Zwischen Einwanderung und Zwangsrotation. Europäische Migrationspolitik zum Ende des Booms[1]
Von Marcel Berlinghoff
[Frühere Version des Artikels: 2015]
Das exorbitante Wirtschaftswachstum, das die westeuropäischen Industriestaaten in den 1950er- bis 1970er-Jahren erlebten, wurde von einer umfangreichen Arbeitsmigration begleitet, die diesen Teil des Kontinents zu einer Einwanderungsregion machte.[2] Hatte im 19. und frühen 20. Jahrhundert noch die Auswanderung nach Übersee dominiert, so zogen nun vermehrt nicht nur Arbeitskräfte aus den agrarisch geprägten Peripherien innerhalb, sondern zunehmend auch Menschen von außerhalb des Kontinents in die Industriezentren Europas. Verbesserte Verkehrsverbindungen und imperiale Freizügigkeitsregimes sorgten zudem dafür, dass koloniale und postkoloniale Mobilität zunehmend auch EinwohnerInnen der (ehemaligen) Kolonien möglich war, die nicht als „europäisch“ oder „weiß“ galten: Seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges, in dem Soldaten aus den Kolonien für die Interessen ihrer „Mutterländer“gekämpft hatten, verstärkt aber im Zuge der Dekolonisation, kamen Menschen aus den wirtschaftlich schwachen, lange kolonial beherrschten Gebieten Asiens, Afrikas sowie Mittel- und Südamerikas in die Metropolen. Dabei wurden „Rückkehr“, Schutz und Zuwanderung verschiedener Gruppen in den ehemaligen Kolonialmächten Frankreich, Belgien, Niederlande und dem Vereinigten Königreich sehr unterschiedlich diskutiert und politisch gerahmt.
Während sich die spezifischen Migrationsregime der einzelnen Staaten Westeuropas abhängig von traditionellen Migrationsbeziehungen sowie kolonialen, ethnischen oder arbeitsmarktbezogenen Freizügigkeitsbestimmungen zum Teil deutlich voneinander unterschieden, einte sie das migrationspolitische Prinzip der „Gastarbeit“ bzw. der „Rotation“.[3] Ausländische Arbeitskräfte wurden von Unternehmen, privaten Vermittlern und staatlichen Behörden angeworben oder suchten sich mithilfe von Migrationsnetzwerken und auf eigene Faust Arbeitsstellen, um dort für eine begrenzte Zeit zu arbeiten, anschließend wieder zurückzukehren oder weiterzuwandern. Eine dauerhafte Niederlassung war häufig weder beabsichtigt noch erlaubt und die beteiligten staatlichen Akteure bemühten sich mit wechselndem Elan und Erfolg, die freiwillige Rotation zu kontrollieren und zu steuern. Hierzu gehörten beispielsweise bilaterale Anwerbeabkommen, wie sie bereits in der Zwischenkriegszeit geschlossen worden waren, Vereinbarungen zum Transfer von Sozialversicherungsansprüchen oder Meldepflichten für einheimische ArbeitgeberInnen und zugewanderte ArbeitnehmerInnen.[4]
Das jeweilige Kontrollniveau war dabei recht unterschiedlich: Während beispielsweise das bundesdeutsche Anwerbeverfahren Auswahl und Verteilung von ausländischen Arbeitskräften in die Hand der Arbeitsverwaltung legte, die diese im Auftrag der Unternehmen vermittelte, beschränkten sich die Schweizer Behörden auf eine strikte Kontrolle des regulären Aufenthalts.[5] Dessen Genehmigung konnte für unterschiedliche Laufzeiten erfolgen und Beschränkungen der Arbeitsplatz- und Wohnortwahl beinhalten. In Frankreich wiederum stieß das bürokratische staatliche Anwerbeverfahren schnell an seine Grenzen, weshalb der Arbeitsminister bereits 1956 die nachträgliche Regularisierung des Arbeitsaufenthalts zum legitimen Anwerbeweg erklärte:[6] Was später als illegale Einwanderung verfolgt wurde, nämlich die unkontrollierte Einreise und Arbeitssuche sowie nachträgliche Meldung bei den Behörden, war bis in die späten 1960er-Jahre der französische Normalfall der Arbeitsmigration. Hier wie auch in anderen (ehemaligen) Kolonialstaaten erfolgte zudem ein Großteil der temporären Arbeitsmigration im Rahmen freier Mobilität von EinwohnerInnen der (ehemaligen) Kolonialreiche.[7]
