Nackte Körper für den Frieden? Die Europäische Union für Freikörperkultur

In der Woche vom 30. Juli bis 6. August 1939 wurde in der Schweiz der fünfte Kongress der Europäischen Union für Freikörperkultur (EUFKA) durchgeführt. Auf Einladung der Organisation Nacktbadender Schweizer (ONS) versammelten sich die Mitglieder verschiedener FKK-Organisationen aus mehreren europäischen Ländern auf ihrem FKK-Gelände die neue zeit in Thielle am Neuenburgersee. Dort sprachen sie nicht nur über die internationale Zusammenarbeit, sondern nahmen auch am ersten sogenannten Welt-Sport-Treffen der FKK-Bewegungen teil. Es gab Wettkämpfe in Hundertmeterlauf, Hochsprung, Hindernislauf, Kugelstoßen und Freistilschwimmen. Nach dem Vorbild der Olympischen Spiele der Antike führten die Teilnehmenden diese sportlichen Aktivitäten ohne Kleidung durch. Zum Tagungsprogramm gehörten auch tägliche Gymnastikübungen, Wanderungen, Vorträge, Diskussionen sowie Film-, Tanz- und Theatervorführungen.

Nackte Körper für den Frieden? Die Europäische Union für Freikörperkultur[1]

Von Stefan Rindlisbacher

In der Woche vom 30. Juli bis 6. August 1939 wurde in der Schweiz der fünfte Kongress der Europäischen Union für Freikörperkultur (EUFKA) durchgeführt. Auf Einladung der Organisation Nacktbadender Schweizer (ONS) versammelten sich die Mitglieder verschiedener FKK-Organisationen aus mehreren europäischen Ländern auf ihrem FKK-Gelände die neue zeit in Thielle am Neuenburgersee. Dort sprachen sie nicht nur über die internationale Zusammenarbeit, sondern nahmen auch am ersten sogenannten Welt-Sport-Treffen der FKK-Bewegungen teil. Es gab Wettkämpfe in Hundertmeterlauf, Hochsprung, Hindernislauf, Kugelstoßen und Freistilschwimmen. Nach dem Vorbild der Olympischen Spiele der Antike führten die Teilnehmenden diese sportlichen Aktivitäten ohne Kleidung durch. Zum Tagungsprogramm gehörten auch tägliche Gymnastikübungen, Wanderungen, Vorträge, Diskussionen sowie Film-, Tanz- und Theatervorführungen.[2]

Kurz nach diesem internationalen FKK-Treffen veröffentlichte die ONS in ihrem Vereinsorgan die neue zeit zahlreiche Fotos der sportlichen Wettkämpfe und kulturellen Aktivitäten. Unter anderem wurde auch das einleitend abgebildete Foto publiziert, das die Flaggen der Nationen der anwesenden FKK-Organisationen zeigt.[3] Von links nach rechts sind folgende Flaggen zu sehen: Finnland, Deutschland (Hakenkreuzflagge), Vereinigte Staaten von Amerika, Belgien, Schweiz, Schweden, Vereinigtes Königreich (Blue Ensign), Frankreich und Dänemark. Mit Ausnahme der zentralen Position des Gastgeberlandes wurden die Flaggen willkürlich angeordnet und verweisen nicht auf die geografische Nachbarschaft der Länder. Vielmehr ging es darum, ein möglichst beeindruckendes Flaggenmeer in Szene setzen, das den Teilnehmenden des Kongresses als Kulisse für die gemeinsamen Gymnastikübungen diente.

Einerseits zeigt dieses Bild die Absicht der verschiedenen FKK-Bewegungen, die Nacktheit als performatives Instrument zur europäischen oder sogar globalen Verständigung zu inszenieren: Während die Nationalflaggen die unterschiedliche nationale Herkunft der Teilnehmenden abbilden, scheinen sich Unterschiede zwischen den Menschen durch die Nacktheit der Abgebildeten aufzulösen, – ging man doch in den FKK-Bewegungen davon aus, dass mit der Kleidung auch äußerlich sichtbare Hinweise auf soziale und kulturelle Zugehörigkeiten der Menschen abgelegt werden. Andererseits verweist die gehisste Hakenkreuzflagge auf die Präsenz einer rassistischen Ideologie, die Andersartigkeit gerade nicht an ablegbaren Unterscheidungsmerkmalen wie Kleidung, Schmuck oder Symbolen festmachte. Vielmehr wurde im Nationalsozialismus die vermeintliche Ungleichheit der Menschen in deren Biologie festgemacht. Wie diese Gleichzeitigkeit sich widersprechender Anschauungen und Ziele zu erklären ist, wird in diesem Essay ergründet. Dazu werden zunächst die Grundlagen der Freikörperkultur vorgestellt, sodann wird die Ausbreitung der FKK-Bewegung in verschiedenen europäischen Ländern skizziert, und abschließend wird die transnationale Geschichte der Europäischen Union für Freikörperkultur untersucht.

