„Wir verwandeln uns in eine Kolonie fremdsprachiger Bücher.“ Das Buch als Kulturproblem im Jugoslawien der Zwischenkriegszeit[1]
Von Augusta Dimou
Obschon dem serbischen Literaten Miloš Crnjanski ein Ruf als widerspenstiger Schöngeist, leidenschaftlicher Streiter und eigensinniger Provokateur bereits vorauseilte, ahnte er wahrscheinlich im Frühling 1932 wenig von der Lawine, die seine Feder diesmal ins Rollen bringen würde. Ging es ihm bei dem aphoristischen Ausruf Wir verwandeln und in eine Kolonie fremdsprachiger Bücher[2] darum, eine Warnung über die Umstände – oder, akkurater gesagt – die Missstände in Sachen Literatur- und Buchproduktion im Jugoslawien der 1930er-Jahre an die Welt zu senden, mündete seine Tirade – nicht ohne Mitschuld seines streitsüchtigen Charakters – in eine Polemik, die einen beträchtlichen Teil der jugoslawischen Intelligenz erfasste und schließlich vor Gericht endete. Das Thema „Buchkrise“ war allerdings kein neues Thema im Königreich Jugoslawien. Es beschäftigte unaufhörlich die jugoslawische literarische Öffentlichkeit der Zwischenkriegszeit und sorgte bereits in den 1920er-Jahren für heftige Auseinandersetzungen und gegenseitige Anschuldigungen zwischen Autoren, Verlegern und Buchhändlern in den Printmedien. Wie beim Prinzip der kommunizierenden Gefäße war die Polemik unterschwellig dennoch unmittelbar mit der Buchkrise verknüpft und brachte sowohl eine Identitäts- wie auch eine Professionalisierungskrise zum Ausdruck.
In seiner Argumentationsstrategie versuchte Crnjanski eine Gratwanderung, wie der Quelle, auf die sich dieser Essay bezieht, zu entnehmen ist. Er prangerte die künstlich vorangetriebene Konjunktur für das fremdsprachige Buch im Original und in Übersetzung an; sie habe massiv zur Krise des heimischen Buches und schließlich zur Verdrängung und Abwertung der heimischen Literatur beigetragen. Seine Forderung einer „nationalen“ Antwort auf das Kulturproblem „Buch“ nahm er nicht als xenophobisch angehauchten Chauvinismus, sondern als merkantilistischen Protektionismus wahr, obwohl seine Anspielung auf den „schädlichen“ Einfluss des „Fremdländischen“ auf die jugendlichen Gemüter an die Grenze zur Zweideutigkeit stieß. Bekanntermaßen war auch sehr viel Trivialliteratur und vor allem Pornografie im Umlauf. Crnjanski verlangte eine ähnliche Regelung wie beim Filmimport in Form einer staatlichen Intervention (Kontingentierung) gegen die unkontrollierte Einfuhr fremdsprachiger Bücher und unterstrich die Notwendigkeit, einen sowohl reellen wie virtuellen, staatlich protegierten Raum zu schaffen, wo der heimische Kultur- und Büchermarkt uneingeschränkt wachsen und reifen könnte. Einerseits ging es ihm um die gewerbliche Komponente der Buchproduktion und des Buchverkehrs, andererseits um die identitätsstiftenden, ideellen Wesenszüge von Kultur und geistigem Gut, die im Buch verkörpert und enthalten, und schließlich dadurch weiter kolportiert wurden. Crnjanski legte seine Polemik nicht eindeutig auf den materiellen oder immateriellen Charakter des Buches fest bzw. spielte abwechselnd auf beiden Registern und perpetuierte somit eine semantische Ambiguität, welche entsprechend dann auch die darauffolgende Polemik prägte.
