in einem Wald vor Berlin zu ermorden.“[18] Die kommunistische Führung stellte den Mord der anderen heraus und verschleierte die eigene Aktion. Das ähnelt der Darstellung Weinerts, der sich 1934 im Exil in Lothringen aufhielt: „Wir wohnen jetzt in Forbach, auf einem Berge am Rande der Stadt, in einem Waldgasthof. Es ist hier alles sehr einfach, wir haben kein Gas, keine Wasserleitung, in der Küche ist nicht einmal ein Ausguss. Ich habe alle Hände voll zu tun mit Wasserschleppen, Holz sammeln und ins Städtchen einkaufen gehn. Doch sonst gefällt es mir hier“, schrieb seine Tochter an eine Freundin.[19] Die französische Regierung hatte dem Dichter eine Aufenthaltserlaubnis erteilt, unter der Bedingung, dass er sich jeglicher politischer Tätigkeit enthielt. Weinert trat aber bei zahlreichen kommunistischen Veranstaltungen im Saargebiet auf, wo er gegen den Anschluss des Saarlands an das „Dritte Reich“ agitierte.[20] Im Zuge der antifaschistischen Propaganda-Auftritte entstand auch das Gedicht John Schehr und Genossen, das in einer Zeitung abgedruckt und dann von Kurieren nach Deutschland geschmuggelt wurde. Wie Weinert später berichtete, habe ihm ein Kurier aus Frankfurt am Main „eine ganze Broschüre gebracht, zusammengeheftet aus abgezogenen Blättern, die zehn meiner Gedichte enthielt. Er erzählte, daß die Broschüre überall heimlich vertrieben worden wäre und sogar unter der SA kursierte. Besonders das Gedicht ‚John Schehr und Genossen‘ habe Staub aufgewirbelt.“[21]

Weinerts Gedicht dürfte seine Wirkung nicht zuletzt wegen der Sympathie mit den Opfern des Naziterrors entfaltet haben. Diese Sympathie reichte über die Grenzen seiner Partei hinaus. So schrieb Weinert im Jahr 1934 einen einfühlsamen Nachruf auf den im KZ Oranienburg ermordeten Anarchisten Erich Mühsam: „Du hasstest zwar Parteien und ihre Apparate; du hasstest das Autoritäre. Aber auch als Außenstehender bliebst du uns als Kampfgenosse treu verbunden.“[22] Das ist umso bemerkenswerter, als Weinert sich ansonsten als treuer Propagandist der Parteilinie betätigte. 1935 ging er in die Sowjetunion, wo er als Verfechter der revolutionären Wachsamkeit auftrat. Mit dem Verriss eines Theaterstücks von Samuel Glesel, das er als „Schandfleck der deutschen Literatur“ bezeichnete, war er an den stalinistischen Säuberungen beteiligt.[23] Von 1937 bis 1939 war Weinert als Politkommissar bei der XI. Internationalen Brigade in Spanien tätig. In seinem Selbstverständnis als „kämpfender Dichter“ schrieb er Gedichte und Reportagen, veranstaltete Lied- und Vortragsabende.[24] Nach dem Ende des Spanischen Bürgerkrieges und einer monatelangen Inhaftierung in Frankreich gelang es ihm, in die Sowjetunion zurückzukehren, wo er sich an der sowjetischen Frontpropaganda in Stalingrad beteiligte. 1943 begründete er das Nationalkomitee Freies Deutschland mit und ließ sich im Parteiauftrag als Präsident nominieren.[25] Nach seiner Rückkehr in die sowjetische Besatzungszone amtierte er als Vizepräsident der Zentralverwaltung für Volksbildung. In der frühen DDR trug Weinerts naives Lobgedicht Im Kreml ist noch Licht zum Stalin-Kult bei. Später war es das Gedicht über John Schehr und Genossen, das der SED dazu diente, das Leiden der Kommunisten zu heroisieren und den Holocaust mittelbar zu marginalisieren.

