Johanna (Eustachia) Boenke: Mehrjähriger Aufenthalt dreier Novizen in Helsingfors (1893)[1]
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[182] Mehrjähriger Aufenthalt dreier Novizen in Helsingfors
1. Berufung und Vorbereitung
Es war im Juli des Jahres 1877 als in Rössel, woselbst ich (der Name der Berichterstatterin ist die Novizin Eustachia Bönke) an der Schule thätig war, der Postbote eines Tages einen offenen Brief in das Kloster brachte, der zum Erstaunen aller das Geheimnis enthielt, daß ich mein heiliges Ordenskleid ausziehen und als weltliche Lehrerin nach Finnland auswandern sollte.
Zwar war vor zwei Jahren schon davon die Rede und da ich dazu von meinen lieben Vorgesetzten damals bestimmt war, mußte ich dieserhalb mein Haar wachsen lassen, welches jedoch vor der Abreise nach Rössel 1876 unter der Schere fiel. Von da an dachte ich nicht im entferntesten daran, jemals auswandern zu dürfen. Nun aber kam der oben erwähnte Brief, der sicher nur aus Versehen offen geblieben war und brachte die unerwartete Nachricht, daß ich binnen vier Wochen nicht nur das Heimatland und das liebe Klösterlein verlassen, sondern mich auch vom hl. Ordensgewande trennen sollte. Dank der göttlichen Gnade blieb ich ruhig und gefaßt bei dieser Nachricht und eilte zur Kapelle, um dem lieben Heilande das Opfer des Gehorsams darzubringen und um Segen und Kraft zu bitten. Der Brief enthielt außerdem fernere Unterweisungen zur
[183] Erlangung eines Reisepasses, daß, wenn es nicht anginge, durch den Herrn Bürgermeister einen zu erhalten, Schwester Oberin mir weltliche Kleider zu verschaffen und mit mir nach Bischofsburg fahren sollte, woselbst ich mir einen Paß vom Herrn Landrat besorgen sollte. Letzteres wäre sehr unangenehm gewesen, da ich in Bischofsburg, meiner Vaterstadt sehr bekannt war. Ich erhielt meinen Reisepaß auf ganz leichte Wiese durch den Herrn Bürgermeister Thara in Rössel und konnte nach Schulschluß am 28. Juli nach Braunsberg abreisen. Die Teilnahme der Schwestern an meinem außergewöhnlichen Loose war groß und der Abschied von Thränen begleitet. Zwei Schwestern begleiteten mich bis nach Korschen. Mit mir teilten dasselbe Loos Schwester Salesia Appelbaum und Schwester Ludwina Ehlert aus Braunsberg, die bei meiner Ankunft schon emsig mit der Besorgung der Aussteuer beschäftigt waren. Schw. Salesia und Ludwina hatten sich Pässe in Braunsberg besorgt. Eines Tages vertauschten sie den Habit mit einem weltlichen Kleide und begaben sich auch das Landratsamt, wo selbst man ihnen nach vielem Hin- und Herreden die Pässe gab. Ob andere Schwierigkeiten dabei waren ist mir weniger bekannt, aber das habe ich erzählen hören das beide, um nicht von ihren Schülerinnen,
[184] die eben aus der Schule kamen, erkannt zu werden, sich tief den Hut ins Gesicht gedrückt und für alle Fälle doppelt beschirmt hatten; denn den Nonnenschirm trugen sie selbst und der Regenschirm wurde ihnen nachgetragen oder umgekehrt. Immer näher rückte der 23. August, welcher Tag zu unserer Abreise bestimmt war. Am 17. August führ die liebe Würdige Mutter mit den Auswanderern nach Frauenburg, um uns dem Hochwürdigsten Herrn Bischof Philippus vorzustellen. Hochderselbe gab uns nebst dem hl. Segen noch heilsame Ermahnungen und jeder eine Philothea zum Andenken. Noch sind mir lebhaft die trefflichen Lehren des seligen Hochwürdigen Domdechanten Herrn Carolus im Gedächtnisse, festzuhalten an unseren heiligen Regeln u.s.w., so lange wir das thun, wird uns der Schutz Gottes nicht fehlen. O wie sehr hatte er recht. Besonders bemüht um uns war der Hochwürdige Herr Superior Grunenberg. Er hatte uns die ganze Reiseroute von Braunsberg bis Lübeck genau vorgezeichnet, beschrieben und auf alles aufmerksam gemacht. Sogar hatte er ein eignes Alphabet aus Buchstaben und Zahlen verfaßt, um in dieser Schrift sich gegenseitig Geheimnisse mitteilen zu können, die niemand zu lesen vermochte, als nur die Eingeweihten. Ein solches Alphabet hatt
[185] der Hochwürdige Herr Superior und ein zweites wir. Später haben wir davon Gebrauch gemacht und man war sehr gespannt auf die Nachricht, welche solche Stellen in besagter Schrift enthielten. Der 22. August war da und die lieben Vorgesetzten hatten alles zur Reise Notwendige und Angenehme eingepackt. Nachdem die liebe Würdige Mutter, Mutter Assistentin und Schwester Novizenmeisterin uns so manchen weisen Rat und gute Lehren gegeben, ebenso unsere Ämtchen insbesondere aufgetragen und mit Ausnahme Schwester Ludwina, welchen Namen sie behalten, unsere Namen in Taufnamen verändert hatten, also Salesia in Antonia und Eustachia in Johanna, mußten wie uns nach der geistlichen Lesung allen Schwestern, welche uns doch sehen wollten, im weltlichen Kleide vorstellen. In der Abendrekreation war ein Abschiednehmen ohne Ende. Unvergeßlich ist mir der Augenblick, in dem ich zum letzten Male meinen Schleier, Gürtel und Habit küßte und niederlegte. Es war mir, als riß ich Stücke vom eigenen Herzen los. Da stahlen sich auch ein paar Thränen aus den Augenwimpern heraus, denn bis dahin war ich unbegreiflicher Weise immer ganz ruhig und ergeben. Wir sollten etwas ruhen, jedoch an ein Schlafen war nicht zu denken. Nach Mitternacht machten wir uns reisefertig.