Auf Crnjanskis passionierten Aufruf antwortete prompt Milan Bogdanovic, Epigone der Gründergeneration der serbischen Literaturkritiker[3], dem linken Ideenspektrum angehörend und Redakteur des Serbischen Literarischen Kuriers wie auch des linksorientierten und für seine Fremdübersetzungen bekannten Belgrader Verlages Nolit. In Sollten wir übersetzen oder nicht?[4] attackierte er den negativen und seines Erachtens unbestimmten Inhalt der crnjanskischen Aussagen. Sollte denn jegliche fremdsprachige Übersetzung unterbunden werden? Der Vorwurf, fremde Bücher seien für das lokale Desinteresse an der heimischen Literatur verantwortlich, übersehe die wichtige Frage, warum denn das heimische Publikum der fremdsprachigen Literatur den Vorzug gab. Bogdanovics Antwort auf diese Frage glich den seit jeher geäußerten Vorwürfen der Verleger: Entweder versäumte es die serbische Literatur, jene Werte zu vermitteln, welche die heimischen Leser in der ausländischen Literatur finden konnten, oder die lokale literarische Produktion war einfach nicht zeitgemäß und auf dem erforderlichen Niveau. „[I]st unsere Literatur in lebendigem Kontakt mit unserem Publikum? Erfüllt sie die Erfordernisse hoher Kunst?“ Die Antwort sei schlichtweg negativ, und dieser Umstand treibe die Leser zum fremden Buch. Schließlich hätten sich auch die Zeiten geändert. Die bekannte Fixierung auf die Nationalliteratur sei einer allgemeinen transnationalen Wissbegierde gewichen. „Wenn auch wir empfänglich für diese Wissbegierde sind, worin liegt dann das Problem?“[5] Crnjanski sei von einem engstirnigen und altmodischen Denken beherrscht; Bogdanovic forderte, er möge seine nebulösen Vorwürfe durch aussagekräftiges Beweismaterial belegen.
Die Konfrontation Crnjanski – Bogdanovic erhitzte die Gemüter und löste eine typische Intellektuellenpolemik aus. Vordergründig berührte die Polemik eine Vielfalt von literaturtechnischen Themen wie die Übernahme oder Nicht-Übernahme fremder literarischer Modelle und Paradigmen, den Anspruch auf lokale literarische Originalität oder das Bekennen der jugoslawischen Literaten zu den kosmopolitischen Werten der Weltliteratur, den Qualifizierungskriterien, die „gute“ Literatur ausmachten. Schlussendlich war sie symptomatisch für eine tief sitzende Identitätskrise. Aus literaturhistorischer Warte dokumentiert sie das frische Auftreten der „sozialen“, „engagierten“ Literatur und die von ihr betriebene Infragestellung der etablierten literaturästhetischen Richtungen, insbesondere der des führenden Expressionismus.
Crnjanskis unerbittliche Haltung verschaffte ihm wenig Unterstützung unter seinen Kollegen. Im Gegenteil provozierte er eine geschlossene Front, die sich in kollektiven Unterschriftsaktionen in allen Teilen des Königreiches gegen ihn richtete. Milan Bogdanovic bekam seine Satisfaktion vor Gericht. Crnjanski wurde eine Geldstrafe wegen persönlicher Verleumdung auferlegt und er musste auch für die Gerichtsspesen aufkommen.
Crnjanskis Gegner konzentrierten sich mehrheitlich auf einen Hauptkritikpunkt, der paradoxerweise quasi auf einer ‚falschen‘ Lesart seiner Aussagen beruhte. Literaten und Schriftsteller schrieben sich die Finger wund und protestierten gegen Crnjanskis angebliche Absicht, die Meinungsfreiheit in den Belangen der Literatur unterbinden zu wollen. In langatmigen idealistischen Plädoyers richteten sie sich gegen Crnjanskis Nationalismus und Xenophobie, seine angebliche Vorstellung einer Abkapselung Jugoslawiens von der großen Welt und ihrer Literatur, und setzten sich leidenschaftlich für die freie und uneingeschränkte Bewegung der Ideen ein. Bemerkenswert bei der Rezeption des crnjanskischen Essays und gleichzeitig bezeichnend für das