Verlagsgutachten des Kinderbuchverlags Berlin (DDR) zu: Astrid Lindgren, Pippi Langstrumpf (Berlin, 1974); [SCAN]

Verlagsgutachten des Kinderbuchverlags Berlin (DDR) zu: Astrid Lindgren, Pippi Langstrumpf (Berlin, 1974); [SCAN][1]


[1] Quelle zum Essay: Ines Soldwisch, Pippi als „Kontra zu einer bürgerlichen Welt“ – Zur Publikationspraxis von internationaler Kinderliteratur am Beispiel von Lindgrens Pippi Langstrumpf-Trilogie, in: Themenportal Europäische Geschichte, 2023, URL: <https://www.europa.clio-online.de/essay/id/fdae-134430>; Das Themenportal Europäische Geschichte hat sich entschieden, das gesamte Gutachten öffentlich zugänglich zu machen, um exemplarisch die DDR-Veröffentlichungspraxis bei der Übernahme von „Westpublikationen“ nachvollziehbar zu machen.


Pippi als „Kontra zu einer bürgerlichen Welt“[1] – Zur Publikationspraxis von internationaler Kinderliteratur am Beispiel von Lindgrens Pippi Langstrumpf-Trilogie[2]

Von Ines Soldwisch

1975 konnten endlich auch Kinder in der DDR mit Astrid Lindgrens Pippi Langstrumpf auf Abenteuer gehen. In diesem Jahr erschienen die beiden ersten Bücher der weltbekannten Trilogie[3] als Sammelband[4] im ostdeutschen Staat.

Publikationsgeschichten von Büchern in der DDR sind besonders, denn Kunst und Literatur waren wichtige Bausteine bei der Durchsetzung eines staatlich bestimmten Gesellschaftsbildes. „Druckgenehmigungsverfahren“ hieß der Prozess, den jedes Buch, das in der DDR erschien, zu durchlaufen hatte. Außen- und Verlagsgutachten von Schriftsteller:innen und Lektor:innen empfahlen, ob und welche Passagen Autor:innen ändern mussten, damit ihr Buch erscheinen konnte. Die Publikationsform und die Auflagenhöhe hingen sowohl vom staatlich festgelegten Finanzrahmen als auch von der Erfüllung des politisch definierten Kulturauftrags ab und waren Bestandteil des Druckgenehmigungsverfahrens.[5] Manchmal musste ein Buch warten, bis die politische Wetterlage sich geändert hatte.[6] Ein problematisches Buch konnte durch ein kommentierendes Nachwort stigmatisiert oder durch eine kleine Auflage marginalisiert werden. War das Buch einmal genehmigt, konnte in der Nachauflage ein Nachwort wieder wegfallen.[7] Die generelle Knappheit an Materialien und Rohstoffen jeglicher Art in der DDR wirkte sich intensiv auf den Buchmarkt aus; es herrschte ein permanenter Mangel an Papier und Devisen. Somit müssen in der Analyse kulturpolitische und ökonomische Probleme parallel berücksichtig werden.[8]

Wer aber wurde gedruckt? An bevorzugter Stelle standen Mitte der 1970er-Jahre – nicht nur bei der Kinderbuchliteratur – namhafte DDR-Autor:innen, gefolgt von Autor:innen aus sozialistischen Ländern. Erst dann richtete sich der Blick auf andere internationale Literatur, eben auch auf Astrid Lindgren. Der Kinderbuchverlag Berlin war Ende der 1980er-Jahre der bei weitem größte Buchverlag des Landes für junge Leser:innen. Er produzierte jährlich 450 Titel und agierte so als zentrale Institution für die Verbreitung politisch-ideologischer Ideen der staatlichen Kinder- und Jugendpädagogik im Literaturbereich.[9] Nach wie vor dienten die Ideen des sozialistischen Realismus als ästhetische Basis. In der Vorstellung der staatstragenden Partei SED sollten Kinderbücher junge Menschen auf die sozialistische Wirklichkeit vorbereiten und zur Formierung ihres Gesellschaftsbildes beitragen. Es galt, Kindern und Jugendlichen den Wert der Arbeiterbewegung, der internationalen Solidarität, näherzubringen. Die generell enge Verzahnung von Politik, Ideologie und Kultur war oft widersprüchlich und konfliktreich, wie zahllose Buchgutachten belegen könnten.