[186] Die liebe Würdige Mutter, welche nebst einigen Schwestern aufgeblieben war gab uns ihren mütterlichen Segen und nun gings in Begleitung des seligen Herrn Oberlehrers Arendt nach dem Bahnhofe. Schwester Ludwina sagte, es war ihr besonders schwer zu Mute, als sich die Klosterpforten hinter uns schlossen.
2. Reise nach Lübeck
Mit dem Jagdzuge fuhren wir um ½ 2 Uhr ab über Marienburge, Dirschau nach Kreuz. Weil wir nicht über Berlin, Hamburg fahren sollten, blieben wir daselbst einige Stunden und dann brachte uns der Zug über Schneidemühl nach Straßburg in Pommern, wir in einem Hotel übernachteten. Dr. Martin Luther, der über meinem Bette hing, mußte sich gefallen lassen, daß ich ihn für diese Nacht in einen Winkel plazierte. Die Lachmuskeln ziehen sich heute noch zusammen, wenn ich an die Fahrt vom Hotel bis an den Bahnhof denke. Ein kleiner schon sehr beladener Wagen, auf den auch unser Gepäck aufgetürmt wurde, wurde von einem alten, fast abgelebten verhungerten Schimmel gezogen. Hoch oben auf dem Gepäck saßen die drei bekannten schwarzen Genien und dazu noch zwei Herren. Schritt für Schritt ging der alte Schimmel mit der Last, seinen Kopf tief zur Erde gebückt, und uns war es, als säßen wir hoch auf eines Kameles Rücken. Wahrscheinlich war das die einzige Droschke, auf das alles Gepäck sämtlicher Reisenden der Stadt geladen war. Von Straßburg gings dann weiter durch
[187] Pommern, Mecklenburg-Strelitz, Mecklenburg Schwerin bis Lübeck. Nur in Stettin hatten wir einige Stunden Aufenthalt.
3. Aufenthalt in Lübeck
Es war Freitag, als wir in Lübeck ankamen. Wir suchten mit unserer Droschke, die diesmal sehr elegant war, fast eine Stunde lang im Hafen den finnischen Dampfer Storfursten gespr. Sturfürsten, d. i. Großfürst, das schönste und größte Passagierschiff von Helsingfors. Endlich fanden wir ihn. Der Kapitän desselben, Herr Oström war ein freundlicher Herr, diesem waren wir von Helsingfors aus durch den katholischen Kaufmann Herrn Jahnel empfohlen worden. Herr Oström nahm uns freundlich auf und obwohl, wie er sagte, es nicht erlaubt wäre, Passagiere einen Tag vorher auf dem Schiffe zu beherbergen, so machte er mit uns eine Ausnahme, indem er notwendigerweise vorgeben wollte, wir seien seine Bekannten. Freitag abends speisten wir mit den Schiffsherrschaften im Salon. Ehe wir ahnten, hatten wir Fleisch gegessen, es war nicht zu unterscheiden, ob es Fisch- oder Fleischspeisen waren. Die Nacht brachten wir in Kajüten der 1. Klasse zu. Sehr elegant und fein waren Kajüten und Salon ausgestattet. Sonnabend sobald das Schiffsbüreau geöffnet war, besorgte uns Herr Kapitän drei Billets 2. Klasse (à 57,25 M.) Sehr sonderbar kam es ihm vor, daß wir nicht Billets 1. Klasse kaufen wollten,
[188] da selbe nur ein paar Mark mehr kosteten und das Reisen 1. Klasse selbst bei Sturm günstiger und die Kajüten bequemer seien, wie er sagte. Doch wir hatten diese Weissung von Braunsberg und blieben bei der Wahl 2. Klasse. Die Schiffskost mußte noch extra bezahlt werden, gleichviel ob man etwas oder garnichts genoß. Für uns betrug das Kostgeld 63 M. Da entstand großes Herzeleid, da unser Portmonnaie eine Kleinigkeit über 30 M. enthielt. Wir konnten unsern Kummer dem fremden Mann doch nicht offenbaren und guter Rat war teuer. Nach vielem Hin- und Herdenken, Überlegen und Entschließen kamen wir zu dem Resultat, telegraphischer Weise in Braunsberg um 30 M. zu bitten. Es schmeckte uns das Essen kaum, wir kauften nichts, um keine Ausgabe zu machen und begnügten uns mit unserm Reisevorrate, der sich stark zu Ende neigte. Also machten wir uns, Schwester Salesia oder Antonia und ich auf und gingen auf das nächste Telegraphenbüreau, wo wir nach Braunsberg an den Herrn Superior depeschierten. Dann streiften wir die Stadt aus, um eine katholische Kirche zu finden, wo selbst wir dem lieben Heilande im Tabernakel unsere Verlegenheit vortragen und von ihm günstigen Ausgang des Telegramms erflehen wollten. Nach langem vergeblichen Suchen fanden wir eine verschlossene Kirche, nicht wissend, daß es eine protestantische war, verrichteten wir unsere Bitten vor der Pforte. Der liebe Heiland aber hats wohl gehört. Wir kehrten um und überließen alles der göttlichen Vorsehung. Auf dem Schiffe überlegten