Freikörperkultur als Gesundheitsoptimierung und Sexualerziehung

Die Freikörperkultur gründete im frühen 20. Jahrhundert auf zwei zentralen Annahmen. Erstens sollte das nackte Baden in Sonne, Luft und Wasser die Gesundheit der Menschen verbessern. Laut den FKK-Aktivist:innen sei diese infolge der „falschen“ Lebensweise in der urbanen Industriegesellschaft angeschlagen. Vor allem die Haut werde durch dicke, luftabschließende Kleidung, unzureichende Körperpflege und schlechte hygienische Wohnverhältnisse geschädigt. Um die wichtige Stoffwechselfunktion dieses Organs wiederherzustellen, propagierte die im frühen 19. Jahrhundert aufgekommene Naturheilbewegung verschiedene Gesundheitsanwendungen wie beispielsweise Kaltwasserbäder, warme Wickel, Schwitzkuren oder Massagen. Auch die direkte Sonneneinstrahlung auf die unbedeckte Haut wurde als wirkungsvolle Naturheilpraktik beworben. Um die heilsame Wirkung der Sonne zu nutzen, sollten sich die Patient:innen in dafür konstruierten Licht- und Luftbädern in dünne Tücher gehüllt oder möglichst unbekleidet in die Sonne legen. Bis zur Jahrhundertwende bildeten sich in Europa und Nordamerika hunderte Naturheilanstalten und Sanatorien, die mit diesen Wasser-, Licht-, Luft- und Diätkuren sogenannte Zivilisationskrankheiten zu kurieren versuchten. Große Bekanntheit erlangten beispielsweise das Sanatorium Monte Verità in der Schweiz, das Sanatorium Weißer Hirsch in Deutschland oder das Battle-Creek-Sanatorium in den Vereinigten Staaten.[4]

Wichtige Vordenker der Freikörperkultur wie beispielsweise Heinrich Pudor (1865–1943) und Richard Ungewitter (1869–1958) griffen diese Naturheilanwendungen um 1900 auf und erweiterten sie mit neuen Praktiken und Anschauungen. Anstatt das Licht- und Luftbaden ausschließlich als Therapie für Kranke zu nutzen, sollten sich auch Menschen ohne akute Beschwerden regelmäßig nackt in die Sonne legen, um dadurch Krankheiten vorzubeugen oder die Gesundheit sogar zu steigern. Die Anhänger:innen der Freikörperkultur folgten damit der Überzeugung, dass die Menschen ihre Gesundheit durch selbstverantwortliches Handeln gezielt beeinflussen und bis zu einem gewissen Grad lenken können. In Kombination mit einer vegetarischen, alkohol- und tabakabstinenten Ernährung, viel körperlicher Bewegung, Entspannungsübungen und Sport wurde das regelmäßige Nacktbaden als Teil eines gesunden Lebensstils propagiert. Die Freikörperkultur war damit ein Kernbestandteil der sogenannten Lebensreformbewegung, die sich um 1900 für eine Umgestaltung zahlreicher Lebensbereiche wie der Ernährung, der Körperpflege, der Medizin, der Freizeit oder dem Wohnen einsetzte.[5]

Die Freikörperkultur sollte zweitens die Einstellung der Menschen zur Sexualität und zur eigenen Körperwahrnehmung verändern. Entgegen den vorherrschenden Sittlichkeitsvorstellungen wurde das gemeinsame Nacktsein der verschiedenen Geschlechter nicht als gefährlich und moralisch verwerflich angesehen, sondern als nützliche Aktivität zur kulturellen Höherentwicklung der Menschen beschrieben. Laut den FKK-Aktivist:innen rege nicht der nackte, sondern der raffiniert verhüllte Körper den Sexualtrieb auf unnatürliche Weise an. Erst durch die Gewöhnung an die „natürliche“ Nacktheit werde diese „übersteigerte“ Sexualität wieder in normale Bahnen gelenkt. Vor diesem Hintergrund wurde die Freikörperkultur auch als Instrument einer neuen Sexualerziehung propagiert.[6]