etwas „naive“ Selbstverständnis der jugoslawischen Intellektuellen war die Unfähigkeit seiner Kontrahenten, sein materialistisches Argument zu erfassen, also das Buch als Handelsware. Denn Crnjanski bekräftigte in recht expliziter Weise, er wende sich eben nicht allgemein gegen die Werte fremdsprachiger Literatur, sondern gegen die Art ihrer Kommerzialisierung und ihres Vertriebs in Jugoslawien. Nur einige isolierte und keinesfalls repräsentative Stimmen reagierten auf sein Argument aus dem gleichen Verständnishorizont heraus. Sollte man die Literatureinfuhr tatsächlich kontingentieren, nach welchen Kriterien solle man dabei vorgehen, und wie darüber entscheiden, was gute und was schlechte Literatur sei? Weder Polizei- noch Zollbehörden konnten damit beauftragt werden über literarische Werte zu entscheiden und den freien Verkehr zu regulieren. Auch die Unterbindung der Einfuhr von fremdsprachigem „Schund“ sei keine Garantie dafür, dass das Publikum nicht länger anfällig für den heimischen „Schund“ werde. Die Kontrolle des Bücherimports sei nicht der richtige Weg, um das Niveau der Leser zu heben und es sei praktisch unmöglich, das Publikum zu einem bestimmten Konsumverhalten in Bezug auf Bücher zu zwingen.[6]
Die Verknüpfung von Crnjanskis Abneigung gegen marxistische bzw. soziale Literatur und sein Aufruf zum nationalen Handeln verweist nicht zuletzt auf eine bestimmte Phase in seiner Biografie. Seine Kapitalismuskritik entstammte dem rechten ideologischen Lager und in dieser Hinsicht steht er emblematisch für den ideologischen Wandel vom Sozialismus zum Faschismus, den viele Intellektuelle in der Zwischenkriegszeit europaweit vollziehen sollten. Analog zur Erfahrung einer ganzen Generation wurde Crnjanski vom Ersten Weltkrieg, dem internationalen geistigen Klima der Antikriegsgesinnung sowie der Internationalisierung der Literatur geprägt. Als einflussreicher Vertreter des Belgrader Modernismus stellt Crnjanskis Werk einen bedeutenden Beitrag zu den Bemühungen seiner Generation dar, eine neue literarische Sprache als Ausdrucksmittel für neue Motive und Konzepte zu entwickeln. Politisch rechnete er sich den progressiven sozialen Kräften zu und flirtete mit dem Sozialismus. In den späten 1920er-Jahren wanderte er ideologisch zunehmend nach rechts ab, kam zuerst der königlichen Diktatur nah, und liebäugelte schließlich mit dem Faschismus.[7]
Angestoßen durch die Auseinandersetzung zwischen Miloš Crnjanski und Milan Bogdanovic, entwickelte die Polemik durch Interventionen und öffentliche Stellungnahmen bald ein Eigenleben. Thematische Inhalte nahmen auf der diskursiven Metaebene eine symbolische Valenz an und mündeten in unterschwelligen und unausgesprochenen Identitätsfragen. Was sei die Bedeutung, aber auch der Stellenwert des „Nationalen“, was die Rolle des Autors und seines Standesbewusstseins zwischen nationalem Kontext und transnationalen Ideenströmungen? Als Dilemmata wurden das anhaltende identitäre Defizit und die beharrliche Identitätssuche der Intellektuellen im Rahmen des neuen jugoslawischen Staatsgebildes zur Sprache gebracht. Dieses Gefühl der Ungewissheit resultierte aus der komplexen Realität des neuen Staates, der aus der Zusammenfügung verschiedener kultureller Bausteine und Identitäten entstanden war. Daraus folgte der Anspruch auf eine doppelte Emanzipation der heimischen Kultur. Einerseits sollte eine gegenüber dem Ausland eigenständige und originelle jugoslawische, den anderen europäischen Kulturen ebenbürtige Kultur entwickelt werden. Andererseits richteten sich die Emanzipationsbestrebungen nach innen und kamen in der wiederholten Aufforderung nach einer Hebung der literarisch-ästhetischen Qualität zum Tragen.