Weinert selbst allerdings zeigte Mitgefühl mit jüdischen Opfern. Nach Kriegsende wurde sein französischer Schriftstellerkollege Louis Aragon Zeuge, „wie Erich Weinert, dieser bei aller Herzensgüte so kraftvolle, in jedem Sinne stämmige Mann, einem Kinde gleich weinte, als er unmittelbar nach dem zweiten Weltkrieg einer Dokumentarfilmvorführung beiwohnte, in der die nazistischen Judenpogrome, die sadistischen Exzesse in und nach der berüchtigten „Kristallnacht“ zu sehen waren.“[26] Weinerts Person wie auch sein Gedicht verdeutlichen exemplarisch eine grundsätzliche Paradoxie des kommunistischen Antifaschismus, der in der DDR zur Staatsdoktrin wurde. Zum einen basierte der kommunistische Antifaschismus der KPD wie auch später der SED auf historischen Halbwahrheiten, die dessen Glaubwürdigkeit untergruben. Zugleich aber kam darin ein genuin humanistischer Anspruch zum Ausdruck, – eine Bereitschaft zur Integration der positiven Elemente deutscher Kultur und ein Appell an das Mitgefühl mit Opfern von Gewaltherrschaft und Krieg.

Mit dem absichtlichen Verschweigen des Mordes an Kattner versäumte es die SED, den Schülerinnen und Schülern ein authentischeres Bild vom antifaschistischen Widerstand zu vermitteln. Am Beispiel Kattners hätte die Frage des Handelns in existenziellen Grenzsituationen diskutiert werden können, denn die Kommunisten des Widerstands hatten sich die Entscheidung, den Verräter zu töten, nicht leicht gemacht. Nachdem eine Untersuchung das Misstrauen gegen Kattner nicht vollständig ausräumen konnte, beschloss der AM-Apparat zunächst, den Verdächtigen zur militärpolitischen Schule nach Moskau zu delegieren.[27] Noch am 18. Dezember 1933, als zwei Funktionäre des AM-Apparates Kattner die Reisepapiere übergeben wollten, konnte die Gestapo ihn erfolgreich als Lockspitzel einsetzen, um die beiden zu verhaften. Erst nachdem Kattner Ende Dezember in Begleitung eines Fremden Zugang zum illegalen Büro des KPD-Abwehrressorts verlangte und nachdem er sich dann auch nicht, wie von der KPD gefordert, Anfang Januar 1934 in Prag eingefunden hatte,[28] wandte die KPD ihre routinemäßige, bereits in der Weimarer Republik praktizierte Methode der Spitzelbekämpfung durch öffentliche Anprangerung an. Die Partei verbreitete einen Steckbrief mit der Forderung, im Wohnumfeld des Verräters Flugblätter zu verteilen bzw. per Post zuzustellen. Parallel dazu nahm die für Spitzelabwehr zuständige Abteilung des KPD-Nachrichtendienstes die Planungen für einen Mord auf.[29] Kurt Granzow wurde damit beauftragt. Er engagierte den kurz zuvor aus dem KZ entlassenen Hans Schwarz zur Ausführung des Mordes.[30] Schwarz tötete Kattner am Vormittag des 1. Februars 1934 in dessen Wohnung in Nowawes, dem heutigen Babelsberg, durch mehrere Schüsse.