Die Freikörperkultur wurde in den Dienst sehr unterschiedlicher Ideologien und Weltanschauungen gestellt. So konnte das Ideal eines gesunden, fitten Körpers sowohl Bestandteil eines liberalen Selbstoptimierungsprogramms sein, als Projektionsfläche für rassistische Menschenzuchtfantasien dienen oder mit dem sozialistischen Streben nach einem neuen Menschen verknüpft werden. In Deutschland war die Freikörperkultur von Anfang an stark mit völkischen Anschauungen einer rassistisch imaginierten Volksgemeinschaft verbunden. Sowohl Pudor als auch Ungewitter strebten keine universelle Verbesserung der Menschen durch lebensreformerische Gesundheitspraktiken an, sondern zielten auf die Höherentwicklung der „deutschen Rasse“ ab.[7]

Nicht nur eine deutsche, sondern eine europäische Bewegung

In der Geschichtsforschung galt die Lebensreform- und insbesondere die FKK-Bewegung lange Zeit als typisch deutsche Bewegung. Tatsächlich bildeten sich die ersten, kleinen FKK-Gruppen wie die Loge des aufsteigenden Lebens um 1900 fast ausschließlich in protestantisch geprägten Großstädten Deutschlands. Überall wo die Nackten ihre mit hohen Bretterzäunen umfriedeten Treffpunkte errichteten, war das öffentliche Interesse groß. Nicht selten führte diese Aufmerksamkeit zu juristischen Auseinandersetzungen über die Rechtmäßigkeit des Nacktbadens und die Darstellung nackter Menschen in Zeitschriften. Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges kamen diese Aktivitäten jedoch zum Stillstand, und erst nach der Inflationszeit und den politischen Unsicherheiten der frühen 1920er-Jahre erholte sich die FKK-Bewegung in der Weimarer Republik. Nun bildeten sich im Zuge des wirtschaftlichen Aufschwungs und in einem liberalen gesellschaftspolitischen Klima neue, mitgliederstarke Vereine und Verbände wie die bürgerliche Liga für freie Lebensgestaltung oder der sozialistische Bund freier Menschen. 1930 zählten diese Organisationen bereits 20–30.000 Mitglieder.[8]

Ähnlich wie andere lebensreformerische Bewegungen breitete sich die FKK-Bewegung spätestens in der Zwischenkriegszeit nicht nur in Deutschland, sondern auch in vielen anderen europäischen Ländern aus. Unter anderem wurde in der Schweiz 1927 der Schweizerische Lichtbund gegründet, der sich ab 1938 Organisation Nacktbadender Schweizer (später: Organisation von Naturisten in der Schweiz) nannte. Nach wenigen Jahren zählte die Schweizer FKK-Bewegung bereits rund 1.000 Mitglieder, und das Publikationsorgan die neue zeit erzielte eine Auflage von bis zu 15.000 Exemplaren. Das 1937 in Thielle am Neuenburgersee gegründete FKK-Gelände die neue zeit entwickelte sich schnell zum wichtigsten Treffpunkt der Vereinsmitglieder. Prägend für die Ausbreitung der Freikörperkultur in der Schweiz war der Reformpädagoge Werner Zimmermann (1893–1982), der mit Publikationen wie „Lichtwärts – Ein Buch erlösender Erziehung“ seit den frühen 1920er-Jahren lebensreformerische Praktiken in der Schweiz bekannt gemacht hatte. Zur Freikörperkultur war er durch die Lektüre deutscher FKK-Pioniere und Kontakte mit deutschen FKK-Vereinen gelangt. Entsprechend eng waren in der Folge auch die Austauschbeziehungen zwischen Deutschland und der Schweiz.[9]