Die jugoslawische Identitätsfrage wurde durch eine zusätzliche Aufspaltung entlang der gegensätzlichen Drehpunkte Einheit und Distinktion verkompliziert. Zum einen ging es um die Frage, was Jugoslawien von anderen Nationen unterscheide und worin die jugoslawische Besonderheit bestehe. Zum anderen – dies unterschied den Vielvölkerstaat Jugoslawien von anderen europäischen Staaten – ging es um die interne kulturelle Kohärenz und die noch viel mühseligere Frage, was angesichts der verschiedenen Elemente und Traditionen Jugoslawiens eigentliche kulturelle Gemeinsamkeit ausmache. Diese letzte Frage wurde durch chronische politische Krisen ständig unterminiert. Als Antwort darauf wurden verschiedene identitäre Modelle entwickelt. Als möglicher, jedoch nur mäßig populärer Entwurf galt die Idee der Schaffung einer neuen jugoslawischen Kultur auf der Grundlange einer der schon existierenden Kulturen, womöglich der Serbischen. Weit ansprechender erschien die Schaffung einer neuen supranationalen Kultur, wodurch lokale Partikularitäten überwunden werden sollten. Eine solche supranationale Kultur wurde in zwei Variationen vorgestellt: Einerseits als modernistischer Markstein durch die Anbindung der jugoslawischen an die westeuropäische Kultur; andererseits ab den 1930er-Jahren als universalistisch orientiertes sozialistisches Kulturmodell, welches in der Form national, inhaltlich jedoch sozialistisch geprägt sein sollte. Als drittes Modell galt das Paradigma des integralen Jugoslawismus, konzipiert als eine neuartige kulturelle Verschmelzung in eine originelle und dynamische, des neuen Nationalstaates würdige Nationalkultur.[8] In den 1930er-Jahren gaben viele Intellektuelle das synthetische zugunsten des supranationalen Modells auf oder wechselten sogar auf die Seite des kulturellen Nationalismus über.
Ausdruck des Ideals des integralen Jugoslawismus war das Heranwachsen einer Generation, die geschult war in den nationalen Idealen und gleichzeitig geschützt vor den als verderblich angesehenen materialistischen Einflüssen der westlichen Zivilisation.[9] Daraus erwuchs der Imperativ einer Nationalkultur als erfolgreiche Amalgamierung der verschiedenen lokalen Partikularitäten zu einer jugoslawischen Einheit. Kultur wurde in den Dienst der Integration gestellt und Kulturvorstellungen wurden von der ständigen Agonie getragen, die neue jugoslawische Kultur als partikulare und homogene Kultur gegenüber anderen Kulturen erscheinen zu lassen. Phobien unterschiedlichster Art wie eben Assimilationsängste angesichts fremder Einflüsse, Furcht vor konfessionellen und nationalen Spaltungen, partikularistischem und traditionalistischem Bewusstsein bildeten die Grundlagen der Modernisierungsvorstellungen von Literaten über die politische, nationale und kulturelle Einheit der jugoslawischen Völker.[10] Die Unzulänglichkeit, ja sogar das zeitweise Versagen der politischen Institutionen in der Zwischenkriegszeit überhöhte den Anspruch auf die integrative Rolle von Kunst und Literatur als Wächterinnen der nationalen Identität.[11] Daher rührten das ständige Selbstauspeitschen und mangelnde Selbstvertrauen, die Ablehnung der mimetischen oder oberflächlichen Übernahme fremder literarischer Modelle und das fortwährende Infragestellen sowohl der Originalität wie auch der Qualität der jugoslawischen Literaturproduktion.[12] Auf diese Herausforderung antworten die Autoren im Laufe der Polemik ganz unterschiedlich. Während Miloš Crnjanski Protektionismus auf allen Ebenen forderte, verwies die andere Seite auf die Unreife und Mängel der heimischen Literatur und unterstrich die befruchtende Rolle ausländischer Literatur als einzigen Ausweg aus der geistigen Stagnation.