Dieser über die Grenzen des Kontinents hinausreichende Arbeitsmarkt ermöglichte nicht nur den von stetem Arbeitskräftemangel gefährdeten Wirtschaftsboom. Er zeichnete sich auch durch eine bemerkenswerte Mobilität aus: Allein in die Bundesrepublik kamen seit Ende der 1950er- bis Mitte der 1970er-Jahre etwa 15 Millionen der damals so genannten „Gastarbeiter“. Elf Millionen kehrten in der gleichen Zeit wieder zurück oder wanderten weiter.[8]
Mit dem stetig wachsenden Umfang der Arbeitskräftemigration verlängerte sich auch die Aufenthaltsdauer vieler MigrantInnen, die immer öfter Familienangehörige nachholten und sich auf einen längeren Aufenthalt einrichteten. Diese Einwanderungssituation verschärfte zum Teil vorhandene soziale Probleme, insbesondere der Unterkunft, zum Teil schuf sie neue, etwa in der Frage des Schulunterrichts für die Kinder von MigrantInnen, deren Rückkehr ins Herkunftsland als sicher galt. Daneben wurden zu Beginn der 1970er-Jahre – in der Schweiz schon wesentlich früher – Stimmen lauter, die vor ökonomischen Nachteilen eines schier unerschöpflichen Angebots gering qualifizierter Arbeitskräfte warnten: Dies trage zum Überleben unrentabler Wirtschaftsbereiche bei und behindere Investitionen.
Auf internationalen Konferenzen, beispielsweise der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) und des Europarats wie auch in den für die ArbeitnehmerInnenfreizügigkeit in der Europäischen Gemeinschaft (EG) zuständigen Ausschüssen der EG-Kommission, diskutierten die in den nationalen Behörden zuständigen BeamtInnen regelmäßig über die jeweiligen Erfahrungen mit der grenzüberschreitenden Arbeitsmigration, ihrer Steuerung und möglichen Kontrolle. Anfang der 1970er-Jahre intensivierte sich dieser Austausch durch Botschaftsberichte, gegenseitige Besuchsreisen, den Austausch von BeamtInnen der zuständigen Ministerien und Behörden sowie auf Konferenzen internationaler Organisationen, Gewerkschaften, Kirchen, anderer Verbände und zivilgesellschaftlicher Zusammenschlüsse. Da die dort geführten Diskussionen aber entweder von diplomatischer Zurückhaltung geprägt oder als zu öffentlich empfunden wurden, lud die deutsche Bundesregierung im Herbst 1972 VertreterInnen der europäischen Anwerbestaaten, der EG-Kommission, der OECD und des Europarats sowie der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) zu einem „Erfahrungsaustausch“ nach Bonn ein, um ungestört und in Ruhe über die Probleme der AusländerInnenbeschäftigung zu diskutieren. Als damals einziger Herkunftsstaat umfangreicher Arbeitsmigration in der EG nahm auch Italien an dem Treffen teil, das jedoch bis dato nur geringe Erfahrungen mit vermeintlich ungeregeltem Zuzug von ArbeitsmigrantInnen aus Afrika und Jugoslawien gemacht hatte.
Das Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung (BMA) veröffentlichte Anfang 1973 einen Bericht über diesen Erfahrungsaustausch im Bundesarbeitsblatt.[9] Die Hauszeitschrift des Ministeriums diente nicht nur der Veröffentlichung amtlicher Mitteilungen, sondern auch der Diskussion aktueller und grundsätzlicher Themen aus Arbeitswelt und Sozialpolitik. Der Autor des Beitrags, Helmut Heyden, war seinerzeit als Referent für ausländische ArbeitnehmerInnen maßgeblich an einer Rekonzeption der AusländerInnenbeschäftigungspolitik im BMA beteiligt.