Wie und warum „Pippi Langstrumpf“ Mitte der 1970er-Jahre dieses Bild durchbrechen konnte und durfte, ist eine äußerst spannende Frage, die sich mithilfe der Gutachten beleuchten lässt. Die handelnden Akteure und ihre Interpretation des Klassikers inszenierten ein eigenes Pippi-Narrativ, um Kindern in der DDR das Buch zugänglich zu machen und – viel wichtiger – vom Ministerium für Kultur überhaupt die Druckgenehmigung zu bekommen.

Lindgrens Bücher wurden in der DDR sparsam verlegt, in den Kinderbibliotheken waren sie deshalb ständig ausgeliehen. Während die Autorin in der Bundesrepublik einen beispiellosen Erfolg feierte, erschienen in der DDR nur drei andere Kinderbücher von Lindgren in geringen Auflagen:. „Mio, mein Mio“ 1960, „Lillebror und Karlsson vom Dach“ 1971 und „Ronja Räubertochter“ 1988. „Wir Kinder aus Bullerbü“, „Michel in der Suppenschüssel“ und „Meisterdetektiv Blomquist“ wurden in der DDR nie veröffentlicht.[10]

1975 wurde eine Lizenzausgabe „Pippi Langstrumpf“ mit ca. 180 Seiten in der Reihe „Paperback für junge Leser“ gedruckt und für 2,40 Mark verkauft. Es war damit preiswert im Vergleich zu anderen Büchern. Das Buch der schwedischen Autorin Cecil Bödker „Silas und die schwarze Stute“ (176 Seiten) gab es zur gleichen Zeit für ca. 5,40 Mark zu kaufen, und ähnlich verhielt es sich auch bei anderen Büchern, die in dieser Zeit in derselben Reihe mit ähnlicher Seitenanzahl erschienen.[11] Die zweite Auflage von „Pippi“ erschien 1988 in der Reihe „Alex Taschenbücher“ und kostete 2,80 Mark. Wie bei der ersten Auflage lag das empfohlene Lesealter bei zehn Jahren. Textlich wies die zweite Ausgabe keine großen Unterschiede zur ersten auf. Das Buch hatte der Reihe gemäß einen anderen Einband und Schwarz-weiß-Illustrationen von Cornelia Ellinger.

In der Bundesrepublik war die Übersetzung des ersten Pippi-Buches bereits 1949 im Oetinger-Verlag erschienen, die beiden anderen Bücher folgten in den nächsten zwei Jahren. Übersetzerin war Cäcilie Häning, die dem Hamburger Verleger Friedrich Oetinger persönlich bekannt war. Auf ihrer Übersetzung basierte die spätere ostdeutsche Lizenzausgabe des Kinderbuchverlages Berlin.[12] Die Abenteuer Pippi Langstrumpfs wurden rasch zu einem Kassenschlager und Erfolg für den Oetinger-Verlag und die schwedische Autorin. Pippi Langstrumpfs Reise in die Welt begann, z.B. nach Frankreich 1951, nach Italien 1958, nach Japan 1964, in die Niederlande 1972. In Osteuropa sah es ähnlich aus: 1958 erschienen die ersten Ausgaben auf slowakisch, 1968 auf russisch und estnisch, 1970 auf ukrainisch, 1972 auf georgisch, lettisch und ungarisch.[13]

In der DDR hatte es in den 1950er-Jahren erste Versuche gegeben, das Buch zu publizieren. Der Strindberg-Übersetzer Klaus Möllmann bot sich an, für den DDR-Buchmarkt eine eigene Übersetzung anzufertigen. Das Vorhaben wurde abgelehnt. „Pippi Langstrumpf“ schien „nicht mit den Prinzipien der DDR-Pädagogik“ vereinbar.[14] Dies war bis kurz vor der DDR-Veröffentlichung 1975 noch der Fall.