Einen vergleichbaren Aufschwung erlebte die FKK-Bewegung in Frankreich, wo seit 1927 die Société naturiste das Nacktbaden zusammen mit weiteren lebensreformerischen Praktiken propagierte. Initiiert wurde die Organisation durch die Brüder Gaston (1887–1971) und André Durville (1896–1979), die seit 1923 mit wachsendem Erfolg die Zeitschrift La Vie sage herausgaben. Sie bauten 1928 das FKK-Gelände Physiopolis auf der Seine-Insel Platais, etwa 30 km von Paris entfernt, das sich bald als Zentrum der französischen FKK-Bewegung etablierte. Bis 1931 zählte die Société naturiste bereits 1.800 Mitglieder. Zu einem weiteren Anziehungspunkt – insbesondere für FKK-Tourist:innen aus anderen europäischen Ländern – entwickelte sich ab 1929 auch die FKK-Feriensiedlung Heliopolis auf der südfranzösischen Île du Levant. Zur gleichen Zeit gründete der Sportlehrer Marcel Kienné de Mongeot (1897–1977) zusammen mit französischen Naturheilärzt:innen die Ligue Vivre und gab die Zeitschrift Vivre intégralement heraus, die bis 1930 eine Auflage von 20.000 Exemplaren erreichte. Wie die FKK-Bewegung in der Schweiz, wurden auch die französischen FKK-Vordenker:innen von der deutschen Freikörperkultur beeinflusst. Jedoch versuchten sie unter der Bezeichnung „naturisme“ die Eigenständigkeit ihrer Praktiken und Anschauungen hervorzuheben und der Verdächtigung entgegenzuwirken, Teil einer „pangermanischen“ Bewegung zu sein.[10]

Im Vereinigten Königreich bildeten sich bereits seit den frühen 1920er-Jahren zahlreiche kleinere Vereine mit eigenen FKK-Geländen und Zeitschriften wie beispielsweise die League of Light, Sunfolk-Society oder die Sunbathing Society. Einen starken Einfluss auf die Ausbreitung der Freikörperkultur im Vereinigten Königreich übte der deutsche FKK-Vordenker Hans Surén (1885–1972) mit seinem Buch „Der Mensch und die Sonne“ aus, das 1927 ins Englische übersetzt worden war. Seine völkischen Ansichten prägten in der Folge auch die Ausrichtung der 1931 gegründeten National Sun and Air Association. Bis 1937 zählten diese britischen FKK-Organisationen über 2.000 Mitglieder.[11] Ähnliche Ausmaße erreichte die FKK-Bewegung in Österreich, wo 1926 der völkische Verein Gesunde Menschen und 1928 die bürgerliche Liga für freie Lebensgestaltung gegründet wurden. Bis 1931 gab es vor allem im Großraum Wien an die 2.000 organisierte FKK-Anhänger:innen.[12] In Belgien erreichten die ebenfalls in den 1920er-Jahren gegründeten FKK-Gruppen Helios und De Spar sogar rund 8.000 Mitglieder.[13] Kleinere FKK-Gruppen gab es um 1930 sogar in stark katholisch geprägten Ländern wie Italien, Spanien oder Portugal.[14]

Mit einer „universellen“ Körpererfahrung das europäische Gemeinschaftsgefühl stärken

Mit der Ausbreitung dieser FKK-Bewegungen in Europa kam Anfang der 1930er-Jahre die Idee auf, einen europäischen Dachverband ins Leben zu rufen. Der deutsche Reichsverband für Freikörperkultur führte dazu auf dem FKK-Gelände des Bund Orplid in der Nähe von Frankfurt am Main ein erstes europäisches Freikörperkulturtreffen durch. An Pfingsten 1930 versammelten sich Vertreter:innen aus Deutschland, England, Holland, Frankreich, Österreich, der Schweiz, Ungarn und Italien, um über eine grenzübergreifende Zusammenarbeit zu beraten.[15] Ein zweites Treffen folgte an Pfingsten 1931 auf dem FKK-Gelände des Club Gymnastique de France in der Nähe von Paris.[16] Aber erst in der dritten Versammlung am 6. August 1932 in Berlin konnte die Gründung der Europäischen Union für Freikörperkultur (EUFKA) verkündet werden.[17] In dieser europäischen Dachorganisation konnten alle FKK-Vereine Mitglied werden, die sich dazu verpflichteten, „die gemeinsame Nacktheit beider Geschlechter […] in Verbindung mit Bestrebungen zu naturgemäßer Lebensführung“ zu fördern. Dabei sollte die EUFKA mehr als nur ein Freizeit- oder Sportverband sein, der sich für das Nacktbaden einsetzte. Vielmehr ging es um die „öffentliche Anerkennung der Freikörperkultur als eine[…] gesundheitlich und sittlich regenerierende[…] Kulturbewegung“. Sie sollte in Europa „den Wiederaufbau der Kultur“ einleiten und eine „zweite Renaissance“ einläuten, in der sich die Europäer:innen erneut auf eine ganzheitliche Ausbildung des Körpers und des Geistes besinnen. Dabei betonten die Organisator:innen der EUFKA, dass diese individuelle „Selbstveredelung“ durch Freikörperkultur nicht an eine bestimmte Nation gebunden sei. Vielmehr manifestiere sich darin ein „Streben nach universeller Erneuerung“, das in „alle[n] Völkern Europas“ an Zulauf gewinne.[18]