War in der Vorbereitung noch ein Schwerpunkt auf den Austausch über den Umgang mit sozialen und Integrationsfragen der Anwerbung geplant, so entwickelte sich der Erfahrungsaustausch zu einer offen geführten Diskussion über die Möglichkeiten und Grenzen einer administrativen Steuerung und Kontrolle der Arbeitsmigration. Dabei empfanden die TeilnehmerInnen insbesondere die Möglichkeit des offenen Wortes als hilfreich, vermeintliche Probleme deutlich anzusprechen und öffentlich so nicht sagbare Strategien zu diskutieren. „Zum ersten Mal“, so der Leiter der schweizerischen Delegation, Georg Pedotti, sei „eine offene Aussprache über die aus der Sicht der Einwanderungsländer sich stellenden vielfältigen Probleme möglich“[10] gewesen. Eine Einschätzung, die von der französischen Delegation geteilt wurde[11] und die im Bericht Heydens ebenfalls erwähnt wird. Offenbar fürchteten die mit der Anwerbepolitik betrauten RegierungsbeamtInnen zivilgesellschaftliche Kritik sowie Proteste der Herkunftsländer, sollte die rassistische Einteilung in erwünschte „europäische“ und unerwünschte „außereuropäische“, das heißt nicht-„weiße“ Migration publik werden. Zudem widersprachen allzu restriktive Maßnahmen zur Steuerung der Arbeitsmigration bzw. zur Rückgängigmachung der Einwanderung den offiziellen Positionen sowie dem liberalen Selbstbild der westeuropäischen Staaten.
Für die Untersuchung der damaligen Debatten über einen Kurswechsel in der Migrations- und Arbeitsmarktpolitik ist der Bericht aus mehreren Gründen aufschlussreich. Zum einen gibt er einen Überblick über die damaligen Diskussionen auf nationaler und europäischer Ebene und zeugt vom Austausch und der Dynamik, die zwischen diesen Ebenen stattfanden. Die EG-Kommission und die nationalen Regierungen vertraten durchaus gegenläufige Positionen hinsichtlich der Frage, ob Freizügigkeit sowie soziale und politische Rechte nur Mitgliedsstaatsangehörigen oder allen ArbeitnehmerInnen in der Gemeinschaft garantiert werden sollten. Zugleich waren die administrativen VertreterInnen der Regierungen in die Arbeitsgruppen der Kommission eingebunden, wo sie sich zunehmend mit Folgen der gemeinschaftsübergreifenden Arbeitskräftemobilität aus Drittstaaten beschäftigten. Zum anderen liegen Entstehungs- und Veröffentlichungszeitpunkte in einer Phase, in der der neue Kurs der bundesdeutschen Gastarbeiter-Politik zwischen Ministerien und Verbänden ausgehandelt und eine Reform vorangetrieben wurde. Im Folgenden soll vor allem auf ersteren Aspekt eingegangen werden.[12]
Gemeinsames Anliegen der versammelten RegierungsvertreterInnen war laut dem Bericht, die vermeintlich verlorene Kontrolle über das Migrationsgeschehen zurückzuerlangen: Die „Entwicklung [dürfe] sich nicht völlig selbst überlassen bleiben“ und „der weitere Zustrom ausländischer Arbeitnehmer [müsse] wirksamer beeinflusst und gesteuert werden“. Dabei waren sich die Delegierten einig, dass die umfassende Beschäftigung ausländischer ArbeitnehmerInnen aus ökonomischen Gründen auf absehbare Zeit weiter dringend notwendig sei, in ihrem Umfang jedoch nicht mehr unbegrenzt wachsen könne. Hierfür seien insbesondere soziale Probleme verantwortlich, die sich aus der längeren Aufenthaltsdauer der GastarbeiterInnen und dem zunehmenden Familiennachzug ergäben und die in den industriellen Ballungsgebieten ohnehin angegangen werden müssten. Hierzu gehörten die Bereiche Unterkünfte, ärztliche Versorgung und berufliche Bildung ebenso wie die Betreuung der Kinder in Kindergärten, Horten und Schulen.