In ihrer Biografie über Astrid Lindgren zitiert Margareta Strömstedt einen Lehrerbrief aus West-Berlin an die Autorin vom Januar 1975: „Liebe Frau Lindgren, heute muss ich Ihnen schreiben, da ich zu meinem großen Bedauern erfahren habe, dass eine Lehrerin, eine meiner Kolleginnen aus der DDR, soeben ihren Dienst quittieren musste, weil sie ihrer Klasse aus Pippi Langstrumpf vorgelesen hatte.“[15] War die Verunsicherung über Pippi Langstumpf so groß? Eine Erklärung für die Suspendierung – so sie denn den Tatsachen entspricht; das Original des Briefes existiert nicht mehr – könnte sein, dass die Lehrerin die westliche Oetinger-Ausgabe benutzte (die textlich bearbeitete DDR-Lizenzausgabe gab es noch nicht). Eine andere Erklärung wäre möglich: Im DDR-Literaturunterricht war der Kanon der zu lesenden Literatur in den Unterrichtsplänen und Lehrerhilfen vorgegeben, Bücher Astrid Lindgrens fanden sich hier nicht.

„Die sozialistische Kinderliteratur hat aufgehoben und entstehen lassen, was bei Lindgren vage und undialektisch gefordert wird.“ Diesen Satz schrieb Gerhard Holtz-Baumert 1974 als Außengutachter. Lindgren protestiere mit ihrer Hauptfigur „gegen eine Gesellschaft, die vor allem aus Unverständnis und Lieblosigkeit besteht. […] Pippi sei somit das Kontra zu einer bürgerlichen z.T. sinnentleerten, schablonisierten und allem Menschlichen feindlich gesinnten Welt“.[16] Holtz-Baumert, SED-Parteifunktionär und verantwortliches Mitglied im Schriftstellerverband der DDR, war selbst Kinderbuchautor der sehr bekannten und beliebten Serie über den zehnjährigen Jungen Alfons Zitterbacke, die zum ersten Mal 1958 erschien und mehrmals als Spielfilm und Serie verfilmt wurde.[17]

Das Verlagsgutachten, mit dem der Kinderbuchverlag Berlin beim „Ministerrat der DDR, Ministerium für Kultur, HV Verlage und Buchhandel“ die Druckgenehmigung beantragte, wurde von der Lektoratsgruppenleiterin Katrin Pieper, der Lektorin Viktoria Schubert und einer Vertretung des Cheflektors Fred Rodrian[18] verfasst und unterzeichnet. Katrin Pieper war promovierte Literaturwissenschaftlerin, 1961 bis 1975 Lektorin im Kinderbuchverlag, 1975 bis 2003 Cheflektorin. Seit 1974 war sie Mitglied der SED und erhielt 1979 den Nationalpreis der DDR. Wie Holtz-Baumert war sie eine beliebte und viel gelesene Kinderbuchautorin der DDR. Seit 1992 arbeitete Pieper als freie Autorin und Lektorin.[19] Viktoria Schubert war als Lektorin an vielen Kinderbuchgutachten beteiligt. Fred Rodrian, dessen Signet mit „i.V.“ erfolgte, war ebenfalls Kinderbuchautor, von 1952 bis 1955 Lektor, von 1955 bis 1974 Cheflektor des Kinderbuchverlages. 1974 übernahm er die Verlagsleitung. Seit 1946 war Rodrian Mitglied der SPD, später Mitglied der SED. Auch er war Träger des Nationalpreises der DDR (1979).[20]

Holtz-Baumert arbeitete die „Ablehnung der bürgerlichen Welt“ als Hauptcharakteristikum der Pippi-Langstrumpf-Geschichte heraus. Die anderen Gutachter:innen unterstrichen ebenfalls den kapitalismuskritischen Charakter der Bücher Lindgrens.