Im Unterschied zu politischen Bewegungen, die Europa durch gemeinsame Staats-, Gesellschafts- oder Wirtschaftsvorstellungen zu vereinen versuchten, wollten die FKK-Bewegungen mit „universellen“ Körpererfahrungen ein europäisches Gemeinschaftsgefühl erzeugen. So sollten die Europäer:innen kulturelle Unterschiede und nationale Zugehörigkeiten beim Nacktbaden, beim Sport und bei vegetarischem Essen überwinden. In diesem Sinne gab die Vizepräsidentin der EUFKA Therese Mühlhause-Vogeler (1893–1984) zu bedenken: „Weisheiten, die uns unser körperliches Dasein, unsere Leibhaftigkeit, vermitteln, sind international und allgemeingültig.“[19] Egal ob in Deutschland, Frankreich, England oder der Schweiz – die Freikörperkultur zeige überall die gleiche Wirkung auf den Körper und das sittliche Empfinden der Menschen. Damit war auch die Hoffnung verbunden, dass ein geschärftes Bewusstsein für den eigenen Körper und die persönliche Gesundheit auch die Wertschätzung für das menschliche Leben steigern und dadurch dem Pazifismus Vorschub leisten werde. So beschreibt Mühlhause-Vogeler die lebensreformerische Gesundheits- und Körperpflege in der FKK-Bewegung als performative Praxis zur Sicherung des Friedens in Europa:

Wir Frauen […] haben ein Interesse daran, daß die Knaben, die wir zu schöngestalteten, gesunden Menschen heranzogen, ihren Leib weiter so erhalten dürfen, nicht ihn zu verderben und zu quälen gezwungen werden durch unzweckmäßige Kleidung und Lebensweise beim Militär. Wir haben weiter ein Interesse daran, daß wir diese Knaben zu Jünglingen heranwachsen, nicht einem neuen Kriege opfern, noch durch sie andere opfern lassen. Dies ein Beispiel dafür, wie die Achtung vor dem Leibe und die Kultur des Körpers zwangsläufig nicht nur bei uns, sondern auch in anderen Ländern zur Ablehnung der Gewaltmethode des Krieges führt.

Auch in französischen FKK-Zeitschriften wie beispielsweise Vivre intégralement wurde die Hoffnung geteilt, die Freikörperkultur möge dabei helfen, die politischen Gräben zwischen den europäischen Ländern zu überwinden. So äußerte ein französischer Delegierter nach dem ersten Kongress der EUFKA in Frankfurt den Wunsch: „Souhaitons, car c’est là le vœu de chacun de nous, que la libre-culture soit l’un des meilleurs agents du rapprochement franco-allemand.“[20]

Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 in Deutschland wurde dieser Ansatz, Europa mit Hilfe einer grenzüberschreitenden FKK-Bewegung zu versöhnen, jedoch schlagartig beendet. Innert kurzer Zeit wurden alle demokratisch und sozialistisch orientierten Vereine aufgelöst und das Nacktbaden verboten. Trotzdem konnten einige Vereine ihre Aktivitäten weiterführen und schlossen sich 1934 im Bund für Deutsche Leibeszucht zusammen. Infolge dieser Eingliederung in den NS-Staat veränderten sich aber nicht nur die Ziele der deutschen FKK-Bewegung, sondern auch deren Auftreten gegenüber anderen europäischen FKK-Organisationen. Nun ging es nicht mehr darum, die Gesundheit aller Menschen in Europa durch lebensreformerische Körperübungen und Ernährungspraktiken zu verbessern, sondern die Freikörperkultur sollte nur noch in den Dienst der „Aufartung“ der „deutschen Rasse“ gestellt werden.[21] Diese Einengung auf völkische, antisemitische und nationalistische Ziele hatte zur Folge, dass sich die organisierte deutsche FKK-Bewegung weitgehend aus der EUFKA zurückzog. Die Zeitschrift Freikörperkultur und Lebensreform hatte dieses Vorgehen bereits Mitte 1933 angekündigt:

Zurück zur deutschen Freikörperkultur! […] Die nationale Erhebung verlangt im Interesse des Volkes ein klares Bekenntnis aller Organisatoren zum neuen Staat. Das macht eine Trennung von volksfremden und solchen Mitgliedern und Gruppen erforderlich, die sich in die Neuordnung des Reichs nicht einfügen können. […] Eine politische Neutralität im althergebrachten liberalen Sinne kann es im neuen Deutschland nicht mehr geben.[22]

Dieser Schritt stieß in anderen europäischen FKK-Organisationen, die sich nicht auf völkische und nationalistische Anschauungen stützten, auf Ablehnung. So wurde in der französischen Zeitschrift Vivre intégralement die Gleichschaltung der FKK-Bewegung in Deutschland verurteilt und zu einem friedlichen Miteinander in Europa aufgerufen:

Les éléments primordiaux, indispensables à la vie en société, à la paix entre les peuples, sont négligés; on espère en employant les moyens qui ont ensanglanté l’Europe, parvenir à rétablir un équilibre entre les nations, alors même que ceux qui recherchent cet équilibre ne le possèdent même pas en eux ![23]

Obwohl die französischen FKK-Aktivist:innen an der europäischen Zusammenarbeit festhielten, führte das Ausscheiden der mitgliederstärksten FKK-Bewegung Europas zu einem jahrelangen Stillstand in der Europäischen Union für Freikörperkultur. Es dauerte über sechs Jahre, bis 1938 der vierte Kongress der EUFKA in Paris durchgeführt werden konnte. Dieses Zusammentreffen wurde jedoch nicht nur von der deutschen FKK-Bewegung, sondern auch von völkisch orientierten Gruppen aus anderen europäischen Ländern boykottiert.[24] Auch als im darauffolgenden Jahr die Schweizer ONS einen fünften Kongress durchführte, kam die überwältigende Mehrheit der Teilnehmenden aus der Schweiz, eine größere Gruppe reiste aus Frankreich an, und nur wenige Einzelpersonen aus Deutschland und anderen europäischen Ländern waren anwesend. Weil die ONS keine Angaben über die Identität der Teilnehmenden machte, lässt sich jedoch nicht feststellen, ob überhaupt Mitglieder der offiziellen deutschen FKK-Organisation anwesend waren.[25]

Um trotz der unüberbrückbar scheinenden Differenzen zwischen den europäischen FKK-Bewegungen doch noch ein Zusammentreffen zu ermöglichen, versuchten die Schweizer Gastgeber:innen 1939, möglichst alle ideologischen Implikationen der Freikörperkultur wie beispielsweise völkische Narrative, rassistische Körpervorstellungen und diskriminierende Vereinsstatuten auszublenden und stattdessen die praktischen Körperübungen und Gesundheitsversprechen hervorzuheben. Aus diesem Grund wurde neben dem fünften Kongress der EUFKA zusätzlich ein Welt-Sport-Treffen der FKK-Bewegungen durchgeführt und damit der sportliche Wettkampf in den Fokus gerückt. In der Schweizer FKK-Zeitschrift die neue zeit war dann auch kaum ein Wort über die Ziele und Beschlüsse der EUFKA zu lesen. Stattdessen beschränkten sich die Gastgeber:innen auf die Veröffentlichung apolitischer Erzählungen und Fotografien von den sportlichen Wettkämpfen auf dem FKK-Gelände in Thielle.[26] In diesem Sinne lässt sich auch die einleitende Quelle als Versuch deuten, die sich dramatisch zuspitzenden Konflikte in Europa im Sommer 1939 zu ignorieren und stattdessen an der Erzählung einer europäischen Verständigung mit Hilfe der Körper- und Gesundheitspraktiken der Freikörperkultur festzuhalten – selbst wenn das bedeutete, nackt unter dem Hakenkreuz zu turnen.

Mit dem Beginn des Zweiten Weltkrieges endete jeglicher Austausch innerhalb der europäischen FKK-Bewegungen. Erst nach 1945 wurden die grenzüberschreitende Vernetzung allmählich wiederhergestellt und die Pläne für eine europäische Dachorganisation reaktiviert. Seit den frühen 1950er-Jahren waren vor allem Schweizer FKK-Aktivist:innen federführend an der Gründung der Internationalen Naturisten Föderation (INF) beteiligt, die nicht mehr nur die FKK-Bewegungen in Europa, sondern auf der ganzen Welt zu vereinigen versuchte.[27]