Daneben ergäben sich spezifische nationale Problemlagen, etwa die hohe soziale und kulturelle Heterogenität der Ausländerbevölkerung in Frankreich: „Allein 10 Nationen sind mit 70.000 und mehr Ausländern vertreten, Algerien, Portugal, Spanien und Italien sogar mit weit über 500.000.“ Da dies eine „angemessene soziale Integration der ausländischen Arbeitnehmer“ erschwere, wolle Frankreich die bisherige Einwanderungspolitik aufgeben und „auf eine ausgewogene soziale Gesellschaftsstruktur hinzielen. Hierzu [werde] die staatlich organisierte Anwerbung verstärkt und die Heterogenität abgebaut“. In der Praxis, und in Heydens Bericht nicht erwähnt, bedeutete dies für MigrantInnen aus den ehemaligen Kolonien die Abschaffung der „Regularisierung“, also der Möglichkeit, die selbstorganisierte Arbeitswanderung behördlich zu legalisieren. Für SpanierInnen und PortugiesInnen wurden diese Migrationswege jedoch offengehalten, was zusammen mit der EG-Freizügigkeit für ItalienerInnen zu einer Europäisierung der EinwandererInnenbevölkerung führen sollte. Damit zeichnete sich eine Entwicklung ab, in der aus zuvor als „unzivilisiert“ ausgegrenzten SüditalienerInnen, SüdspanierInnen und PortugiesInnen, „echte“ EuropäerInnen wurden, die den nord- oder schwarzafrikanischen MigrantInnen vorgezogen wurden.[13]
Eine Unterscheidung zwischen postkolonialen EinwandererInnen, die von imperialen Freizügigkeitsregelungen profitierten, und „echten“ europäischen AusländerInnen traf der Bericht auch für Großbritannien zu. Zwar gebe es hier zumeist keine auf Sprachschwierigkeiten beruhenden „Eingliederungsprobleme“, doch hätten die Commonwealth-BürgerInnen „ihre sehr spezifischen Probleme (‚Farbige‘)“. Interessant ist, dass der Bericht auf die Rassismusprobleme im Vereinigten Königreich explizit eingeht, die im Falle Frankreichs nur angedeutet werden. Dagegen wird der eigentliche turn der britischen Migrationspolitik jener Zeit nicht erwähnt: So trat mit dem EG-Beitritt am 1. Januar 1973 ein Gesetz in Kraft, das strengere Regeln für die Einwanderung von Commonwealth-BürgerInnen festlegte und nur einer Minderheit das „right of abode“ (Niederlassung in Großbritannien) zugestand, das zugleich die ArbeitnehmerInnenfreizügigkeit in der Europäischen Gemeinschaft beinhaltete. Während also für „farbige“ UntertanInnen der Krone die Zuwanderung beschränkt wurde, erhielten „echte“ Ausländer aus den EG-Staaten freien Zugang zum britischen Arbeitsmarkt. Damit erfüllte die britische Regierung Forderungen der EG-Delegation, eine Regelung zur britischen Staatsbürgerschaft zu finden, die die Freizügigkeit innerhalb der Europäischen Gemeinschaft auf EinwohnerInnen des Vereinigten Königreichs beschränkte.[14]
Rassistische Ausgrenzungsmuster prägten auch die Diskussion um die AusländerInnenbeschäftigung in den Niederlanden.[15] Zwar sei, wie Heyden notierte, der Anteil der ausländischen ArbeitnehmerInnen an der Gesamtzahl der abhängig Erwerbstätigen mit drei Prozent nur sehr gering, die politische Auseinandersetzung darüber jedoch „sehr lebhaft“. Ebenso wie in der Schweiz würde zwar über wirtschaftliche und soziale Folgen der Einwanderung diskutiert, die angestrebte Stabilisierung des ausländischen Bevölkerungsanteils folge jedoch vor allem politischen Überlegungen, die einer weit verbreiteten fremdenfeindlichen Stimmung zu begegnen suchten. Ein ebenfalls im Bundesarbeitsministerium entstandener Bericht über eine Studienreise von BMA-BeamtInnen in die Schweiz und in die Niederlande hatte ein halbes Jahr zuvor übereinstimmend festgestellt, dass in den beiden Ländern bezüglich der Beschäftigung ausländischer ArbeitnehmerInnen „die innenpolitische vor der ökonomischen Schallgrenze“ erreicht werde.[16]
In der Schweiz sei man daher zu einer „Gesamtplafondierung“ übergegangen, womit eine Kontingentierung der Arbeitsgenehmigungen gemeint war. Um die Zahl der AusländerInnen in der Eidgenossenschaft nicht weiter ansteigen zu lassen, wurden diese Kontingente seit 1970 an den Ausreisen im Vorjahr orientiert – de facto eine Art Anwerbestopp. Auch Schweden und Österreich berichteten auf der Konferenz von ihren Erfahrungen mit Kontingenten, die hier in den Vorjahren jedoch noch gewachsen waren.