Gegen diese Welt werde – so die Interpretation Holtz-Baumerts – protestiert, ohne dass Lindgren den Kindern einen Ausweg aus dieser Lieblosigkeit, der Einsamkeit, des Nichtverstandenwerdens von Erwachsenen weisen würde. Eben diese Aufgabe käme der sozialistischen Kinder- und Jugendliteratur (KJL) der DDR zu. In der eigenen Interpretation lag das am Genre der fantastischen Kinderliteratur selbst. Seit Mitte der 1970er-Jahre wurde Fantastik in der DDR von den Autor:innen vermehrt als „Spiel mit ästhetischen Formen oder als Mittel der Kritik an der Gesellschaft genutzt“.[21] So fand sich Pippi Langstrumpf eigentlich in guter Gesellschaft. Was das rothaarige Mädchen und seine Abenteuer in der bürgerlichen Welt allerdings von ihren ostdeutschen Protagonist:innen unterschied, war die Lösung von Problemen. Denn Merkmal der fantastischen Kinder- und Jugendliteratur war ihre Anlassbezogenheit. Roeder schreibt hier von „modellbildenden Handlungsmustern für die phantastische KJL [die] bis Ende der 1980er Jahre nachweisbar“[22] bleibt. Dieses Handlungsmuster bestand aus kindlichen Protagonisten, die eine soziale Außenseiterrolle einnehmen. Sie treffen auf ein fantastisches Wesen, das Unterstützung anbietet. Das Kind erkennt jedoch sein Problem selbst. Die Unterstützung durch das fantastische Wesen und damit das Fantastik-Wesen als Ganzes werden damit obsolet. Das Kind kehrt in die Gesellschaft und ins Kollektiv zurück und kann die Probleme dort bewältigen. Überspitzt könnte man formulieren: Man benutzte die Fantastik um zu zeigen, dass sie eigentlich überflüssig sei. Ein Musterbeispiel für dieses modellbildende Handlungsmuster ist Christa Koziks Kinderbuch „Moritz in der Litfaßsäule“ von 1980. Der Protagonist Moritz hat aufgrund seiner Langsamkeit Schwierigkeiten in der Schule und in der Familie und vertraut sich in seinem Versteck, der Litfaßsäule, der Katze Kicki an, die mit ihm sprechen kann und völlige Ungebundenheit symbolisiert. Dennoch erkennt Moritz selbst, dass er in die Familie und in die Schule zurückkehren möchte, den Ideen der Katze eben nicht folgend.

Es kann also nicht verwundern, dass Holtz-Baumert die Offenheit der Geschichte bei Lindgren kritisierte, boten doch die DDR-Autor:innen ihren Protagonist:innen einen Ausweg aus der Offenheit, indem sie Probleme der kindlichen Protagonist:innen nah an der Lebensrealität vieler Kinder konstruierten und sie einen Ausweg daraus finden ließen. Dieser Ausweg wiederum durfte nicht fantastisch sein, sondern musste in der realen Welt durch Unterstützung der Gesellschaft erfolgen.

„Pippi Langstrumpf“ zählt zur fantastischen Kinder- und Jugendliteratur und wird auch in diesen Bereich eingeordnet. Es ist jedoch nicht unproblematisch, diesen Begriff für Lindgrens Klassiker zu gebrauchen. In die modellhaften Vorgaben für das Schreiben fantastischer Kinder- und Jugendliteratur der DDR passte „Pippi Langstrumpf“ zu keiner Zeit. Vor und nach Lindgren wurden fantastische Geschichten von sowjetischen, osteuropäischen und DDR-Autor:innen publiziert. Dennoch dominierte weiterhin die „Kunstdoktrin des sozialistischen Realismus“.[23] Schaut man sich die Vorgaben für ein fantastisches Kinderbuch an, wird schnell deutlich, warum „Pippi Langstrumpf“ bis Mitte der 1970er-Jahre nicht und danach nur sparsam verlegt wurden.

1975 – nach zweijähriger Bearbeitung und Verhandlung – war die Zeit der Veröffentlichung gekommen. Holtz-Baumert hatte im März 1973 konstatiert: „Vorbeigehen – so oder so, nicht-drucken oder nicht-reagieren – kann man wohl nicht mehr.“[24] Damit zusammen hing vermutlich auch die Tatsache, dass Pippi-Langstrumpf-Filme erschienen waren, die von denen, die Westfernsehen empfingen, auch in der DDR gesehen werden konnten. Aber auch die Staatsführung gab sich ab den 1970er-Jahren in dem Glauben an die eigene gefestigte sozialistische Welt großzügig. Erich Honecker sagte am 17. Dezember 1971 auf der 4. Tagung des Zentralkomitees der SED: „Wenn man von der festen Position des Sozialismus ausgeht, kann es meines Erachtens auf dem Gebiet von Kunst und Literatur keine Tabus geben.”[25]