[189] wir von neuem, was zu thun wäre, falls das gewünschte Geld nicht nachkäme. Verschiedenes wurde erwogen und wir kamen zu dem Entschluß, den Herrn Kapitän zu bitten, das Kostgeld erst nach der Ankunft in Helsingfors entrichten zu dürfen. Noch warteten wir mit Sehnsucht auf eine Depesche. Doch vergeblich war unser Hoffen. Es war ein Uhr und das Signal zur Abfahrt wurde gegeben. Allmählich setzte sich das Schiff in Bewegung. Zu dieser Zeit, so erfuhren wir später, sei das Telegramm wirklich angekommen, doch nichts durfte mehr nach dem Signal aufs Schiff noch vom Schiffe und die Geldsendung ging zurück. Mit schwerem Herzen thaten wir, was oben schon erwähnt und der Herr Kapitän war damit zufrieden.
4. Die Seereise
Die Schifffahrt ging anfangs ganz gut. Wir fühlten gar nicht, daß wir fuhren, so ruhig glitt das Schiff über die breite Trawe und aus dieser in die Ostsee. Bald verloren wir die Küste aus den Augen und sahen nur mehr Himmel und Wasser. Es war Abend geworden und nach einer kleinen Stärkung begaben wir uns zur Ruhe. Nach Mitternacht entstand ein großer Sturm und dieser brachte das Schiff ins Schwanken. Mit jeder Stunde nahm das Unwetter zu. Der Sturm heulte fürchterlich, er hatte das ganze Meer aufgeregt und der Storfursten schaukelte gewaltig. Längere Zeit schon fühlte ich die schaukelnde Bewegung, da es aber noch erträglich war, lag ich ruhig in meinem Hängebett. Als aber Schw. Ludwina anfing laut zu werden, zu jammern und zu klagen über Unwohlsein, da bewegte sich
[190] auch mein Inneres. Schw. Salesia beruhigte sie, indem sie sagte, es sei ihr auch unwohl und sie würde ihr Tropfen geben. Ich schwieg noch immer und wünschte mir, Schw. Ludwina möchte still sein. Es half nichts, Ludwina stieg aus ihrem Hängenetz, welches an der Wand der Kajüte befestigt war und verließ halb angekleidet die Kajüte. Schwester Salesias mütterliches Sorgen begann. Sie folgte Ludwina, welche oben auf dem Verdecke stand, sich über die Brüstung lehnte und in die Ostsee spie. Hier traf sie der Herr Kapitän, welcher mir den Worten: „Fräulein, hier sind sie in der größten Lebensgefahr,“ sie am Arm nahm und in Sicherheit brachte. Wo meine beiden Schwestern waren, wußte ich nicht, ich war noch immer in unserer Kajüte, welche sich am hintersten Ende des Schiffes befand. Mein Unwohlsein hatte sich gesteigert, und da ich es oben nicht mehr aushalten konnte, turnte ich herunter und lag am Boden, den Rücken angelehnt. Ich machte verschiedene Versuche, die Strümpfe anzuziehen, diese sowie das Oberkleid hatte ich abgelegt, doch vergebens. Alles im Innern bewegte sich gleich dem Schiffe auf und nieder, bald fiel ich nach vorn bald nach rechts oder links dazu kam das schreckliche Vomieren. Es mochten mehrere Stunden vergangen sein, immer noch lag ich machtlos am Boden und stöhnte und jammerte. Der Kapitän, der vollauf überall zu thun hatte, war mit einer Laterne eilig an die Thüre unserer Kajüte gekommen, öffnete sie halb und rief, ob noch jemand da sei. Weil es aber in meiner Ecke finster war und ich laut zu sprechen nicht vermochte, hatte er von mir nichts sehen und hören können, zumal