Als denkbare Möglichkeiten zukünftiger Migrationspolitik stellte der Bericht zwei Alternativen nebeneinander: Einwanderung und forcierte Rotation. Eine an demografischen Interessen orientierte „echte“ Einwanderungspolitik stelle jedoch nur für das kleine Luxemburg eine akzeptable Option dar, das aufgrund starker Geburtenrückgänge auf dauerhafte Einwanderung angewiesen sei. Für alle anderen beteiligten Länder komme eine solche Politik jedoch nicht infrage – „selbst nicht mehr für Frankreich“, das bereits im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert aus demografischen Gründen die Einwanderung gefördert hatte.[17]
Dem wurde als ideales Gegenmodell eine forcierte Rotationspolitik gegenübergestellt, die jedoch nicht auf die freiwillige Rückkehr der MigrantenInnen vertraute, sondern staatlich durchgesetzt werden müsse. Auf den ersten Blick, so der Bericht, habe diese Lösung nur Vorteile:
„Die zunächst ungelernten ausländischen Arbeitnehmer können mit Industrieerfahrung in ihre Heimat zurückkehren, sie werden nicht mehr für längere Zeit ihrem Heimatland und der dortigen Wirtschaft entzogen. Ein von vornherein begrenzter Aufenthalt vermindert die sozialen Schwierigkeiten. Die Familienzusammenführung wird keine große Rolle mehr spielen und damit werden auch die jetzt drängenden Probleme wie Wohnungen, Schulen, Kindergärten, weitgehend an Bedeutung verlieren.“
In der Praxis sei diese vermeintlich ideale Lösung jedoch kaum durchzusetzen, da „sie eine ständige Abschiebung mit allen ihren unerfreulichen Begleiterscheinungen notwendig“ mache, also politisch nicht durchsetzbar sei. Auch stünden betriebs- und volkswirtschaftliche Argumente einer Zwangsrotation entgegen und schließlich werde „eine konsequent durchgeführte Rotationspolitik zu einer weiteren Zunahme der Zahl der illegalen ausländischen Arbeitnehmer führen“. Dieses letzte Argument führte zu der Einsicht, dass Migration nur zu einem gewissen Grad staatlich gesteuert werden kann und ein überhöhter Kontrollanspruch schnell zum Verlust derselben führt: „Das Problem der Illegalen wird sich in verstärktem Maße ohnehin bei allen restriktiven ausländerpolitischen Maßnahmen stellen.“
Daraus ergäben sich zwei Notwendigkeiten: Erstens seien vor allem die sozialen Folgeprobleme der vermeintlich ungesteuerten Einwanderung anzugehen. Dies sei allerdings nur bei strikterer Kontrolle und Einschränkung der Neuzuwanderung möglich. Und zweitens seien dringend gemeinsame europäische Anstrengungen zur Bekämpfung der illegalen Beschäftigung notwendig. Schließlich hätten Maßnahmen in einem Land stets direkte Auswirkungen auf die (ungesteuerte) Migration in den Nachbarländern. Tatsächlich wurden in den folgenden Jahren beide Politikbereiche auf verschiedenen europäischen Ebenen breit diskutiert. Während jedoch das Europäische Übereinkommen zur Rechtsstellung der Wanderarbeitnehmer[18] des Europarats von 1977 zahnlos blieb, da es von den wichtigen Aufnahmeländern nicht ratifiziert wurde, und das Sozialpolitische Aktionsprogramm für Wanderarbeitnehmer und ihre Familien[19] der EG von 1974 im Sande verlief, einigten sich die nationalen Regierungen schnell auf gemeinsame Aktionen, um irreguläre Migration und Beschäftigung ausländischer ArbeitnehmerInnen zu unterbinden.[20]