Gründe für den internationalen Erfolg der Buchtrilogie sah Holtz-Baumert in den Extremen, die die Person Pippi verkörpere. „ein Über-Tom Sawyer, ein Über-Häßliches Entlein; Mark Twain auf Schwedisch, Andersen in der Mitte des 20. Jahrhunderts“.[26] Der Gutachter verhehlte seine Abschätzung nicht. Lindgren „haspelt […] ihre vielen, wenn auch sich oft wiederholenden Einfälle ab“.[27] Sie benutze „uralte“ Sujets, verwende „ebensoalte Märchenmotive“ und mische diese mit Humor und „bewusstem Understatement“. Damit das Buch in den Kanon der DDR-Kinderliteratur aufgenommen werden könne, schlug Holtz-Baumert vor: „Betrachten wir Pippi so: als Versuch, Kinder vor dummer, pädagogisierender, hilflos-böser Welt […], vor Unverständnis und Lieblosigkeit zu bewahren – als Plädoyer für die Kinder […]. Sozialistische Position ist das natürlich nicht – aber eine durchaus zu würdigende humanistische.“[28]

Dennoch empfahl er Kürzungen im Text, „die wirklich entleerte und hohl-witzige Seereise z.B. und Wegnahmen greller und nicht durchdachter Nuancen, wie die vom König der Neger“.[29] Nach diesen Einlassungen stimmte Holtz-Baumert „einer (einmaligen und nicht gewaltig hohen) Herausgabe“[30] zu.

Das Verlagsgutachten vom 25. Juli 1974 ist politischer als das von Holtz-Baumert 13 Monate zuvor.[31] Es gehe um eine „Positionsbestimmung“. So sei die „Lindgrensche Erzählung […] Bestandteil der internationalen Literatur für Kinder, als solche ist sie in ihrer bürgerlich-humanistischen Wertigkeit akzeptabel, aber eben nur von hier aus“. Das bedeutete natürlich, dass die Erzählung nicht dem sozialistischen Ideal entsprach, wie auch Holtz-Baumert angemerkt hatte.

Änderungswünsche seien von der Autorin weitgehend abgelehnt worden. Nichtsdestotrotz war später im Buchdeckel zu lesen: “gekürzte Ausgabe mit Genehmigung der Autorin“. Grundsätzlich – so die Gutachter – habe man sich nur auf die Eliminierung des Begriffs „Neger“ einigen können. Lindgren habe sich nicht damit einverstanden erklärt, einzelne Kapitel des dritten Buches herauszunehmen, die sich auf das Leben der „Neger“ im Taka-Tuka-Land beziehen.[32]

Für die DDR-Seite war diese Geschichte nicht annehmbar. Die Begründung dafür lautete im Gutachten: „Unsere Positionen zu afrikanischen Nationen sind mit dieser bürgerlich-spießigen Interpretation nicht vertretbar“.[33] Hinter diesem kurzen, aber hochpolitischen Satz verbergen sich ideologische Grundlinien, die für die östliche Politik, Gesellschaft und damit eben auch Kultur unverrückbar schienen. Alles Bürgerliche galt im Arbeiter- und Bauernstaat als schon längst abgeschlossene Kultur. Diese Ideologie versuchte man in Konkurrenz zu der westlicher Systeme in die Welt zu tragen. Ein Beispiel dafür war die Afrika-Politik der DDR, die als Konkurrenzpolitik gegenüber der Bundesrepublik etabliert wurde. Das war seitens der Bundesrepublik nicht anders. Die Afrikapolitik schlug sich auch im kulturellen Bereich nieder, wie man am Beispiel des Nichtdruckens des dritten Buches „Pippi in Taka-Tuka-Land“ erkennen kann. Im Verlagsgutachten ist die Rede von „afrikanischen Nationen“, ein bewusst staatssouverän verwendeter Begriff, der die politische Akzeptanz der Staaten Afrikas durch die DDR betonen sollte.