Die Geschichten der Täter des Kattner-Mordes wie auch der nationalsozialistischen Vergeltung wurden in der DDR ebenfalls totgeschwiegen. Auch hier wurde die Chance, tieferes Verständnis zu wecken, vergeben. Das Beispiel von Hans Schwarz hätte illustrieren können, dass Fememorde generell nicht zum Repertoire des kommunistischen Widerstands im „Dritten Reich“ gehörten.[31] Wenn Kommunisten die Tötung von Spitzeln erwogen, dann geschah das vor allem, weil von diesen eine tödliche Gefahr für Angehörige illegaler Gruppen ausging. Und selbst dann blieben Zweifel. Als Hans Schwarz, der zu dieser Zeit im Widerstand in der Slowakei aktiv war, im Jahr 1942 von der Gestapo verhört wurde, gestand er aus freien Stücken die acht Jahre zurückliegende Tat, da ihn, wie er angab, Gewissenbisse plagten.[32] Im Unterschied dazu sah der Auftraggeber des Mordes, Kurt Granzow, sein „Gewissen als entlastet“ an, weil Kattner „den größten Teil des Parteiapparates preisgegeben und damit Gefahren für die gesamte Organisation heraufbeschworen“ hatte.[33] Die Frage, ob Mord in Extremsituationen akzeptabel ist, wurde unter illegal tätigen deutschen Kommunisten mehrfach kontrovers diskutiert. Das illustriert eine Episode aus der Geschichte des verzweigten Widerstandsnetzwerks, das Bernhard Bästlein, Franz Jakob und Anton Saefkow im Jahr 1944 aufgebaut hatten. Zentrum der Gruppe war Berlin, doch es bestanden Verbindungen in zahlreiche Regionen des Reiches. Als Bästlein erfuhr, dass der Kontaktmann aus Dresden, Kurt Sindermann, V-Mann der Gestapo war, forderte er, den Verräter zu töten, weil hunderte Beteiligte in Gefahr seien. Dazu kam es letztlich nicht, weil Saefkow und Jakob sich aus ethischen Gründen dagegen aussprachen: „Wir wollten uns beide nicht mit dem gemeinen Verbrechen eines Mordes belasten, denn wir sind ja keine kriminellen Verbrecher, sondern handeln aufgrund unserer politischen Weltanschauung“, erklärte Saefkow gegenüber der Gestapo.[34]

Während die Ermordung Kattners ein Ausnahmefall blieb, markierte die Erschießung von John Schehr und Genossen für den dafür verantwortlichen Kriminalkommissar, Bruno Sattler, den Beginn einer nationalsozialistischen Täterkarriere. Sattler, zu dieser Zeit Leiter des Gestapo-Dezernats für die Überwachung von Sozialdemokratie und Gewerkschaften, hatte sich bereits im Jahr 1920 der rechtsradikalen Marine-Brigade Ehrhardt angeschlossen. 1928 war er zur politischen Polizei gekommen, hatte in der Gestapo Karriere gemacht und wurde 1942 Gestapochef in Belgrad. Hier war er für Geiselerschießungen verantwortlich und wirkte beim Einsatz eines Gaswagens zur Ermordung tausender Juden mit.[35] Nach Kriegsende tauchte er zunächst unter, bevor ihn im Jahr 1947 ein Kommando der Abteilung K 5 (der Vorläufer der Staatssicherheit) aus dem amerikanischen Sektor nach Ostberlin entführte. Die SED war nicht immer so konsequent in der Verfolgung von NS-Verstrickungen, wie sie das in ihrer Propaganda darstellte – im Fall Sattler jedoch schon.[36] Während Gestapobeamte in der Bundesrepublik selten behelligt wurden, wurde Sattler im Jahr 1952 vom Landgericht Greifswald zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt. Die Haftstrafe verbüßte er bis zu seinem Tod 1972 in der DDR.

Die Akten des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) deuten darauf hin, dass die Staatssicherheit erst im Jahr 1965 herausfand, dass Sattler wahrscheinlich für die Ermordung John Schehrs verantwortlich war, da er den Bericht über die Mordaktion verfasst hatte. Den MfS-Mitarbeitern ist es aber offenbar nicht gelungen, Sattler zu einem Geständnis zu bewegen.[37] Möglicherweise haben sie dies auch nicht mit Nachdruck versucht, weil man bei einer öffentlichen Anprangerung Sattlers auch die Ermordung Kattners hätte ansprechen müssen.

