„Wir Antifaschisten“ – Vergangenheitspolitische Darstellungen der deutschen (Un-)Schuld am NS-Regime und die Verantwortung des „Auslandes“[1]
Von Anna Corsten
Deutsche Politiker:innen und Intellektuelle diskutierten die Frage einer Kollektivschuld der eigenen Bevölkerung für das zwölfjährige Bestehen des nationalsozialistischen Regimes und für den Massenmord an den europäischen Jüd:innen, Sinti, Roma, Behinderten und politischen Gegner:innen in den Jahren nach Kriegsende intensiv. Im Bayerischen Landtag kam das Thema etwa im Kontext der Hungerkatastrophe nach 1945 auf. Die verschiedenen Parteien waren sich darin einig, dass von einer Kollektivschuld der Deutschen keine Rede sein könne. In einer Plenarsitzung am 24. April 1947 banden bayerische Volkvertreter vergangenheitspolitische Interpretationen in die konkrete Diskussion über die Verbesserung der Versorgungslage der Bevölkerung ein. Anhand dieser Parlamentsdebatte beschäftigt sich der Artikel mit den folgenden Fragen: Welche Rolle spielte die Deutung der NS-Vergangenheit innerhalb des politischen Diskurses der ersten Nachkriegsjahre? Wie stilisierten die Politiker:innen dabei die Verantwortung des Auslandes für den Aufstieg Hitlers? Wir wirkten sich ihre Zuschreibungen auf das Verhältnis zu den Alliierten nach Kriegsende aus?
Die Diskussion über die Bewältigung der Hungerkatastrophe in Bayern nach 1945 gibt Einblicke in den frühen Umgang mit der NS-Vergangenheit. Bayern war 1945 ein zerstörtes Land: Die Infrastruktur war vernichtet, ca. zwei Millionen geflüchtete Menschen mussten zusätzlich versorgt werden, das Land lag in Trümmern, und es herrschte Wohnungsnot. Dass Bayern bis Ende 1944 durch Lebensmittellieferungen aus den besetzten Gebieten relativ gut versorgt war, änderte sich mit der Kriegsniederlage. Besonders in den Städten konnte die Versorgung der Bevölkerung kaum gewährleistet werden. Das lag auch an der zerstörten Infrastruktur, die den Transport von Lebensmitteln erschwerte.[2] Die Versorgungsituation und der Hunger wurden nach 1945 zum zentralen Problem in Deutschland. Angesichts der schlechten Versorgungslage kam es zunächst zu Plünderungen der Lebensmitteldepots der Wehrmacht. Kartoffel- und Getreidelieferungen, die während des Krieges zu 30 Prozent aus den besetzten Ostgebieten gedeckt worden waren, fehlten nun. Insgesamt hatte Deutschland mit den territorialen Veränderungen der Potsdamer Konferenz 27 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzungsfläche verloren. Zudem waren viele landwirtschaftliche Betriebe zerstört, der Viehbestand war dezimiert, das Fachpersonal fehlte.[3] Der Bedarf an Landarbeiter:innen war zuvor durch Zwangsarbeit gedeckt worden; jetzt mangelte es an ihnen. Die sinkenden Ernteerträge konnten mit der eigenen Produktion nicht mehr kompensiert werden.[4] Durch die Auflösung des Reichsernährungsministeriums verschwand die zentrale Steuerungsapparatur der Landwirtschaft und Lebensmittelversorgung. Der Reichsnährstand blieb bis zum 21.1.1948 bestehen, damit die Versorgungslage sich nicht weiter verschlechterte.