Die Anerkennung der afrikanischen Staaten und die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu ihnen bedeuteten natürlich, dass die DDR selbst sich als souveräner Staat verstand. Souveränität wurde als „unabdingbare Eigenschaft eines Staates“ interpretiert, der im „Rahmen des Völkerrechts frei und unabhängig über die Gestaltung seiner Gesellschafts- und Staatsordnung und seines Verfassungs- und Rechtssystems sowie über seine gesamte Innen- und Außen-, Wirtschafts-, Sozial- und Kulturpolitik“[34] entscheide.

Doch nicht nur in der ostdeutschen Ausgabe waren textliche Veränderungen vorgenommen worden. Auch wenn sie im westdeutschen Oetinger-Verlag nicht dokumentiert wurden, hat der Text der drei Bücher gegenüber dem schwedischen Original im Verlauf der Jahrzehnte zahlreiche Änderungen durchlaufen. In der ersten Übersetzung von Häning sind Bearbeitungen auszumachen, „zahlreiche Abschwächungen und Purifikationen, die nicht zuletzt wohl auf den Wunsch des Verlegers zurückgingen“.[35] Hadassah Stichnothe bescheinigt diesen Modifikationen „zum Teil zensierenden Charakter. Im Klima der konservativen Nachkriegszeit wurden Passagen umgeschrieben, die aus Sicht der Verantwortlichen möglicherweise das Kindeswohl gefährden könnten“.[36]

Wenn Pippi Langstrumpf zum Beispiel im schwedischen Original mit Pistolen schießt und ihre Freunde auch dazu ermuntert, erkennt sie in der deutschen Übersetzung selbst die Gefährlichkeit dieses Unterfangens. Die Fliegenpilze, die Pippi im Original gefahrlos essen kann, werden in der Übersetzung zu Steinpilzen. Viele derartige Veränderungen – in den nächsten Jahrzehnten vorgenommen, aber auch wieder zurückgenommen – wurden von den zuständigen Lektor:innen im Oetinger-Verlag leider nicht dokumentiert, wie Recherchen in der Weitendorf-Stiftung als Lindgren-Archiv des Oetinger-Verlags ergeben haben.

Eine ähnliche Praxis ist auch für die französischen Übersetzungen auszumachen. 1951 war die erste Übersetzung von Marie Loewegren als „Mademoiselle Brindacier“ erschienen; im Laufe der folgenden Jahre wurde sie immer wieder inhaltlich und stilistisch überarbeitet und von Astrid Surmatz als „recht ausgangstextfern“[37] bezeichnet. In der französischen Erstübersetzung war die Pippi-Trilogie auf zwei Bände reduziert worden, allerdings wurde nicht, wie vom Kinderbuchverlag, der ganze dritte Band getilgt, sondern es wurden längere Kapitel gekürzt. Nicht gedruckt wurden Passagen, in denen sich Pippi despektierlich gegenüber Erwachsenen verhält, wie etwa die Polizistenjagd, das Kaffeetrinken mit den Dieben und der Kaffeenachmittag bei Settergrens.[38]

Wenn in anderen Übersetzungen, etwa für den amerikanischen oder britischen Buchmarkt, Veränderungen vorgenommen wurden, waren sie meist pädagogisch und stilistisch begründet, nie politisch. Eine Ausnahme bildet die Diskussion über das Wort „Neger“, die eine Diskussion der 2000er-Jahre geworden ist. Das Verlagsgutachten des DDR-Kinderbuchverlags ist das erste, das die Reise Pippis ins Taka-Tuka-Land aus politischen Gründen ablehnte.