In der Zwischenkriegszeit wurden Inhalt und Bedeutung der Nationalliteratur in einem Wechselspiel zwischen kontradiktorischen, sich jedoch in diesem Kontext auch ergänzenden Wertigkeiten wie national und kosmopolitisch gedeutet. Ziel des Nationalen war es, den ästhetischen und künstlerischen Stellenwert des Universalen zu erreichen, ohne dabei jedoch die nationale Eigenart und Besonderheit zu verlieren. Der Beitrag zum Universalen ist in der Verfeinerung und Sonderart des Nationalen zu finden, was wiederum als Antwort auf die Herausforderung durch die großen Bezugskontexte europäischer Literatur und Weltliteratur zu verstehen ist. Anders als bei den Berührungsängsten der herkömmlichen Verfechter einer exklusiven nationalen Identität fließt hier das Nationale ins Universale ein und wird allein durch diese Berührung unsterblich und bedeutsam. Der politische Kontext Jugoslawiens gestaltete sich freilich anders. Hier erweckte die politische Dominanz der Serben verschiedenartigste Phobien; während die serbische politische Elite sich vor einer weiteren Demokratisierung der politischen Kultur fürchtete, ging es bei den anderen Nationalitäten um fest verwurzelte Identitätsverlustängste. Der Sinngehalt des Signifikats „national“ ist im Rahmen dieser polyphonen wie polymorphen Sinngestaltung alles andere als eindeutig und wird immer wieder neu ausgehandelt und nuanciert. Crnjanski dürfte in diesem Zusammenhang „national“ vom Standpunkt des integralen Jugoslawismus her füllen. Sein „Nationalismus“ entsprang zugleich seiner politisch konservativen Gesinnung und richtete sich gegen den marxistischen Internationalismus; zum einen, weil Crnjanski der marxistischen Belletristik keinen echten literarischen Wert, sondern nur propagandistische Absichten zusprach. Zum zweiten, weil die mit Hilfe moderner soziologischer Instrumente und Kategorien neuartige semantische Aufladung der Signifikaten „Volk“ und „Nation“ seitens des Marxismus die nationale Einheit als Priorität des integralen Jugoslawismus im Vielvölkerstaat Jugoslawien herausforderte.
Bei seiner Intervention ging es Crnjanski an erster Stelle um die gewerbliche Dimension des Buches, die Identitätsfrage war nur ein Epiphenomenon. Die berüchtigte „Buchkrise“ kehrte seit Mitte der 1920er-Jahre immer wieder in die Öffentlichkeit zurück. So auch Anfang der 1930er-Jahre, als sie für mediale Aufregung sorgte, weil Schriftsteller, Buchhändler und Verleger sich gegenseitig die Schuld für die Krise in die Schuhe schoben. Die eigentlichen Ursachen der Krise hingen jedoch kaum vom Willen vereinzelter Akteure ab, sondern grundlegend von den sozioökonomischen Strukturen und den literarischen Produktionsverhältnissen eines Agrarstaates, wie es Jugoslawien in der Zwischenkriegszeit war. Die Polemik schöpfte aus einer Reihe realer Probleme, die, obgleich sie bei dieser Auseinandersetzung thematisch nicht vorkamen, immer wieder für Brisanz sorgten und die Beziehungen zwischen den gesellschaftlichen Gruppen strukturierten – wie die Autorenhonorare, das Angebot der Buchhandlungen, die Strategien der Verleger, das Anrecht auf den Buchvertrieb, die staatliche Büchereinfuhrpolitik, die Professionalisierung des Verleger- und Buchhändlerberufes und anderes mehr. Die so bezeichnete „Krise“ war nur Ausdruck einer Reihe zusammenhängender Probleme, die auf den unzulänglichen Kreislauf Produktion – Zirkulation – Konsum des Buchmediums, hinwiesen. Somit war sie symptomatisch für einen kleinen und unbeständigen Büchermarkt, in Verbindung mit einem niedrigen Professionalisierungsgrad und einem eher zufälligen und unkonsolidierten Lesepublikum.
Die Vereinheitlichung der lokalen Büchermärkte schritt im neuen jugoslawischen Staat nur langsam voran. Zu bewältigen galt es nicht nur die unterschiedlichen Wirtschafts- und Handelsräume und -bedingungen, die regional massiv auseinanderklaffende Alphabetisierungsrate, die zu unterschiedlichen Graden erschlossenen Regionen und die mangelnde Verkehrsinfrastruktur, sondern auch und insbesondere die lang bewährten Traditionen und Handelsrouten des Buchhandels, die sich auch in der post-habsburgischen Zeit noch behaupten konnten. Unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg bis Anfang der 1920er-Jahre wurden Bücher in serbokroatischer Sprache aufgrund der niedrigen Druckkosten im Ausland gedruckt und unverzollt eingeführt. Auf den Protest der Grafiker und Drucker hin, man solle der verlegerischen Tätigkeit im Königreich zu Hilfe kommen, wurde die Einfuhr der im Ausland gedruckten serbokroatisch- und slowenischsprachigen Bücher mit Zoll belegt. Fremdsprachige Bücher konnten weiterhin unverzollt eingeführt werden.