All diese historischen Details hätten, wenn sie in der DDR nicht verschwiegen worden wären, dem holzschnittartigen Antifaschismus, dessen eigentlicher Held die Partei war, Schattierungen hinzufügen können. Sie hätten Diskussionen über existenzielle Konflikte anregen und den Widerstandshelden menschliche Züge verleihen können. Indem die SED-Historiografie die Akteure auf abstrakte Helden-Schablonen reduzierte, untergrub sie die Glaubwürdigkeit der eigenen Propaganda. Und sie erwies dem trotz aller mythischen Überhöhung tatsächlich vorhandenen Opfermut vieler Kommunisten einen Bärendienst.

Das hat Konsequenzen bis in die Gegenwart. Dass der kommunistische Widerstand gegen den Nationalsozialismus in der europäischen Geschichtsschreibung ein Randdasein fristet, ist nur teilweise ein Resultat des antikommunistischen Grundkonsenses der Bundesrepublik und der Fokussierung auf den nationalkonservativen Widerstand. Das aus seiner staatstragenden Funktion herrührende, undifferenzierte Geschichtsbild des DDR-Antifaschismus hat seinerseits dazu beigetragen, den kommunistischen Widerstand zu marginalisieren.



[1] Essay zur Quelle:John Schehr und Genossen. Ein Gedicht von Erich Weinert(1934), 2020, .

[2] Vgl. Tobias Barth/Udo Grashoff, John Schehr und Genossen, Radiofeature rbb/mdr figaro 2008.

[3] Vgl. Ralph Giordano, Der verordnete Antifaschismus. Ein Wort zum Thema „NS-Erbe und DDR“, in: ders., Die zweite Schuld oder Von der Last Deutscher zu sein, Hamburg 1987, S. 215-228; Manfred Agethen/Eckard Jesse/Ehrhart Neubert, Der missbrauchte Antifaschismus. DDR-Staatsdoktrin und Lebenslüge der deutschen Linken, Freiburg 2002; Harry Waibel, Der gescheiterte Anti-Faschismus der SED. Rassismus in der DDR, Frankfurt a.M. 2014.

[4] Vgl. Jürgen Danyel (Hg.),Die geteilte Vergangenheit.Zum Umgang mit Nationalsozialismus und Widerstand in beiden deutschen Staaten, Berlin 1995; Kurt Finker, Zwischen Integration und Legitimation. Der antifaschistische Widerstandskampf in Geschichtsbild und Geschichtsschreibung der DDR, Leipzig 1999.

[5] Vgl. Lutz Niethammer (Hg.), Der „gesäuberte“ Antifaschismus. Die SED und die roten Kapos von Buchenwald, Berlin 1994; Frank Hirschinger, Fälschung und Instrumentalisierung antifaschistischer Biographien. Das Beispiel Halle/Saale 1945-2005, Göttingen 2007.

[6] Vgl. Stefan Küchler, DDR-Geschichtsbilder. Zur Interpretation des Nationalsozialismus, der jüdischen Geschichte und des Holocaust im Geschichtsunterricht der DDR, in: Internationale Schulbuchforschung 22 (2000) 1, S. 31-48;René Börrnert, Ernst Thälmann als Leitfigur der kommunistischen Erziehung in der DDR, Braunschweig 2002.

[7] Vgl. Ronald Sassning, Die Verhaftung Ernst Thälmanns und der „Fall Kattner“. Hintergründe, Verlauf, Folgen, Teil 2 (= Pankower Vorträge, Heft 11/2), Berlin 1999.

[8] Ein Kronzeuge gegen Thälmann von Kommunisten erschossen, in: Völkischer Beobachter, Norddeutsche Ausgabe/Ausgabe A, 3.2.1934, S. 1.

[9] Gestapa Abt. III L. an Ministerialrat Diels, Berlin, 8.2.1934, in: Bundesarchiv (BArch), R 1501/20278, Bl. 35-38, Zitat Bl. 35.

[10] AM-Apparat: Anti-Militaristischer Apparat.