Fazit

Lektorieren von Autorenmanuskripten war und ist im Publikations- und Verlagsgeschäft Usus. Lektor:innen bitten um Änderungen und treten in einen Dialog mit den Autor:innen, bis es zum Vertragsabschluss kommt und das Buch gedruckt wird. Wie gezeigt worden ist, war dieser Prozess in der DDR ein – politisch determiniertes – komplexes Geflecht innerhalb des Druckgenehmigungsverfahrens. Die Akteure dieses Verfahrens waren einerseits den Autor:innen verpflichtet, aber auch dem Staat in Gestalt des Ministeriums für Kultur, bei dem sie den Druck beantragen mussten. Dies verlangte von ihnen politische Treue, aber auch Fingerspitzengefühl und Pragmatik, wollten sie den Druck eines Buches durchsetzen. – Die historische Erforschung von Kinder- und Jugendliteratur in der DDR sollte sich nicht an einer rein politischen Interpretation orientieren. Die Literaturwissenschaftlerin Karin Richter formulierte 2022 – und ich stimme ihr zu –, dass es problematisch sei, literarische Erscheinungen in der DDR direkt und vordergründig aus politischen Bewegungen heraus zu erklären.[39] Die Literatur der DDR erlebte eine andere Moderne als die westlichen Länder. Insofern sollte man mehr versuchen, Literatur der DDR, die Autor:innen, die Akteur:innen im Literaturbetrieb auch von innen heraus zu erklären. Es waren an erster Stelle politische Gesichtspunkte, aber auch kulturelle, didaktische, gesellschaftliche und ästhetische Parameter, die für Publikationen entscheidend waren. Der historischen Forschung bleibt noch eine große Aufgabe, diese verschiedenen Kontexte miteinander in Verbindung zu bringen. DDR-Literatur sollte nicht nur als „ideologisch zu sezierender Gegenstand“[40] wahrgenommen werden, sondern als Gegenstand von Ideologie, Kunst, Kultur und Gesellschaft.



[1] Dieser Essay ist Teil des internationalen Projekts „Pippi Longstocking in the GDR“, das von der Foundation for Baltic and East European Studies gefördert wird. Kooperationspartnerin ist Lisa Källström von der Universität Lund.

[2] Essay zu der Quelle: Verlagsgutachten des Kinderbuchverlags Berlin (DDR) zu: Astrid Lindgren, Pippi Langstrumpf (Berlin, 1974); [SCAN], in: Themenportal Europäische Geschichte, 2023, URL: <https://www.europa.clio-online.de/quelle/id/q63-79107>; Das Themenportal Europäische Geschichte hat sich entschieden, das gesamte Gutachten öffentlich zugänglich zu machen, um exemplarisch die DDR-Veröffentlichungspraxis bei der Übernahme von „Westpublikationen“ nachvollziehbar zu machen.

[3] „Pippi Langstrumpf“, „Pippi Langstrumpf geht an Bord“, „Pippi in Taka-Tuka-Land“.

[4] „Pippi Langstrumpf“ und „Pippi Langstrumpf geht an Bord“ als „Pippi Langstrumpf“.

[5] Mildred Wagner, „Wir haben nicht Konkurrenz gelernt“. Der Kinderbuchverlag Berlin zwischen „nicht mehr und noch nicht“. Ein Essay über den Transformationsprozess zwischen 1989 und 1992, in: Flachware 2018/1, S. 29-43, hier S. 32.

[6] Frauke Meyer-Gosau, Leseland? Legoland? Lummerland? Kummerland! Essay, in: APuZ 11/2009, S. 9-14, hier S. 13.

[7] Siegfried Lokatis, Die Hauptverwaltung des Leselandes, in: APuZ 11/2002, S. 23-31, hier S. 26.

[8] Ebd., S. 23f.

[9] M. Wagner, Wir haben nicht Konkurrenz gelernt, S. 31.

[10] Caroline Roeder, Archivalisches zur Astrid-Lindgren-Rezeption in der DDR, in: Svenja Blume / Bettina Kümmerling-Meibauer / Angelika Nix (Hrsg.): Astrid Lindgren – Werk und Wirkung. Internationale und kulturelle Aspekte, Frankfurt am Main u.a. 2009, S. 105-122, hier S. 105-108.

[11] Vgl. die letzten Seiten des Pippi-Buches von 1975, auf denen Anzeigen für andere Bücher abgedruckt sind.

[12] Hadassah Stichnothe, Geliebt, geändert, kritisiert. Die Übersetzung von Pippi Langstrumpf, in: URL: <https://www.tralalit.de/2022/10/19/geliebt-geaendert-kritisiert-die-uebersetzung-von-pippi-langstrumpf/> (abgerufen am 9.3.2023).

[13] Astrid Lindgren i original och översättning > 1994 (utskrift 12.12.94), in: Stiftung Weitendorf Archiv Hamburg, o.Bl.

[14] Astrid Surmatz, Pippi Långstrump als Paradigma. Die deutsche Rezeption Astrid Lindgrens und ihr internationaler Kontext, Tübingen/Basel 2005, S. 127f.