[191] das Gebrause und Getöse der Wellen und der heulende Sturm mein mühseliges Jammern weit übertönte. Gegen Morgen kam Schw. Salesia, wie sie mich ins Zwischendeck gebracht, weiß ich nicht. Hier in der Mitte des Schiffes hatte der Herr Kapitän auf den Kisten und Kasten aus Matten und Decken eine Lagerstätte herrichten lassen und sollten wir das Schaukeln hier am wenigsten spüren. Alle Passagiere und der größte Teil der Schiffsmannschaft war seekrank. Solchen Sturm, sagte der Kapitän, habe er bei seinen Reisen lange nicht gehabt. Schw. Salesia war zwar nicht seekrank, aber sehr unwohl und konnte ebenso wenig etwas genießen wie wir. Den Sonntag Vormittag brachten wir auf dem harten Lager zu. Einmal kam es mir ein, daß Sonntag wäre, aber ich war nicht im Stande, zu beten oder etwas Vernünftiges zu denken. Es war nicht zum Leben aber auch nicht zum Sterben. Für alles, was uns umgab, hatte ich kein Auge und Ohr. Nachmittag und nachtüber lag ich im Zwischendeck am Boden, den Kopf auf etwa ½ m. lange Eisenschwelle gelegt, die zwei Eisenblöcke verband. Ich fühlte nichts und konnte weder Hand noch Fuß rühren. Schw. Ludwina sah ich neben mir liegen und manchmal aufstehen und vomieren gehen. Meine Galle hatte ich schon längst der Ostsee übergeben. Ich mußte ruhig dulden, daß ein neben mir angeketteter Hund, der ebenfalls die Seekrankheit hatte, sich meines Rockes als Speinapf bediente und daß das Wasser,
[192] welches durch die Öffnungen drang, wenn das Schiff sich auf die rechte Seite legte mich bespülte, während von links immer der Hund auf mich fiel, da er sich auf seinen Vieren nicht halten konnte. Sein Gewinsel und Geheul gefiel mir auch nicht. Was aber war zu machen, ich konnte mich ja nicht regen, so schwach fühlte ich mich. Ich erinnere mich, daß ich dennoch alle meine Kräfte zusammennahm und den Hund mit dem linken Arm wegzuschieben versuchte, allein es blieb beim alten. Montag lagen wir wieder auf den Kisten immer wie im Schlafe. Erst nachmittags bemerke ich, wie Schw. Salesia bleich und krank aussah und nur so hin- und herwankte. Selbst sehr unwohl sorgte sie nur für uns. Auf ihr Zureden trank ich eine Tasse Kaffee, das erste, was ich seit Sonnabend Abend genossen und er schmeckte schon, Schw. Ludwina fastete noch immer. Nun fing ich an, mich zu erholen, der Appetit stellte sich ein. Der Sturm hatte von seiner Heftigkeit noch nichts nachgelassen und konnten wir das Schaukeln jetzt schon ertragen. Dienstag waren Schw. Ludwina und ich ganz wohl und spazierten gemütlich auf dem Verdecke oder sahen dem Treiben der turmhohen Wellen und tiefen Wasserthälern zu. Ein interessantes Schauspiel bot sich uns dar. Bald war das Schiff auf der Spitze eines hohen Wasserbergs, bald schien es von diesem bedeckt zu werden. Noch sahen wir nichts als Himmel und Wasser. Am Dienstage mittags etwas ein Uhr war ein Fahrzeug in Sicht und weil dies ein Spielball der Wellen zu sein schien, steuerte der Kapitän auf dasselbe zu. Storfursten erreichte es bald,
[193] und – o Jammer – ein schauerliches Bild bot das gerettete Fahrzeug dar. Es war ein altes morsches Segelschiff mit Holz geladen, dessen Mastbaum der Sturm gebrochen hatte und deshalb kein Segel aufgespannt werden konnte. Drei Männer, Ehsten, waren auf dem Schiffe, die den Leichen ähnlich aussahen. Furcht und Todesschrecken spiegelte sich auf ihren bleichen Gesichtern ab. So wurde ihnen von unserem Schiffe ein Tau zugeworfen, woran die Männer ihr Schiff befestigten. Nach einigen Augenblicken hatte das Tau die morschen Bohlen durchgerissen und das unglückliche Fahrzeug wurde von den Wellen so weit fortgetrieben, daß wir es kaum noch sehen konnten. Das geschah zwei Mal. Endlich gelang die Rettung vollends, und Storfursten brachte die Geretteten samt ihrem elenden Fahrzeuge in den Hafen von Reval. Ich weiß nicht mehr genau, ob es fünf oder acht Stunden waren, die der Kapitän mit der Rettung des Schiffes zubrachte. Später wurde ihm dafür eine Rettungsmedaille gesandt.