Fazit

Die Geschichte der Europäischen Union für Freikörperkultur verweist auf Aspekte der europäischen Geschichte, die bisher wenig untersucht wurden. Zwar gewinnt die Erforschung lebensreformerischer Bewegungen seit einigen Jahren an Bedeutung, aber bisher beschränken sich fast alle Studien auf national abgrenzbare Räume. Dabei zeigten gerade lebensreformerische Akteure eine außerordentliche Mobilität, die weder an Staats- noch an Sprachgrenzen Halt machte. Außergewöhnlich an diesen transnationalen Kontakten und Transferprozessen war dabei der Ansatz, dass nicht politische Ordnungsvorstellungen, sondern konkrete Gesundheits-, Ernährungs- und Körperpraktiken ausgetauscht wurden. Die weitere Erforschung lebensreformerischer Bewegungen in Europa könnte deshalb dazu beitragen, einen neuen, praxeologischen und körpergeschichtlichen Zugang zur europäischen Geschichte im 20. Jahrhundert zu erhalten.



[1] Essay zur Quelle: Nacktgymnastik beim fünften Kongress der Europäischen Union für Freikörperkultur in Thielle (Schweiz, 30.07. - 06.08.1939), [Fotografie], in: Themenportal Europäische Geschichte, 2022, URL:<https://www.europa.clio-online.de/quelle/id/q63-77449>.

[2] Die ONS verschickte die Einladung zu dieser Veranstaltung in drei Sprachen an die relevanten FKK-Organisationen in Europa, siehe dazu: Wir rufen euch! Thielle vous attend! We call you!, in: die neue zeit 84 (1939), S. 77–92.

[3] die neue zeit 85 (1939), S. 104. Die Aufnahme wurde mit einer deskriptiven Bildunterschrift in französischer und deutscher Sprache ergänzt: „morgen-gymnastik bei den fahnen der länder unserer bewegungen: finnland, deutschland, vereinigte staaten von nord-amerika (u.s.a.), belgien, schweiz, schweden, england, frankreich und dänemark“.

[4] Zur Geschichte der Naturheilbewegung siehe u.a. Cornelia Regin, Selbsthilfe und Gesundheitspolitik. Die Naturheilbewegung im Kaiserreich (1889 bis 1914), Stuttgart 1995; James C. Whorton, Nature Cures. The History of Alternative Medicine in America, Oxford/New York 2002.

[5] Zur Geschichte der Lebensreform siehe u.a. Florentine Fritzen, Gesünder leben. Die Lebensreformbewegung im 20. Jahrhundert, Stuttgart 2006; Bernd Wedemeyer-Kolwe, Aufbruch. Die Lebensreform in Deutschland, Darmstadt 2017; Stefan Rindlisbacher, Lebensreform in der Schweiz (1850–1950). Vegetarisch essen, nackt baden und im Grünen wohnen, Berlin u.a. 2022.

[6] Zur Geschichte der Freikörperkultur siehe u.a.: Bernd Wedemeyer-Kolwe, „Der neue Mensch“. Körperkultur im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, Würzburg 2004; Maren Möhring, Marmorleiber. Körperbildung in der deutschen Nacktkultur (1890–1930), Köln 2004; Brian S. Hoffman, Naked. A Cultural History of American Nudism, New York 2015.

[7] Uwe Puschner, Die völkische Bewegung im wilhelminischen Kaiserreich. Sprache, Rasse, Religion, Darmstadt 2001, S. 165–187; ders., Mit Vollkornbrot und Nacktheit – Arbeit am völkischen Körper. Gustav Simons und Richard Ungewitter – Lebensreformer und völkische Weltanschauungsagenten, in: Karl Braun / Felix Linzner / John Khairi-Taraki (Hrsg.), Avantgarden der Biopolitik. Jugendbewegung, Lebensreform und Strategien biologischer „Aufrüstung“, Göttingen 2017, S. 77–93.

[8] Vgl. Wedemeyer-Kolwe, Der neue Mensch, S. 199–232.

[9] Vgl. Stefan Rindlisbacher, Popularisierung und Etablierung der Freikörperkultur in der Schweiz (1900–1930), in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 65/3 (2015), S. 393–413; Eva Locher / Stefan Rindlisbacher, „Innere Verwandtschaft braucht keine Organisation“. Der Schweizerische Lichtbund im 20. Jahrhundert, in: Frank-Michael Kuhlemann / Michael Schäfer (Hrsg.), Kreise – Bünde – Intellektuellen-Netzwerke. Formen bürgerlicher Vergesellschaftung und politischer Kommunikation 1890–1960, Bielefeld 2017, S. 221–244.