[15] Leider ist der Brief nicht durch Quellenangaben belegt; zit. nach: Margareta Strömstedt, Astrid Lindgren, ein Lebensbild, Hamburg 2001, S. 47.

[16] Verlagsgutachten, in: SAPMO Bundesarchiv, DR 1 (Ministerium für Kultur) 2275a, Bl. 266 und 267.

[17] „Alfons Zitterbacke, Geschichten eines Pechvogels“, Kinderbuchverlag, Berlin 1958, „Alfons Zitterbacke hat wieder Ärger“, Kinderbuchverlag, Berlin 1962, „Alfons Zitterbackes neuer Ärger“, LeiV Buchhandels- und Verlagsanstalt, Berlin 1995.

[18] Die Unterschrift der Vertretung von Fred Rodrian ist auf dem Original nicht lesbar.

[19] Helmut Müller-Enbergs u.a., Wer war wer in der DDR? Ein Lexikon ostdeutscher Biographien, Band 2 M-Z, 5. Aufl. Berlin 2012, S. 1006.

[20] Ebd., S. 1082.

[21] Rüdiger Steinlein / Heidi Strobel / Thomas Kramer, Handbuch zur Kinder- und Jugendliteratur, SBZ/DDR von 1945-1990, Stuttgart 2006, S. 687.

[22] Ebd., S. 695.

[23] C. Roeder, Archivalisches zur Astrid-Lindgren-Rezeption in der DDR, S. 108.

[24] Gutachten von Gerhard Holtz-Baumert vom 3.3.1973, in: SAPMO Bundesarchiv, DR 1 (Ministerium für Kultur) 2275a, Bl. 269.

[25] Zit. nach Manfred Jäger, Kultur und Politik in der DDR, 1945-1990, Köln 1995. S. 140.

[26] Gutachten von G. Holtz-Baumert, Bl. 269.

[27] Ebd.

[28] Ebd.

[29] Ebd.

[30] Ebd.

[31] Verlagsgutachten vom 25.7.1974, in: SAPMO Bundesarchiv, DR 1 (Ministerium für Kultur) 2275a, Bl. 263-268.

[32] Ebd.

[33] Ebd.

[34] Wörterbuch der Außenpolitik und des Völkerrechts, Berlin (Ost) 1980, S. 530.

[35] H. Stichnothe, Geliebt, geändert, kritisiert.

[36] Ebd.

[37] A. Surmatz, Pippi Långstrump als Paradigma, S. 228.

[38] Astrid Surmatz, International politics in Astrid Lindgren’s works, in: Barnboken/2007, S. 24-37. Zur weiteren französischen Übersetzungsgeschichte siehe: Svenja Blume, Pippi Långstrumps Verwandlung zur "dame-bien-élevée", Die Anpassung eines Kinderbuches an ein fremdes kulturelles System. Eine Analyse der französischen Übersetzung von Astrid Lindgrens Pippi Långstrump (1945-48), Hamburg 2001.

[39] Karin Richter, Die Diskussion um das Mädchenbuch und die Gestaltung von Mädchen- und Jugendfiguren in der Kinder- und Jugendliteratur der DDR, in: Gender in der deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteratur: Vom Mittelalter bis zur Gegenwart, hrsg. von Weertje Willms, Berlin/Boston 2022, S. 355-372, hier S. 355.

[40] Ebd., S. 367.



Literaturhinweise:

  • Lisa Källström, Pippi mellan världar: En bildretorisk studie, Lund 2020.
  • Caroline Roeder, Archivalisches zur Astrid-Lindgren-Rezeption in der DDR, in: Svenja Blume / Bettina Kümmerling-Meibauer / Angelika Nix (Hrsg.), Astrid Lindgren – Werk und Wirkung. Internationale und kulturelle Aspekte, Frankfurt am Main u.a. 2009, S. 105-122.
  • Rüdiger Steinlein / Heidi Strobel / Thomas Kramer, Handbuch zur Kinder- und Jugendliteratur, SBZ/DDR von 1945-1990, Stuttgart 2007.
  • Astrid Surmatz, Pippi Långstrump als Paradigma, Die deutsche Rezeption Astrid Lindgrens und ihr internationaler Kontext, Tübingen/Basel 2005.