Aufgrund von geringeren Kriegszerstörungen gab es in der amerikanischen Zone bessere Versorgungsmöglichkeiten als in der britischen, jedoch war die Situation durch die geringeren Nutzungsflächen ebenfalls angespannt. In Bayern gründete sich bereits im Oktober 1945 das Landwirtschaftsministerium, das zu der zonalen Ernährungsverwaltung beitragen sollte. Die Behörde besaß zu Beginn nur wenig politischen Spielraum und folgte den Weisungen der amerikanischen Militärregierung. Nach der Kältewelle in Europa im Winter 1946/47 und einer daraus resultierenden Knappheit an Lebensmitteln waren Kürzungen der Lebensmittelrationen von 1500 Kalorien auf 1180 Kalorien nötig. Eine bizonale Ernährungs- und Landwirtschaftsverwaltung sollte die Hungerkrise durch veränderte Anbaumethoden lösen.[5] Rohstoffe, Hilfsmittel, Saatgut, Düngungsmittel und Getreide wurden importiert, um eine Produktionssteigerung herbeizuführen und die Lebensmittelversorgung zu sichern. Aufgrund unterschiedlicher Produktionsbedingungen kam es in den einzelnen Ländern im besetzten Deutschland zu verschiedenen Ablieferungsauflagen. Innerhalb des Freistaats Bayern machte sich unter den Bürger:innen und in der Politik Unmut über die aus der eigenen Perspektive hohen Abgaben breit. Als wichtigstes Agrarland der Bizone hatte Bayern Abgaben an die übrigen Länder zu leisten.
Nachdem es aufgrund einer Dürreperiode im Sommer 1947 zu weiteren Ernteengpässen kam, rief der bayerische Landwirtschaftsminister Josef Baumgartner (CSU) die Bäuer:innen auf, die Abgabe von Kartoffeln zur Verteilung an die übrigen Sektoren der Bizone zu boykottieren. Dieser Boykott im Herbst des Jahres wurde als „bayerischer Kartoffelkrieg“ bekannt.[6] Baumgartner trat im Dezember 1947 von seinem Amt zurück, nachdem der Bizonenrat der britischen und amerikanischen Zone die Ernteabgaben selbst durch alliierte Soldaten veranlassen ließ. Der 1904 geborene Politiker hatte sich bereits 1945 im Bayerischen Bauernverband engagiert. 1948 trat er aus der CSU in die Bayernpartei (BP) über, deren Landesvorsitzender er bis 1959 blieb.
Während der Landtagssitzung im April 1947 hatte sich Baumgartner in einer emotional aufgeladenen Rede an seine Kolleg:innen gewandt, um auf die Probleme in der Agrarpolitik aufmerksam zu machen. Darin kritisierte er die „unglückselige Zerreißung Deutschlands in die unnatürlichen vier Zonen“.[7] Baumgartner zog Vergleiche zur Vergangenheit des Landes, wobei er nicht nur auf die NS-Zeit zurückgriff. In der stark von den Alliierten beeinflussten Agrarpolitik der Nachkriegsjahre sah er Parallelen zum Dreißigjährigen Krieg. Wie damals „bewegen wir uns ziel- und planlos hin und her, leben von der Hand in den Mund und machen Schwankungen in der Ernährungspolitik mit, die auf die Dauer unmöglich so weitergehen können, weil Millionen Menschen dabei verhungern“.[8] Mit diesem Vergleich zu einer Zeit und Verhältnissen, die über dreihundert Jahre zurücklagen, setzte der Politiker auf eine Übertreibung der Notsituation der Menschen in Bayern, die bei seinen Kolleg:innen auf Zuspruch stieß. Durch Baumgartners Rede zogen sich Beifall nicht nur der eigenen Partei und zustimmende Zwischenrufe wie „Sehr gut!“ oder „Sehr richtig“, wie die Transkription des Plenarprotokolls zeigt.