[11] Vgl. Bernd Kaufmann/Eckhard Reisener/Dieter Schwips/Henri Walther, Der Nachrichtendienst der KPD 1919-1937, Berlin 1993, S. 315f.

[12] Vgl. Gestapa IIb, Vermerk, 14.11.1933, in:Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv (SAPMO-BArch), NY 4003/35, Bl. 44; Bericht Gestapa, Abt. III B1, Karl Giering, 17.11.1933, in: Bundesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen (BStU), MfS, HA IX/11 SV 1/81, Bd. 187, Bl. 41-43.

[13] Vgl. Bericht über Abwehrapparat resp. Abwehrarbeit, 4.1.1936, in: SAPMO-BArch, RY 1/I 2/3/88, Bl. 285-293, hier Bl. 289.

[14] Vgl. Alex [Hans Kippenberger], Verhaftungen im zentralen Apparat der mil.-pol. Abteilung, 4.1.1936, in: SAPMO-BArch, RY 1/I 2/3/88, Bl. 44-53.

[15] Sassning, Fall Kattner, Teil 2, S. 117.

[16] Vgl. Rudolf Diels, Lucifer ante portas ... es spricht der erste Chef der Gestapo, Stuttgart 1950, S. 403f.

[17] Ein Kronzeuge gegen Thälmann von Kommunisten erschossen, in: Völkischer Beobachter, Norddeutsche Ausgabe/Ausgabe A, 3.2.1934, S. 1.

[18] ZK der KPD, Rettet Thälmann, Torgler, Dimitrow und Genossen! Vierfacher Meuchelmord an kommunistischen Führern!, in: Rundschau Nr. 14 (1934), S. 501f., in: SAPMO-BArch, RY 1/I 2/3/44, Bl. 281f.

[19] Marianne Lange-Weinert, Mädchenjahre, Berlin 1968, S. 118.

[20] Vgl. Anni Löchner, in: Erich Weinert. Dichter und Tribun. 1890-1953, Weimar/Berlin 1965, S. 123-125.

[21] Rudolf Engel (Hg.), Erich Weinert erzählt. Berichte und Bilder aus seinem Leben, Berlin 1955, S. 49. Das Gedicht ist im Buch abgedruckt (S. 50-51), mit falscher Schreibweise des Namens (John Scheer), und unterzeichnet: Forbach, 1934. Weinert behauptete zudem, dass das Gedicht im Dritten Reich in hunderttausend Exemplaren verbreitet wurde, was nicht nachgeprüft werden kann. Vgl. Erich Weinert, Die Bedeutung der Emigrantenliteratur für die illegale Arbeit in Deutschland, in: Zur Tradition der sozialistischen Literatur in Deutschland. Eine Auswahl von Dokumenten, Berlin/Weimar 1967, S. 710-713.

[22] Erich Weinert, Erich Mühsam. Der Kämpfer [1934], abgedruckt in: Erich Weinert. Ein Dichter unserer Zeit. Aufsätze aus drei Jahrzehnten, Berlin 1958, S. 107-110, Zitat S. 109.

[23] Weinerts Rezension löste den Ausschluss von „Gles“ aus dem Schriftstellerverband aus. Glesel wurde ein Jahr später verhaftet. Vgl. Reinhard Müller (Hg.), Die Säuberung. Moskau 1936: Stenogramm einer geschlossenen Parteiversammlung, Reinbek bei Hamburg 1991, S. 84 und S. 451.

[24] Vgl. Erich Weinert, Camaradas. Ein Buch über den spanischen Bürgerkrieg, Kiel 1951.

[25] Vgl. Helmut Müller-Enbergs, Das Manifest des NKFD vom 13. Juli 1943, in: Gerd R. Überschär (Hg.), Das Nationalkomitee „Freies Deutschland“ und der Bund Deutscher Offiziere, Frankfurt a.M. 1995, S. 93-103, hier S. 99.