5. Die Ankunft in Helsingfors
Dienstag also um drei oder fünf Uhr sollte Storfursten in Helsingfors sein. Die Helsingforser hatten ihn mit Ungeduld erwartet; sie konnten sich sein langes Ausleiben nicht erklären. Auch die eingeweihten katholischen Herrschaften, die Wohlthäter unserer künftigen Anstalt, waren am Hafen, um uns zu begrüßen, sie mußten jedoch unverrichteter Sache heimkehren. Endlich abends um zehn Uhr gab Storfursten das Signal seiner Ankunft. Es war sehr dunkel und nur hin und wieder streifte das elektrische Licht über die
[194] Fluten. Wunderschön war vom Schiffe aus der Ausblick der erleuchteten Fenster mehrstöckiger längs des Hafens sich hinziehender Häuser. Am Hafen hatte sich eine große Menschenmenge versammelt. Das Schiffsbüreau war wegen der späten Abendstunde geschlossen und die Beamten waren nicht anwesend. Wäre der Grund des Verspätens ein anderer gewesen als die Rettung der drei Ehsten, so hätten wir alle noch nachtsüber auf dem Schiffe bleiben müssen, nun aber wurde die Landung gestattet. Es verging keine halbe Stunde und wir betraten den Boden unserer neuen Heimat. Rings um uns nur fremde Gesichter, und das Durcheinander der fremden, uns ganz unbekannten Sprache machte auf uns einen seltsamen Eindruck.
Aber wie wohltuend und darum unvergeßlich war der Augenblick, in welchem uns von einer Seite ein bekanntes „Gelobt sei Jesus Christus!“ erklang. Es war der Hochwürdige Herr Pastor Jedzink, der uns willkommen hieß. Mehrere Gönner und Wohlthäter bewillkommneten uns und besorgten das Gepäck vom Schiffe. Dann gings mit mehreren Jswoschtschiks (Droschken) nach einem Hotel, in dem eine deutsche Hausfrau waltete. Hier verblieben wir bis Sonnabend abends, weil die Schule noch nicht geräumt war. Schw. Salesia wurde nun ernstlich krank, so daß ärztliche Hilfe zugezogen werden mußte. In dem Arzte lernten wir unsern künftigen Schul- und Kirchenvorsteher kennen, den General Wirzbitzki, der damals noch Officier war. Frau Gauken, welche unsere zweite Mutter war, besuchte uns öfters. Den nächsten Tag suchte sich Schw. Ludwina die katholische Kirche auf, während ich bei Schw. Salesia den ersten
[195] Krankendienst übte. Donnerstag durfte ich mich Ludwina anschließen. Der Weg zur [Kirche] war weit. Aber wie erstaunt und überrascht waren wir, ein so schönes, rotes, massives Gotteshaus mit hellgrünem Zinkdache zu finden. Der Turm war vorn und enthielt den Haupteingang. Ueber demselben befand sich in einer Nische eine sehr große weiße Statue des hl. Heinrikus, des Kirchenpatrons, rechts und links schöne große Statuen der Apostelführer Petrus und Paulus. Einfach aber geschmackvoll und schön war das Innere der Kirche, besonders gefielen mir die schönen Gemälde der Seitenaltäre und die zahlreichen weißen Wachskerzen auf den Altären und vier große Kronleuchter. Hier im Gotteshaus fühlten wir uns ganz heimisch. Donnerstag war es auch, an welchem Tage wir hier zum ersten Male die hl. Sakramente empfingen.
Nach der Andacht führte uns der Hochw. Herr Pastor in seine Wohnung zum Frühstück. Sie war ein kleines Häuschen neben der Schule und ihr gehörig, etwa sechzig Schritt von der Kirche entfernt. Später besahen wir nur flüchtig die Räume des Schulhauses, auch wurden uns von Frau Emilianoff, die bis dahin in der Anstalt vorgestanden, die anwesenden Zöglinge vorgestellt, die mit Besorgnis für ihre Zukunft recht traurig dreinschauten. Außer der eben erwähnten Dame war noch ein Lehrer Wolff aus dem Ermlande an der Schule thätig. Frau Emilianoff versprach bis Sonnabend zwei Zimmer für uns zu räumen und dies geschah dann auch.