Aber nicht nur die durch die alliierte Politik verschärfte Gesamtsituation kritisierte Baumgartner. Auch im Verhalten der Bevölkerung störte er sich an Differenzen zwischen „Hundertausende[n] von Menschen, [d]ie faulenzen, schieben, hamstern und schwarzhandeln, während der Bauer und die Bäuerin nicht wissen, wo sie ihre Arbeitskräfte hernehmen sollen“.[9] Besonders gegen geflüchtete Menschen richteten sich Vorurteile und Agitation aus der Bevölkerung und von Politiker:innen. Baumgartner sah durchaus weiteren Handlungsspielraum im Engagement der bayerischen Bürger:innen und polarisierte zwischen einzelnen Gruppen der Bevölkerung. Während er die Bäuer:innen als hart arbeitend darstellte, beschrieb er den großen „Rest“ als faul und am eigenen Profit orientiert. Damit begünstigte er eine Spaltung innerhalb der Bevölkerung.
Den größten Teil seiner Rede verwandte Baumgartner jedoch auf die Auseinandersetzung mit der Verantwortung der Deutschen und Bayern für den Nationalsozialismus und dessen Terrorherrschaft. Indem er die Unschuld der Durchschnittbürger:innen betonte, wollte er auf das Unrecht aufmerksam machen, das der Bevölkerung durch die alliierte Politik zugefügt wurde.
„Meine Damen und Herren! Es gibt keine Kollektivschuld und es darf auch keinen Kollektivhunger geben! (Beifall bei der CSU.) […] Wir alle in diesem hohen Hause lehnen eine Kollektivschuld des deutschen Volkes ab, (Beifall) und lehnen daher auch ab, daß Huntertausende von Menschen am Kollektivhunger zu Grunde gehen.“[10]
Mit der deutschen Unschuld begründete Baumgartner das Anrecht auf ein sorgen- und straffreies Leben der Bevölkerung. Denn „nicht die hungernden und blassen deutschen Kinder haben diese Lage verschuldet, nicht die deutschen Frauen sind Schuld an der jetzigen Not und nicht wir Antifaschisten haben dieses furchtbare Elend über Deutschland gebracht“.[11]
Dass der Politiker Frauen und Kindern indirekt absprach, eine politische Haltung einzunehmen und ebenfalls als „Antifaschisten“ gelten zu können, mag im Jahre 1947 nicht weiter verwundern. Sicherlich begann Baumgartner seine Aufreihung auch deswegen mit Kindern und Frauen, um die als besonders schwach und schützenswert angesehenen Teile der Bevölkerung herauszuheben, für diese Mitleid zu erzeugen und seine Argumentation darüber zu stärken. Bemerkenswert ist jedoch besonders, dass Baumgartner außer unpolitischen und damit von jeglicher Schuld befreiten Kindern und Frauen nur Antifaschisten in der deutschen Bevölkerung auszumachen vermochte, keine Mitläufer, Verantwortliche oder sogar Verbrecher. Mit der Wortwahl „wir Antifaschisten“ deutete er darüber hinaus sogar an, dass ein Großteil der Deutschen bewusst in politischer Opposition zum Nationalsozialismus gestanden habe. Der Begriff impliziert einen gewissen Grad an Aktivismus. Dass der Widerstand gegen das NS-Regime in Deutschland, wie auch in Österreich, unter Intellektuellen, Politikschaffenden und in der Öffentlichkeit lange überbetont wurde, haben Historiker:innen gezeigt.[12]
Im Kontext seiner Rede diente der Verweis auf die unschuldigen und antifaschistischen Deutschen einmal mehr dazu, die Ungerechtigkeit der Situation, in der sich die Bevölkerung befand, zu betonen. Damit verband Baumgartner einen Aufruf „an die ganze Welt […] das Gebot der Menschlichkeit“[13] einzuhalten. Gleichzeitig erklärte er, „daß Hitler seine Tyrannei, seine Aufrüstung und seinen Krieg niemals fertig gebracht hätte, wenn ihm nicht […] auch das Ausland dazu verholfen hätte“.[14] Diese Aussage sorgte im Landtag für „[a]nhaltende[n] stürmische[n] Beifall“.[15] Baumgartner versuchte also, die Alliierten, zumindest Großbritannien und die USA, in die Verantwortung für die hungerleidende Bevölkerung zu ziehen. Während die Bevölkerung für den Nationalsozialismus nicht zur Rechenschaft gezogen werden konnte, galt das für die ausländischen Staaten sehr wohl. Interessant ist Baumgartners Gegenüberstellung von Kollektiv(un)schuld und Kollektivhunger der Deutschen – nicht nur zu Unrecht der Schuld bezichtigt, waren diese nun auch der Nahrungsmittelknappheit ausgesetzt. Die Militärregierung ließe die deutsche Bevölkerung im Stich, war eine zentrale Vorstellung, die nicht nur Baumgartner vertrat.