[26] Franz Leschnitzer, in: Erich Weinert. Dichter und Tribun, S. 102-122, Zitat S. 106.

[27] Vgl. Bericht von Victor [Leo Roth], 29.1.1936, in: BStU, MfS, HA IX/11, SV 1/81 Bd. 187, Bl. 52-56, hier Bl. 56.

[28] Vgl. Bericht über die Aussprache mit Frau Zemmrich, Freiberg (Sachs.), 23.4.1955, in: SAPMO-BArch, RY 1/I 2/3/165, Bl. 25-29.

[29] Vgl. Achtung Spitzel und Provokateure, o.D., in: BStU, MfS, HA IX/11 SV 1/81, Bd. 299, Bl. 114.

[30] Vgl. Oberreichsanwalt beim VGH, Anklageschrift Kurt Granzow, 23.7.1943, in: BArch, R 3017, 2739, Bl. 3f.

[31] Vgl. Udo Grashoff, Gefahr von innen. Verrat im Kommunistischen Widerstand gegen den Nationalsozialismus, Göttingen 2021, Kap. 11. Daher sollte die offizielle Ablehnung von Feme durch die KPD nicht pauschal als „Lügenpropaganda“ abgetan werden, wie etwa hier: Armin Fuhrer, Ernst Thälmann. Soldat des Proletariats, München 2011, S. 235.

[32] Vgl. Gestapo IV A2, Vernehmung Hans Schwarz (Abschrift), Berlin, 27.4.1942, in: BArch, R 3018, NJ 460, Bd. 2, Bl. 38-46.

[33] Gestapa, Vernehmung Kurt Granzow, Berlin, 3.2.1943, in: BStU, MfS, HA IX/11, FV 98/66, Bd. 293, Bl. 361-366, Zitat S. 366.

[34] Vernehmung Anton Saefkow, Potsdam 13.7.1944, in: BArch Berlin, NJ 1500, Bd. 14, Bl. 58-61, Zitat Bl. 61.

[35] Vgl. Beate Niemann, Mein guter Vater. Leben mit seiner Vergangenheit, Berlin32008, S. 68-76.

[36] Vgl. Henry Leide, NS-Verbrecher und Staatssicherheit. Die geheime Vergangenheitspolitik der DDR, Göttingen 2011; Harry Waibel, Diener vieler Herren. Ehemalige NS-Funktionäre in der SBZ/DDR, Frankfurt a.M. 2011.

[37] Vgl. Bruno Sattler, Persönliche Niederschrift, Berlin, 27.5.1965 (BStU, MfS, HA IX/11 ZUV, Nr. 27, Bd. 10, Bl. 351f) sowie undatierter Plan für die Vernehmung Sattlers (ebd., Bl. 344f.).



Literaturhinweise

  • Simone Barck/Ulla Plener (Hg.), Verrat. Die Arbeiterbewegung zwischen Trauma und Trauer, Berlin 2009
  • Hans Coppi/Stefan Heinz (Hg.), Der vergessene Widerstand der Arbeiter. Gewerkschafter, Kommunisten, Sozialdemokraten, Trotzkisten, Anarchisten und Zwangsarbeiter, Berlin 2012
  • Jürgen Danyel (Hg.),
  • Kurt Finker, Zwischen Integration und Legitimation. Der antifaschistische Widerstandskampf in Geschichtsbild und Geschichtsschreibung der DDR, Leipzig 1999
  • Ronald Sassning, Die Verhaftung Ernst Thälmanns und der „Fall Kattner“. Hintergründe, Verlauf, Folgen. Teil 2 (= Pankower Vorträge, Heft 11/2), Berlin 1999

Quelle zum Essay
Kommunistischer Antifaschismus zwischen Halbwahrheit und Humanismus in der DDR
( 2021 )
Zitation
John Schehr und Genossen. Ein Gedicht von Erich Weinert (1934), in: Themenportal Europäische Geschichte, 2021, <www.europa.clio-online.de/quelle/id/q63-60073>.
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