Der Bericht des Arbeitsministeriums über den internationalen Erfahrungsaustausch in Bonn zeigt, dass bereits 1972, also lange vor der Ölkrise, über Anwerbestopps in Europa diskutiert und im Falle der Schweiz als Globalplafondierung bereits durchgeführt wurden. Dabei festigten die Gespräche, die in diesem Rahmen offen und ungezwungen geführt werden konnten, ein gemeinsames Problembewusstsein über soziale und politische Folgen der Einwanderung sowie ein Gefühl des Kontrollverlustes, die jeweils auf die nationalen Diskussionen zurückwirkten. Wenngleich also Migrationssteuerung zu dieser Zeit noch allein Sache der nationalen Regierungen war, die zudem mit sehr spezifischen Migrationsformen und -debatten beschäftigt waren, so wird doch erkennbar, dass Migration zunehmend als Phänomen betrachtet wurde, dessen Probleme nur im europäischen Rahmen sinnvoll angegangen werden konnten. Hier wird eine europäische Problemwahrnehmung erkennbar, die sich direkt in den Migrationsbeschränkungen
für nicht-westliche DrittstaatlerInnen niederschlug, die alle westeuropäischen Regierungen zwischen 1972 und 1975 erließen.[21] Zugleich sollte diese Wahrnehmung die spätere europäische Migrationspolitik in ihrer Ambivalenz bis heute fundamental prägen.
Die skizzierte Europäisierung der Migrationspolitik avant la lettre zeigte bereits die ihr inhärenten Widersprüche. So förderten auf der einen Seite die Migrationsbeschränkungen für gering qualifizierte Beschäftigte aus Drittstaaten die gewünschte ArbeitnehmerInnenmobilität innerhalb der Europäischen Gemeinschaft. Ausnahmeregelungen für Fachkräfte und Hochqualifizierte sowie ArbeitnehmerInnen aus zukünftigen Mitgliedsstaaten wie Spanien oder Portugal stärkten das angestrebte westeuropäische Mobilitätsregime des Binnenmarkts. In dieser Logik stand auch das zur gleichen Zeit forcierte Projekt eines gemeinsamen europäischen Passes zum erleichterten Grenzübertritt zwischen den Mitgliedsstaaten. Das Legitimationsprojekt eines Europa der BürgerInnen wurde zwar zunächst in dieser Form noch nicht durchgeführt, fand jedoch im Abbau der Grenzkontrollen in den Abkommen von Saarbrücken und Schengen eine nachhaltige Umsetzung. Zugleich ging die Liberalisierung der Mobilitätsregimes mit Exklusionsprozessen gegenüber Drittstaatsangehörigen einher, die sich sowohl im Zugang zu den Territorien (und Arbeitsmärkten) als auch bei der Teilhabe am wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Leben in den Mitgliedsstaaten niederschlugen und dem Ideal eines liberalen Gemeinsamen Marktes entgegenstanden. Diese waren letztlich Ausdruck einer die Geschichte und Gegenwart des europäischen Integrationsprojekts fundamental prägenden Dynamik zwischen den Institutionen der Gemeinschaft und den Regierungen der Mitgliedsstaaten.[22]
[1] Essay zur Quelle: Helmut Heyden: Diskussion über die Ausländerbeschäftigung in Europa (Januar 1973), in Themenportal Europäische Geschichte, 2021, URL: . Essay und Quelle sind in einer früheren Fassung online erschienen im Themenportal Europäische Geschichte, URL: <www.europa.clio-online.de/essay/id/fdae-1658>.
[2] Vgl. Bade, Klaus J., Europa in Bewegung. Migration vom späten 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, München 2000.
[3] Vgl. Berlinghoff, Marcel, Das Ende der „Gastarbeit“. Europäische Anwerbestopps 1970–1974, Paderborn 2013.