Im „Ausland“ sah der CSU-Politiker zudem insbesondere Großbritannien, die USA und Russland als verantwortlich für den Terror des NS-Regimes an. Denn ohne deren finanzielle Unterstützung hätte die Regierung Hitlers 1934 aufgrund von Devisenmangel einen Staatsbankrott erlitten. „Sehr richtig“, antwortete das Plenum des Landtages auf diese Feststellung. Ob die „Hilfe“ der genannten Länder eine bewusste Finanzspritze für das Regime bedeutete, ließ Baumgartner offen. Seine Formulierung „verhelfen“ verweist jedoch auf eine vom „Ausland“ zumindest bewusst in Kauf genommene Unterstützung Hitlers. Mit den von ihm gewählten Beispielen zeigte er zudem, wie sehr das Deutsche Reich unter Hitler von der Finanzpolitik der Alliierten profitiert habe. Durch die Abwertung des Dollars habe sich Hitlers Auslandsschuld um 40 Prozent verringert. Zudem habe England Ende 1934 ein Abkommen über Zahlungen mit Deutschland geschlossen, die das NS-Regime in die militärische Aufrüstung investieren konnte. Die russischen Investitionen in die deutsche Industrie hätten Hitler darüber hinaus aus der finanziellen Not geholfen. „So haben die drei ausländischen Mächte Hitler geholfen, sich mit seinen Spielgesellen und Verbrechern über die Finanzkrise hinwegzuhelfen.“[16]
Was verbirgt sich hinter der von Baumgartner beschriebenen Finanzpolitik der Alliierten, die er als mitverantwortlich für den Machterhalt des NS-Regime darstellte? Ähnliche Abkommen wie mit Großbritannien hatte Deutschland als Reaktion auf die Weltwirtschaftskrise bis 1935 mit über zwanzig weiteren Staaten geschlossen. Diese Abkommen hatten zum Ziel, den Protektionismus zurückzufahren, Handelsschulden zu verringern und so zwischenstaatlichen Außenhandel zu fördern. Zwar profitierte Deutschland von Handelsabkommen mit anderen Staaten. Zeitgenossen sahen allerdings das deutsch-britische Abkommen durchaus als Gefahr, da es, wie auch Baumgartner betonte, den Deutschen eine stärkere Wiederaufrüstung ermöglichte.[17] Die britische Appeasement-Politik und die Unentschlossenheit anderer Nachbarländer im Umgang mit dem nationalsozialistischen Deutschland ist in der Forschung breit diskutiert und immer wieder als problematisch dargestellt worden, da damit Hitlers Regime toleriert wurde.[18] Interessant an Baumgartners Verweis auf die Verantwortung des Auslandes ist jedoch vielmehr der rhetorische Effekt, den er damit erzielte. Denn er externalisierte auf diese Weise die Schuldfrage. Für die deutsche Bevölkerung erkannte er keine Handlungsspielräume, sah diese also als politisch passiv an. Dass er zuvor einen Großteil der Deutschen als Antifaschisten bezeichnet hatte, was einen gewissen Aktivismus impliziert, steht dieser Einschätzung entgegen. Vielmehr sah er die Alliierten als mitschuldig für den Machterhalt Hitlers an.