[196] 6. Einzug in die Schule
Also Sonnabend den 2. September nachdem auch Schw. Salesia wohler geworden, wurde der Einzug in Brunhus et No. 6 gehalten. Es war Abend und die Zeit zur Ruhe. Drei Lagerstätten waren für uns hergerichtet, bestehend aus einer Matratze, Kopfkissen und Wolldecke. Ich konnte mich gar nicht entschließen, hinzulagern, ernstlich hatte ich eine recht unsaubere Steppdecke und dann ein sehr mühseliges Kopfkissen. Es war ein Kleisack, faßte ich ihn an einem Zipfel, so fiel der schwere Inhalt in die entgegengesetzte Ecke. Längere Zeit saß ich auf der Bettkante, doch mit dem Gedanken, es sei noch sehr lange kein hartes Kreuzholz, legte ich mich nieder. Sonntag und Montag waren wir die Pensionäre der Frau Emilianoff, welche besonders neugierig war, zu erfahren, was wir für Geschöpfe wären. Unsere gleiche Kleidung spricht dafür, daß wir aus einem Kloster, also auch mit ihr verwandt wären, da sie ja auch in Deutschland in einem Kloster gewesen, um zu konvertieren. Eben weil nur konvertierte, um Brod zu haben, sich aber sonst um keine Christenpflicht gekümmert haben soll in den letzten Jahren und demgemäß auch die Kinder erzog, sollte sie aus der Schule entfernt werden. Es gefiel ihr durchaus nicht, daß wir sie verdrängten. Die Frau des Generalgouverneurs von Finnland, Gräfin Adlerberg, hatte dem Hochwürdigsten Herrn Bischof Philippus von Ermland um Schwestern für ihre Schule gebeten. Seine Bischöfl. Gnaden willfahrt ihrem Wunsche unter der Bedingung, daß ein ermländischer Priester dort angestellt werden sollte. Durch das Bemühen der hohen Frau beim russischen Hofe erhielt sie die Erlaubnis dazu, und im Jahre 1876 siedelte Herr Licentiat Jedzink hinüber. Nur an Stelle
[197] der Schwestern wurden wir unerfahrenen schwachen Geschöpfe erwählt und gesandt.
7. Der Anfang im neuen Heim
Endlich zog Frau Emilianoff aus; nun erst nahmen wir alle Räumlichkeiten und das Inventar in Augenschein. Es waren unten sieben Zimmer und die geräumige Küchenstube. Die obere Gelegenheit bewohnte ein Flottenofficier. Das schöne Möbel, herstammend vom früheren Herrn Pastor Glass (gegenwärtig in Wormditt) war gut erhalten. Besonders gefiel uns die reichhaltige Bibliothek, in der wir auch ein Exemplar unseres alten Regelbüchleins vorfanden. Das Haus mit braunem Oelanstrich war zierlich aus Holz gebaut und trug ein rotes Zinkdach. Oben und unten war vorn ein Balkon, der obere von Glasfenstern umgeben und von vier weißen Säulen getragen. Ein Blumen- und Gemüsegarten umgab das Haus.
Die ersten Tage wurde mit dem Reinigen und Ordnen zugebracht. Bis dahin existierte nur eine Schulklasse, wir richteten zwei ein. Zwei Zimmer wurden als Schlaf- und Wohnzimmer für die Zöglinge des Hauses bestimmt, (für die Mädchen, denn die Knaben schliefen von jetzt ab in der Behausung des Herrn Geistlichen) und die übrigen drei Zimmer bewohnten wir, sie waren ein Schlaf- Ess- und Sprechzimmer, welches zugleich unser Betsaal war, weil wir aus demselben die ewige Lampe in der Kirche schauen konnten. Die Anzahl der Zöglinge war anfänglich vier, sie mehrten sich aber mit der Zahl der Wohlthäter recht schnell. So daß
[198] [es] später zwanzig waren.
Die liebe Schw. Salesia, unsere Hauswirtin, hatte beim Beginne ihre Not. Sie sollte die Hungrigen speisen, doch womit? – Kaum hatte sie das notwendigste Kochgeschirr, noch viel weniger Speisevorrat. Was nun beginnen? Der Herr Pastor selbst nahm Kaffeebohnen mit, um sie bei der guten Familie Geuken in Tölö rösten zu lassen. Tölö war ein Stadtteil etwa zwei Werft von der Schule entfernt. Diese brave gut katholische Familie, der Hausherr, ein Zuckerfabrikant aus Holland, und die Frau eine Kölnerin, wurde des Wohltuns nie müde. Also die Bohnen kamen nachmittags an und konnten wir dann bald Kaffeetrinken. Aller Anfang war schwer; die ersten Monate mußten wir uns mit schmaler Kost begnügen, weil Schw. Salesia nicht wußte, wie lange sie mit dem ihr überreichten Gelde auskommen konnte und sollte.