[4] Vgl. Rass, Christoph, Institutionalisierungsprozesse auf einem internationalen Arbeitsmarkt. Bilaterale Wanderungsverträge in Europa zwischen 1919 und 1974, Paderborn 2010.
[5] Vgl. Herbert, Ulrich, Geschichte der Ausländerpolitik in Deutschland. Saisonarbeiter, Zwangsarbeiter, Gastarbeiter, Flüchtlinge, München 2001; Mahnig, Hans; Piguet, Etienne, Die Immigrationspolitik der Schweiz von 1948 bis 1998: Entwicklung und Auswirkungen, in: Wicker, Hans-Rudolf (Hg.), Migration und die Schweiz. Ergebnisse des Nationalen Forschungsprogramms „Migration und interkulturelle Beziehungen“, Zürich 2003, S. 65–108.
[6] Vgl. Weil, Patrick, La France et ses étrangers. L’aventure d’une politique de l’immigration de 1938 à nos jours, Paris 2005.
[7] Vgl. Sturm-Martin, Imke, Zuwanderungspolitik in Großbritannien und Frankreich. Ein historischer Vergleich 1945–1962, Frankfurt am Main 2001; Lucassen, Leo; Lucassen, Jan, Gewinner und Verlierer. Fünf Jahrhunderte Immigration – eine nüchterne Bilanz, Münster 2014.
[8] Oltmer, Jochen, Migration im 19. und 20. Jahrhundert, München 2010, S. 52.
[9] Der Bericht liegt diesem Essay als Quelle zugrunde: Heyden, Helmut, Diskussion über die Ausländerbeschäftigung in Europa, in: Bundesarbeitsblatt 24 (1973), H. 1, S. 33–36. Im Folgenden stammen alle Quellenzitate, soweit nicht anders vermerkt, aus der hier abgedruckten Quelle.
[10] Bundesarchiv Bern, E7175 (B) 1982/102/8, Notiz Pedotti an Grübel, 27.10.1972.
[11] Centre des Archives Contemporaines, Fontainebleau 19930317 Art. 4, DPM, Note sur le rencontre à Bonn (23–27 octobre 1972), o.D.
[12] Eine im Themenportal Europäische Geschichte erschienene Version dieses Beitrags behandelt beide Aspekte. Berlinghoff, Marcel, Zwischen Einwanderung und Zwangsrotation. Europäische Migrationspolitik zum Ende des ‚Booms‘ (19721975), in: Europäische Geschichte, URL: <https://www.europa.clio-online.de/essay/id/artikel-3791> (20.01.2020).
[13] Vgl. Berlinghoff, Ende, S. 283285, 363.
[14] Vgl. Berlinghoff, Ende, S. 69f.
[15] Vgl. Lucassen, Gewinner.
[16] Bundesarchiv Koblenz B136 8844, Berié; Fendrich, Berichte über die Studienreise in die Niederlande vom 10.–12.04.1972 und in die Schweiz vom 12.–20.06.1972; Vgl. Berlinghoff, Ende, S. 183f.
[17] Vgl. Noiriel, Gérard, Immigration, antisémitisme et racisme en France (XIXe–XXe siècle). Discours publics, humiliations privées, Paris 2009.
[18] Vgl. Council of Europe, Europäisches Übereinkommen über die Rechtsstellung der Wanderarbeitnehmer, Straßburg 1977.
[19] Vgl. Entschließung des Rates vom 21. Januar 1974 über ein sozialpolitisches Aktionsprogramm.
[20] Vgl. Berlinghoff, Marcel, Between Emancipation and Defence: The Failure of the Commission’s Attempt to Concert a Common European Immigration Policy, in: L’Europe en Formation. Journal of Studies on European Integration and Federalism (2009), H. 353–354,S. 183–195.
[21] Vgl. Berlinghoff, Ende.
[22] Vgl. Berlinghoff, Marcel, Eine gemeinschaftliche Reaktion auf gemeinsame Probleme? Die Europäisierung der Migrationspolitik in integrationshistorischer Perspektive, in: Bresselau von Bressensdorf, Agnes (Hg.), Über Grenzen. Migration und Flucht in Globaler Perspektive seit 1945, Göttingen 2019, S. 351–366.