[10] Vgl. Arnaud Baubérot, Histoire du naturisme. Le mythe du retour à la nature, Rennes 2004, S. 281–299; zum Naturismus in Frankreich siehe auch Sylvain Villaret, Histoire du naturisme en France depuis le siècle des Lumières, Paris 2005.

[11] Vgl. Nina J. Morris, Naked in Nature. Naturism, Nature and the Senses in Early 20th Century Britain, in: Cultural Geographies 16/3 (2009), S. 283–308; Annebella Pollen, Utopian Bodies and Anti-fashion Futures: The Dress Theories and Practices of English Interwar Nudists, in: Utopian Studies 28/3 (2017), S. 451–481.

[12] Vgl. Maja Rade, „Bund freier Menschen“ und „Sport- und Geselligkeitsverein Lobau“. Freikörperkultur in Österreich 1920–1945, Diplomarbeit Universität Wien 2012, S. 41 ff.

[13] Vgl. Evert Peeters, Authenticity and Asceticism: Discourse and Performance in Nude Culture and Health Reform in Belgium, 1920-1940, in: Journal of the History of Sexuality 15/3 (2006), S. 436 f.

[14] Vgl. o. A., Kongress der Europäischen Union für Freikörperkultur, in: Licht-Land 9/17 (1932), S. 2.

[15] Vgl. Hans Vahle, Bericht über das Erste europäische Freikörperkulturtreffen in Frankfurt-Main, in: die neue zeit 2/2 (1930), S. 54.

[16] Vgl. o. A., 2. europäische freikörperkultur-tagung, in: die neue zeit 3/3 (1931), S. 58.

[17] Werner Zimmermann, unser 3. europäischer kongreß, in: die neue zeit 4/4 (1932), S. 65 f.

[18] O. A., Kongress der Europäischen Union für Freikörperkultur, in: Licht-Land 9/17 (1932), S. 2.

[19] Therese Mühlhause-Vogeler, Naturismus in Frankreich – Freikörperkultur in Deutschland, in: Licht-Land 7/20 (1930), S. 1.

[20] Dudley Ellis, „Vivre“ au congrès de francfort, in : Vivre intégralement 5/73 (1930), S. 7.

[21] Vgl. Dietger Pforte, Zur Freikörperkultur- Bewegung im nationalsozialistischen Deutschland, in: Michael Andritzky / Thomas Rautenberg (Hrsg.), „Wir sind nackt und nennen uns Du“. Eine Geschichte der Freikörperkultur, Gießen 1989, S. 136–145; Maren Möhring, Nacktheit und Leibeszucht. Die FKK-Praxis im Nationalsozialismus, in: Paula Diehl (Hrsg.), Körper im Nationalsozialismus. Bilder und Praxen, München 2006, S. 211–228.

[22] O. A., An alle Bünde, Mitglieder und Freunde, in: Freikörperkultur und Lebensreform 9/5 (1933), S. 81.

[23] Kinne de Mongeot, Hitler et la libre-culture, in: Vivre intégralement 8/11 (1933), o. S.

[24] Vgl. o. A., IVe congrès de la nudité et de la santé, in: die neue zeit 8/2 (1938), S. 31 ff.

[25] Vgl. o. A., urteile des auslandes über das 1. welt-sporttreffen und unser gelände am neuenburgersee, in: die neue zeit 85 (1939), S. 104.

[26] Siehe dazu die Ausgabe 85 (1939) der Zeitschrift die neue zeit.

[27] Vgl. Eva Locher, Natürlich, nackt, gesund. Die Lebensreform in der Schweiz nach 1945, Frankfurt am Main 2021, S. 278 ff.


Nacktgymnastik beim fünften Kongress der Europäischen Union für Freikörperkultur in Thielle (Schweiz, 30.07. - 06.08.1939), [Fotografie][1]


[1] Privatarchiv der Organisation von Naturisten in der Schweiz (ONS), Thielle; Quelle zum Essay: Stefan Rindlisbacher, Nackte Körper für den Frieden? Die Europäische Union für Freikörperkultur, in: Themenportal Europäische Geschichte, 2022, URL: <https://www.europa.clio-online.de/essay/id/fdae-112651>.


Für das Themenportal verfasst von

Stefan Rindlisbacher

( 2022 )
Zitation
Stefan Rindlisbacher, Nackte Körper für den Frieden? Die Europäische Union für Freikörperkultur, in: Themenportal Europäische Geschichte, 2022, <www.europa.clio-online.de/essay/id/fdae-112651>.
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