Also Not und Armut war unser Anteil, dazu gesellte sich noch Leid. Schw. Salesia bekam einen bösen Finger, der ihr fast ein Vierteljahr große Schmerzen verursachte. Und dann die ungewöhnliche Kälte und keine Betten besitzen! Alles, was man von warmen Kleidungsstücken hatte, wurde zum Bedecken benutzt, bis im nächsten Frühlinge der Storfursten uns aus Braunsberg Betten brachte.
8. Schule und Unterricht
Ich kehre zurück zur Schule und will dann von unserer Tageordnung, Lebensweise und anderen Einzelheiten erzählen. Am ersten Sonntage wurde der Beginn des Schulunterrichts am 12. September von der Kanzel
[199] proklamiert. Anfangs erschienen dreißig oder vierzig Schüler und Schülerinnen, später wuchs die Zahl und stieg bis sechzig und darüber. Selbst protestantische und griechisch katholische Schüler und Schülerinnen traten aus ihren Schulen und besuchten unsere. Diese natürlich mußten mehr Schulgeld zahlen, vierteljährlich zwanzig Mark. Sie thaten es gerne, wenn sie nur Aufnahme fanden. Die katholischen Kinder zahlten auch etwas, so ungefähr fünf oder sechs Mark. Schw. Ludwina hatte etwa dreißig bis vierzig Kinder in der gemischten Unterklasse und ich zwanzig bis vierundzwanzig in der gemischten Oberklasse. Der Unterricht wurde in deutscher Sprache erteilt, doch waren wöchentlich je zwei Stunden Schwedisch, Russisch und in der Oberklasse auch Französisch. Die Umgangssprache in den Küstengegenden war die schwedische, tiefer im Innern die finnische. In Helsingfors wurde sowohl schwedisch als auch russisch und finnisch, von der hohen Welt französisch gesprochen. Es waren daselbst auch Deutsche aus dem Rheinland, Baiern und Böhmen. Wir lernten auch bald das Schwedische und habe ich in der letzten Zeit den Unterricht in dieser Sprache der kleineren Abteilung erteilt. Es kamen Kinder zur Schule, die drei bis vier Sprachen reden konnten und die vierte oder fünfte lernten. Die Schweden lieben den Gesang, singen gerne und auch gut, deshalb war es mir möglich
[200] viele schöne und zuletzt auch schwere Gesänge, deutsch und lateinische einzuüben und in der Kirche während der Andacht vortragen zu lassen.
Nebenbei bemerke ich, daß ich in der ganzen Zeit meines Aufenthaltes Organist der katholischen Kirche war, welcher Posten der Anstalt auch ein kleines Sümmchen einbrachte. Namentlich lockte der Gesang der Kinder viele laue Katholiken, zur Kirche, welche sich jahrelang nicht haben sehen lassen. Selbst Nichtkatholiken stellten sich regelmäßig zur Andacht ein. Oft flossen reichliche Gaben für die Kinder mit dem Bemerken, sie haben so schöne gesungen. In den Gesangstunden für die Schule wurden außer deutsch auch schwedische, finnische selbst russische Lieder gesungen, diese übte ich teils mit der Violine, teils mit dem Harmonium ein. Religion und schwedischen Unterricht erteilte Herr Pastor Jedzink, den russischen ein russischer Gymnasiallehrer. Die Kinder waren gehorsam, willig, sehr bescheiden und größtenteils fleißig. Ich kann mich nicht erinnern, daß ich in meiner Klasse habe körperliche Strafen anwenden müssen. Der Unterricht begann nach der Schülermesse, welche um acht Uhr stattfand und dauerte mit Einschluß einer halbstündigen Pause um zwölf Uhr bis drei Uhr. Vor und nach der Schule traten die Kinder ihrer Gewohnheit gemäß einzeln an die Lehrerin heran und begrüßten oder verabschiedeten sich auf das artigste, indem sie die Hand reichten, zur Prüfung durften auch ihre Eltern erscheinen.
Die Montage Juni, Juli und Auguste waren Ferien.