Aufgrund der Verantwortung des Auslandes lehnte der Politiker nicht nur eine Kollektivschuld, sondern auch „eine alleinige Schuld Deutschlands an unserer jetzigen Wirtschaftslage“ ab. Baumgartner bat die Besatzungsmächte abschließend, „uns die Möglichkeit zu geben, durch unseren eigenen Fleiß und durch unsere Arbeit wieder unser Brot zu verdienen“. Gleichzeitig schränkte er die Verantwortung für die Lage wiederum ein, indem er festhielt: „Wir wollen helfen, gutzumachen, was andere verschuldet haben“.[19]
Die Debatte über eine deutsche Kollektivschuld setzte unmittelbar nach Kriegsende ein. Als einer der ersten Intellektuellen hatte sich Karl Jaspers in einer Vorlesung im Wintersemester 1945/46 mit der Frage nach der Schuld der Deutschen an den nationalsozialistischen Verbrechen auseinandergesetzt. 1946 erschienen seine Überlegungen in seinem Buch „Die Schuldfrage“.[20] Jaspers wandte sich darin gegen eine pauschale Annahme einer Schuld aller Deutschen. Dabei unterschied er zwischen vier Schuldbegriffen, mit denen ein unterschiedlicher Grad von Verantwortung für den Nationalsozialismus einherging: der kriminellen, politischen, moralischen und metaphysischen Schuld. Kriminelle Schuld sprach er denjenigen zu, die aus juristischer Sicht Verbrechen begangen hatten. Politisch trugen Staatsbürger:innen und Politiker:innen Verantwortung, die die Errichtung der NS-Herrschaft nicht verhindert hatten. Moralische Schuld könnten nur die Individuen selbst mit Hilfe ihres Gewissens reflektieren. Die metaphysische Schuld sah er in dem Verlust der Solidarität mit Mitmenschen, weswegen alle für die Verbrechen in ihrer Gegenwart Verantwortung trugen.[21] Die verschiedenen Schuldformen mussten von unterschiedlichen Instanzen wie Gerichten, Gewissen oder Gott beurteilt werden. Jedoch führten sie zu der Notwendigkeit einer kollektiven Haftung aller Deutschen, die auch die Pflicht zur Wiedergutmachung impliziere.[22] In den ersten Jahren nach Kriegsende stieß Jaspersʼ Buch auf geringe öffentliche Resonanz. Vielmehr erhielt er Zuschriften, die darauf hindeuten, dass viele Deutsche sich zu Unrecht von den Alliierten „angeklagt“ fühlten.[23]
In der Rede Baumgartners wird deutlich, dass dieser nicht zwischen verschiedenen Implikationen von Schuld differenzierte. Die deutsche Bevölkerung, mit Ausnahme der wenigen Hauptakteure in der NS-Führung, bezeichnete er allgemein als Antifaschisten, als bewusste Widerständler gegen das Regime und damit als dessen Opfer. Damit stand der damalige CSU-Politiker nicht allein. Auch der SPD-Politiker Lorenz Hagen, der nach 1933 mehrfach in Konzentrationslagern inhaftiert war, sprach sich in derselben Plenarsitzung für die Ablehnung der Kollektivschuld aus. Ähnlich wie Baumgartner und möglicherweise aufgrund seiner eigenen Erfahrungen während des Nationalsozialismus ging er von einem breiten politischen Widerstand in Deutschland aus:
„Wenn wir eine Kollektivschuld des deutschen Volkes anerkennen würden, dann würde das zur gleichen Zeit eine Diffamierung all der Hunderttausende [sic] und Millionen bedeuteten, die in den Konzentrationslagern und in den Zuchthäusern während der zwölfjährigen Periode des Nationalsozialismus gesessen haben.“[24]
Auch Hagen sah die Verantwortung für den Nationalsozialismus nicht bei den Deutschen, sondern bei den „Siegermächte[n] des Versailler Vertrages“. Das deutsche Volk entschuldigte er pauschal, da „dessen demokratische Organisationen alle zerschlagen waren“. Daher hätte es sich „1933 nicht gegen Hitler zur Wehr stellen“ können. Ähnlich polemisch wie Baumgartner fragte er: „Wer hat es denn ermöglicht, daß er [Hitler] die Wehrmacht wiedereinführen konnte? Wer hat es denn nicht verhindert, daß die Remilitarisierung des Rheinlandes wieder vor sich gegangen ist?“ Die Verantwortung lag auch für den SPD-Politiker bei Großbritannien, den USA und Frankreich.