Trotz der Verabschiedung einer einschlägigen Gesetzgebung zur Bekämpfung sittenwidriger Konkurrenz (1930) blieb der jugoslawische Buchmarkt weitgehend unreguliert. Buchvertrieb und Verkauf bewegten sich großteils innerhalb einer Grauzone, wo Schmuggler und Schleichhändler sich gut behaupten konnten. Das galt sowohl für das inländische wie auch für das ausländische Buch. Heimische Buchhändler und Verleger verkauften zu willkürlich gesetzten Rabattpreisen und verletzten dadurch die Vereinbarung ihres eigenen Verbandes. Aber auch das ausländische Buch machte Karriere. Gemäß Tradition und Gesetzgebung der Habsburger Monarchie hatten früher Vertreter ausländischer Verleger und Buchhändler in den südlichen Regionen des Reiches mit dem Buch gehandelt und setzten diese Tätigkeit trotz der Errichtung des neuen Staates in den gleichen Regionen (Kroatien und Slowenien) fort. Sie arbeiteten inoffiziell, nahmen meistens Bestellungen von Privatpersonen auf und besorgten die bestellten Bücher zu niedrigeren Preisen als die offiziellen Buchhändler, obwohl der Buchhandel für nicht registrierte Firmen gesetzlich unterbunden war. Buchhändler und Verleger aus Wien, Berlin und Leipzig gründeten Agenturen in Zagreb und anderen Ortschaften. Es wurde grundsätzlich mit dem deutschen Buch gehandelt, da italienische und französische Bücher meist über die Buchhändler besorgt wurden. Es gab etwa 100 ausländische Agenten und ungefähr 50 Bücher vertreibende Firmen.[13]
Das qualitätsvolle und seriöse Buch machte Mitte der 1920er-Jahre allerdings kaum Karriere in Jugoslawien. Am meisten verbreitet waren Schulbücher, modische Zeitschriften, Krimis und Pornografie. Im Jahre 1926 wurde in Buchhändlerkreisen sogar behauptet, ausländische Werke in Übersetzung verkauften sich besser als die heimische Literatur. 1930 wiesen die Zagreber Buchhändler eine ganz schlechte Bilanz beim Verkauf jugoslawischer Bücher auf. Aufgrund der schlechten Erfahrungen der letzten Jahre, wo nicht einmal das investierte Kapital eingetrieben werden konnte, weigerten sich die Verleger, Werke jugoslawischer Autoren zu drucken. Anfang der 1930er-Jahre kam es tatsächlich dazu, dass die Schriftsteller Schwierigkeiten hatten, Verleger für ihre Werke zu finden.[14] Die Verleger konzentrierten sich auf das Schulbuch und die fremdsprachige Literatur, vor allem die deutschsprachige. Die Autorenhonorare lagen in der Zwischenkriegszeit fünfmal niedriger als vor dem Krieg. Ebenso schlecht wurden Übersetzungen bezahlt, welche meist in Raten über einen unbestimmten Zeitraum hinweg honoriert wurden.[15] Schließlich legte auch noch der Staat einen so hohen Posttarif auf den Bücherversand, dass die Buchhändler sich weigerten, die Pakete von der Post abzuholen.
Hätten die Verleger mehr bezahlt, hätten sie wahrscheinlich das Leben der Schriftsteller erleichtert, das strukturelle Problem der „Buchkrise“ hätten sie aber gleichwohl kaum gelöst. Urbane Kultur und Stadtleben erfassten in der Zwischenkriegszeit nur 15,8 Prozent der Bevölkerung. Der Analphabetismus betrug Anfang der 1930er-Jahre etwa 45 Prozent, 42 Prozent bei den Männern und 60 Prozent bei den Frauen. Noch größere Variation zeigten diese Messungen in ihrer regionsspezifischen Ausprägung: Die niedrigsten Analphabetenraten hatte Slowenien mit weniger als 9 Prozent, es folgten die Vojvodina (23 Prozent), Kroatien, Slawonien und Istrien (32 Prozent), Dalmatien (50 Prozent), Nordserbien (65 Prozent), Montenegro (67 Prozent), Bosnien und Herzegowina (80 Prozent) und schließlich Kosovo (84 Prozent). Diese Umstände hätte Crnjanskis Protektionismus auch nicht aufheben können. Es war aber die Erkenntnis dieser Umstände, die seinen Protektionismus an erster Stelle motivierte.