[201] 9. Tagesordnung und Lebensweise
Unsere Tagesordnung war folgende: Morgens fünf Uhr Aufstehen, da wir in der Zeit eine halbe Stunde voran waren, so begannen in Braunsberg unsre Schwestern ihre Betrachtung, wenn wir uns vom Schlafe erhoben; dann folgte die Toilette, die wegen des sehr kurzen Haares ziemlich lange dauerte. Eine frisierte die andere. Nach diesem kam das Morgengebet und die Betrachtung. Um acht Uhr war hl. Messe und nach dem Frühstück begaben wir und sofort in die Klassen. Der Unterricht dauerte bis zwölf Uhr und wurde nach Verlauf einer halbstündigen Pause, in welcher wir uns durch einen kleinen Imbiß stärkten und eine Viertelstunde auf die Gewissenserforschung verwendeten, fortgesetzt bis drei Uhr. Während der Pause überwachte der Pastor die Schulkinder, welche ihr mitgebrachtes sogenanntes Großfrühstück verzehrten und sich etwas erholten. Nach Schulschluß speisten die Kinder Mittag, dann erst hielten wir die Mittagsmahlzeit, was im Winter gewöhnlich bei Licht geschah, da das Tageslicht nur fünf bis sechs Stunden dauerte. Nach dem Essen wurde mit den Kindern regelmäßig ein Spaziergang in den ganz nahe gelegenen Brunspark oder auf die Felsenküsten des Meeres gemacht. Die Erholung der Zöglinge im Winter bestand im Schlittchenfahren, Schlittschuhlaufen und Schneeschuhgehen.
[202] Sonntag war der Mittag früher und weil die Vesper erst um fünf Uhr begann, konnten wir uns einen längeren Spaziergang erlauben, es wurden dann die schöne sehr saubere Stadt und ihre Anlagen und botanischen Gärten, die russischen, schwedischen- und deutschprotestanischen Kirchen besehen. Am Sonntage herrschte die größte Ruhe und Stille, da nichts gekauft oder verkauft wurde und sämtliche Läden der großen Seestadt tagüber geschlossen waren. Also nach der Vesper um sechs Uhr und nach dem Spaziergange am Wochentage war Vesperbrot, die geistliche Lesung wurde auf eine halbe Stunde ausgedehnt, da mittags die Tischlesung wegfiel; um sieben Uhr war ein gemeinschaftliches Rosenkranzgebet, wonach das Abendbrot der Kinder, ihre kleine Erholung und nach derselben Abendgebet und Ruhe erfolgten. Es war acht Uhr die Zeit unseres Abendtisches alsdann Rekreation bis neun Uhr, danach Gewissenserforschung, Betrachtung, Abendgebet und Schlafengehen um zehn Uhr. So glich ein Tag dem andern. Die Tischlesung am Abend aus der Heiligenlegende konnte ungehindert eingehalten werden. Die Tageszeiten beteten wir regelmäßig an allen Sonn- und Feiertagen. Kurz alles war gemeinschaftlich und wurde gehalten, wie wir es im Kloster gewöhnt waren. Die monatliche Geisteserneuerung, sogar die Exerzitien in den Ferien hielt der Hochw. Herr Pastor. Weil in der Kirche nur jeden andern Sonntag deutsche Predigt war, so gab uns unser Herr gast jeden Sonn-
[203] abend und Vorabend vor den Festen eine schöne für und unsere Verhältnisse passende Betrachtung. An den Geisterneuerungstagen vertrat uns der Herr eine Stunde in der Schule, hielt mit beiden Klasse Unterricht, damit wir gemeinschaftlich unsere Geistesübungen machen konnten, sodann hielt er uns am Nachmittage noch eine Erwägung und überwachte nach derselben noch einige Zeit die Kinder beim Lernen. Viel, sehr viel haben wir dem Hochw. Herrn Pastor zu verdanken, besonders da er auf Selbstüberwindung in jeder Beziehung das größte Gewicht legte. Da habe ich erst so recht kennenglernt, was es heißt, sich selbst überwinden und entschieden seinen Neigungen entgegentreten. Gott möge ihm tausendfach vergelten das Gute, das er an uns gethan!
Im Uebrigen waren unsre Ansprüche bescheiden, da wir uns einfach kleideten. Brauchten wir etwas so durften wir nur bitten und es wurde uns gegeben. Den großen Rosenkranz trugen wir unter dem Kleide und den ein wenig veränderten Habit im Winter. Besuche machten wir äußerst selten und auch nur unsern größten Wohlthätern, der Familie Geuken und Jahnel. Etwa drei- oder viermal haben wir in der ganzen Zeit unseres Aufenthaltes die edle Frau Gräfin besucht. Die liebenswürdige, hohe Dame war uns sehr geneigt und zugethan. Sie besuchte uns oft. Wir haben uns an ihrem sanften und liebevollen Wesen immer höchst erbaut. Auch in der Kirche gab sie das schönste Beispiel und
[204] war immer die Erste in der Sorge für die Armen und Notleidenden. […]
[1] Hausbuch des Jungfrauenconvents zu Braunsberg, Anno 1615 bis 1945, Archiv des Generalats der Kongregation der Schwestern von der hl. Katharina in Grottaferrata bei Rom (AGKath), S. 182–223, hier S. 182–204.