Dass es im Deutschland der 1920er Jahre zahlreiche Forderungen nach einer Lösung von den „Fesseln“ des Versailler Vertrages gegeben hatte, auf die die Siegermächte schrittweise eingegangen waren, berücksichtigte Hagen nicht.[25] Baumgartner und Hagen schrieben den Alliierten die Verantwortung für den Nationalsozialismus zu, um die eigene Bevölkerung von Kollektivschuldvorwürfen freizusprechen. Die Annahme der Kollektivschuld, so hat Norbert Frei gezeigt, war aber eine Konstruktion der Deutschen selbst und stammte nicht von den Alliierten. Vielmehr hätten diejenigen, die den angeblichen Vorwurf aufgriffen, ihn gleichzeitig widerlegen wollen.[26] Die Frage nach einer Kollektivschuld wehrten deutsche Politiker:innen, Intellektuelle und eine breite Öffentlichkeit im ersten Jahrzehnt nach Kriegsende ab. Innerhalb dieses Abwehrdiskurses debattierten sie jedoch nicht über konkrete Taten, sondern taten eine Kollektivschuld generell ab. Wenige Intellektuelle wie Walter Dirks forderten eine „Ent-Mythisierung“ der Debatte.[27]
Anhand der bayerischen Landtagsdebatte zeigt sich, dass bayerische Politiker:innen die Deutung der NS-Vergangenheit für politische Forderungen instrumentalisierten. Zuschreibungen der Kollektivunschuld der Deutschen und der Verantwortung der Alliierten nutzten sie in einer politisch angespannten Lage, in der die Versorgung nicht gesichert war. Indem sie die genannten vergangenheitspolitischen Deutungen in die Debatte über die Lösung der Hungerkatastrophe einbrachten, stellten sie die deutsche Bevölkerung als unschuldige Opfer dieser Lage dar, die Alliierten als die Verantwortlichen. Im Streben nach Souveränität von der Militärregierung erschienen die Vorwürfe gegenüber den Alliierten als hilfreich, da sie die öffentliche Meinung zu den eigenen Gunsten und gegen die Militärregierung beeinflussen konnten. Das angespannte Verhältnis zwischen bayerischen Politiker:innen und der US-Besatzungsmacht sowie den europäischen Alliierten wurde in der Krise offensichtlich.
Der politische Umgang mit der NS-Vergangenheit unmittelbar nach Kriegsende verweist auf den langwierigen Prozess bis zur Integration Deutschlands in ein europäisches und transatlantisches Mächtebündnis. Dabei nutzten deutsche Politiker:innen geschichtswissenschaftliche Interpretationen des Nationalsozialismus, um ihren politischen Zielen näherzukommen. Eine Annäherung an die europäischen Nachbarn oder gar eine Integration in eine europäische Gemeinschaft wurde dadurch jedoch erschwert.
[1] Quelle zu dem Essay: Redebeitrag von Joseph Baumgartner zur deutschen Kollektivschuld und der Verantwortung des „Auslands“ am NS-Regime vor dem Bayrischen Landtag (1947), in Themenportal Europäische Geschichte, 2022, URL: <www.europa.clio-online.de/quelle/id/q63-75536>.
[2] Christoph Weisz, Organisation und Ideologie der Landwirtschaft, 1945-1949, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, Jg. 21 (1973), S. 194-199.
[3] Günter Trittel, Hunger und Politik. Die Ernährungskrise in der Bizone (1945-1949), Frankfurt am Main 1990, S. 19-22.