[1] Essay zur Quelle: Miloš Crnjanski: Wir verwandeln uns in eine Kolonie fremdsprachiger Bücher. Das Problem unserer Kultur (1932). Die Druckversion des Essays findet sich in: Isabella Löhr, Matthias Middell, Hannes Siegrist (Hgg.): Kultur und Beruf in Europa, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2012, S. 259–266, Band 2 der Schriftreihe Europäische Geschichte in Quellen und Essays.
[2] Crnjanski, Miloš, Wir verwandeln uns in eine Kolonie fremdsprachiger Bücher. Das Problem unserer Kultur, in: Vreme XII, H. 3659, 09.03.1932, S. 2 und H. 3662, 12.03.1932, S. 2. Übersetzt aus dem Serbokroatischen von Augusta Dimou, Redaktion Ruža Tokic.
[3] Vgl. Palavestra, Predrag, Istorija Srpske književne kritike 1768–2007, Bd. 1, Novi Sad 2008, S. 349–359.
[4] Bogdanovic, Milan, Prevoditi ili ne prevoditi, in: Tešic, Gojko (Hg.), Zli volšebnici, Bd. 2, Belgrad 1983, S. 462–464.
[5] Ebd., S. 463.
[6] Aus den ca. 50 Texten, die die Polemik ausmachten, war nur einer im Stande, Crnjanski auf einem ebenbürtigen pragmatischen Niveau zu antworten.
[7] Zu Crnjanskis literarischer Biografie vgl. Deretic, Jovan, Istorija Srpske književnosti, Belgrad 21996, S. 405–423.
[8] Wachtel, Andrew B., Ivan Meštrovic, Ivo Andric and the Synthetic Yugoslav Culture of the Interwar Period, in: Djokic, Dejan (Hg.), Yugoslavism. Histories of a Failed Idea 1918–1992, London 2003, S. 239–241.
[9] Dimic, Ljubodrag, Kulturna politika Kraljevine Jugoslavije 1918–1941, Bd. 1, Belgrad 2009, S. 304.
[10] Ebd., Bd. 3, S. 411.
[11] Das Argument wird von Dimitris Tziovas im Zusammenhang mit der Entwicklung der griechischen Zwischenkriegsliteratur avanciert. Mir erscheint es im jugoslawischen Fall ebenso relevant. Vgl. Tziovas, Dimitris, Oi metamorfoseis tou ethnismou kai to ideologima tis hellenikotitas sto mesopolemo, Athen 1989, S. 14.
[12] Vgl. zum Beispiel: Naši književnici i jugoslovensko duhovno jedinstvo, in: Rijec XXVII, H. 6, 14.02.1931, S. 1.
[13] Durkovic-Jakšic, Ljubomir, Jugoslovensko knjižarstvo 1918–1941, Belgrad 1979, S. 141–145.
[14] Siehe dazu Naši književnici i naši knjižari, in: Rijec. XXVII, H. 30, 01.08.1931, S. 1–2.
[15] Pandurovic, Sima, Jedan retrospektivan pogled, in: Misao, kniga XIX, sveska 3 (1925), S. 1246–1247.
Novakovic, Stojan, Srpska kniga, njeni prodavci i citaonici u XIX veku. Državna štamparija kraljevine Srbije, Belgrad 1900.
Popovic, Radovan, Kniga o Cvijanovicu. Poslovna zajednica izdavaca i knižara Jugoslavije, Belgrad 1985.
Starcevic, Velimir, Staro Srpsko knižarstvo, Belgrad 1997.
Ders., Kniga o geci konu, Belgrad 2009.
Velmar-Jankovic, Svetlana, Kniževnost izmedu dva rata, Bd. 1-2, Belgrad 21972.