[4] Alexander Häusser / Gordian Maugg, Hungerwinter. Deutschlands humanitäre Katastrophe 1946/47, Berlin 2009, S. 38-42.
[5] Ebd., S. 77-82.
[6] Wolfgang Benz, Alliierte Deutschlandpolitik, in: Historisches Lexikon Bayerns, publiziert am 14.11.2018, URL: https://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Alliierte_Deutschlandpolitik# [letzter Zugriff: 30.11.2021].
[7] Redebeitrag Joseph Baumgartner (wie Anm. 1), S. 327.
[8] Ebd.
[9] Ebd.
[10] Ebd.
[11] Ebd.
[12] Heiner Timmermann, Vergangenheitsbewältigung in Europa im 20. Jahrhundert, Berlin 2010, S. 79 f.
[13] Redebeitrag Joseph Baumgartner (wie Anm. 1), S. 327.
[14] Ebd.
[15] Ebd.
[16] Ebd.
[17] Bernd-Jürgen Wendt, Economic Appeasement, Düsseldorf 1971, S. 287-291.
[18] Siehe etwa: Tim Bouverie, Mit Hitler reden. Der Weg vom Appeasement zum Zweiten Weltkrieg, Hamburg 2001.
[19] Alle Zitate im Redebeitrag Joseph Baumgartner (wie Anm. 1), S. 327.
[20] Karl Jaspers, Die Schuldfrage. Von der politischen Hoffnung Deutschlands, München 2012.
[21] Ebd., S. 19-23; Heidrun Kämper, „Die Schuldfrage“ von Karl Jaspers (1946). Ein zentraler Text des deutschen Nachkriegsdiskurses, in: Fritz Hermanns / Werner Holly (Hrsg.), Linguistische Hermeneutik. Theorie und Praxis des Verstehens und Interpretierens, Tübingen 2007, S. 301-322.
[22] Kämper, Die Schuldfrage (wie Anm. 21), S. 310.
[23] Felix Lieb, Ein überschätztes Buch? Karl Jaspers und „Die Schuldfrage“, in: VfZ 67 H. 4 (2019), S. 565-591, hier S. 577; Norbert Frei, Von deutscher Erfindungskraft. Oder: Die Kollektivschuldthese in der Nachkriegszeit, in: ders., 1945 und Wir. Das Dritte Reich im Bewusstsein der Deutschen, S. 145-156, hier S. 152-154.
[24] Redebeitrag Lorenz Hagen, 12. Sitzung des Bayerischen Landtages (wie Anm. 1), S. 345.
[25] Zu den Folgen des Versailler Vertrages etwa: Eckart Conze, Die große Illusion. Versailles 1919 und die Neuordnung der Welt, München 2018.
[26] Frei, Von deutscher Erfindungskraft (Anm. 23); Jan Friedmann / Jörg Später, Britische und deutsche Kollektivschuld-Debatte, in: Ulrich Herbert (Hrsg.), Wandlungsprozesse in Westdeutschland. Belastung, Integration, Liberalisierung 1945-1980, Göttingen 2002, S. 53-90, hier S. 53.
[27] Friedmann / Später, Kollektivschuld-Debatte (Anm. 26), S. 82.
Literaturhinweise:
Nicolas Berg, Der Holocaust und die westdeutschen Historiker. Erforschung und Erinnerung, Göttingen 2003.
Norbert Frei, 1945 und wir. Das Dritte Reich im Bewusstsein der Deutschen, München 2005.
Karl Jaspers, Die Schuldfrage. Für Völkermord gibt es keine Verjährung, München/Zürich 1979.
Dirk van Laak, Der Platz des Holocaust im deutschen Geschichtsbild, in: Konrad Jarausch/ Martin Sabrow (Hrsg.), Die historische Meistererzählung. Deutungslinien der deutschen Nationalgeschichte nach 1945, Göttingen 2012, S. 163-193.