Europäisierung im spätosmanischen Südosteuropa. Von einer romantischen Idee zu rücksichtsloser Realpolitik[1]
Hannes Grandits
[Frühere Version des Artikels: 2010]
Imaginierung und konkrete gesellschaftliche Erfahrung lassen sich nicht immer eindeutig voneinander trennen. Auf den sogenannten „europäischen Orient“ bezogen gilt dies ganz besonders. Ohne hier schon in eine theoretische Reflexion einzusteigen[2] möchte ich mich gleich der ersten historischen Quelle zuwenden, an die dieser Essay anknüpft. Es ist eine Beschreibung des „Orients in Europa“ aus dem frühen 19. Jahrhundert, die mit ihrem exotisierenden Grundton typisch „westlich“ ist. Sie stammt von einem jungen englischen Gentleman namens Alexander William Kinglake. Seine Grand Tour führte ihn 1834 ins damals noch osmanische Belgrad, von dort weiter in die osmanische Hauptstadt Istanbul und in verschiedene andere Provinzen des Reichs im Nahen Osten. In dem abgedruckten Ausschnitt aus dem 1844 erschienen Buch mit dem Titel Eothen beschreibt Alexander Kinglake seine Ankunft vor den Toren der Stadt Belgrad.
Die ersten Menschen, die er dort nach der Überquerung des Flusses bei der Landung am Belgrader Ufer der Save antraf, waren Männer, die „echte, wahrhaftige, unverkennbare Turbane“ trugen und zur Bootsanlegestelle kamen, um ihm und seinen Begleitern das Gepäck hinauf in die Stadt zu tragen. Alexander Kinglake beschreibt die „ultra-türkisch aussehenden Kerle“ und „Gestalten in bedauernswerten Zustand“ mit deutlich herablassendem Ton. Trotzdem scheint er beeindruckt von diesen Männern „asiatischen Bluts“, und glaubt in ihren Gesichtern auch „Türken der stolzen alten Schule“ zu entdecken.[3] Hinterfragt man jedoch seine Beschreibung, trifft man auf einige Ungereimtheiten. Landete man nämlich in den 1830er-Jahren auf der Belgrader Seite des Save-Flusses, so wie Kinglake, betrat man die Stadt über die Sava-Kapija oder die Varoš-Kapija – also auf jeden Fall über die orthodoxen Viertel. Es können also nur serbische Lastenträger gewesen sein, die die Landung der Boote betreuten. Die muslimischen und jüdischen Mahallas lagen auf der entgegengesetzten Seite der Stadt. Auch der Verweis auf die Art der Barttracht der Männer macht es – nimmt man ethnografische Merkmale als Indiz – sehr wahrscheinlich, dass die Männer, die Kinglake beschreibt, nicht Türken oder Asiaten sondern einfache serbische Hafen- oder Gelegenheitsarbeiter waren.
Hätte Kinglake die Männer anders beschrieben, wenn er gewusst hätte, dass sie Serben waren? Anders als gegenüber Türken oder Muslimen herrschte nämlich gegenüber Serben in Europa zu dieser Zeit eine ausgesprochen positive Grundhaltung. Damals begann sich ein serbischer Staat in Form eines Fürstentums – noch innerhalb des osmanischen Staatsverbands – herauszubilden, was eine serbophile Haltung in der westlichen intellektuellen Öffentlichkeit verbreitete.[4] So widmete beispielsweise Leopold Ranke, einer der Gründerväter der modernen Geschichtswissenschaft, eigenen Angaben zufolge fasziniert von der dortigen Entwicklung, sein 1829 publiziertes Buch Die Serbische Revolution dem serbischen Aufstand gegen die osmanische Herrschaft.[5] Nicht nur in diesem Buch, sondern ganz generell wurde das seit Jahrhunderten bestehende osmanische Reich in Europa zunehmend als Problem angesehen. Der sogenannte Griechische Aufstand der 1820er-Jahre hatte eine schon zuvor im westlichen intellektuellen und politischen Diskurs bestehende polarisierende Betrachtungsweise verfestigt und spitzte von alters her gepflegte Alteritätsvorstellungen[6] aufs Neue zu – nun aber mit Bezug auf die „inneren Verhältnisse“ im Osmanischen Reich. Aus Sicht vieler europäischer RomantikerInnen kämpften in diesem Griechischen Unabhängigkeitskrieg die „Abkömmlinge des Perikles“ gegen „türkische Barbaren“, kämpften „alteingesessene Europäer“ gegen als fremd und „asiatisch“ empfundene Fremde. Dass in diesen Regionen vielerorts jahrhundertelang die verschiedensten ethnischen und religiösen Gruppierungen zusammengelebt hatten, interessierte nun niemanden mehr. Die Sichtweise brannte sich ins öffentliche Gedächtnis der Westeuropäer ein[7] und übertrug sich auf den angesprochenen serbischen Kontext.
Das Beispiel Kinglakes sollte zeigen, dass man als Fremde/r im Alltag vor Ort – im frühen 19. Jahrhundert wohlgemerkt – auf den ersten Blick nicht immer unterscheiden konnte, wer denn nun wer war, wen man als EuropäerIn erkannte und wen man sich als „fremd“ oder „asiatisch“ vorstellte. Aber die polarisierende Imagination hatte große Wirkungsmacht. Sie prägte im Laufe des 19. Jahrhunderts die Wahrnehmung der politischen Verhältnisse im osmanischen Südosteuropa, und die Kontrastierung von „europäisch“ versus „nicht-europäisch/orientalisch“ wurde immer stärker. Je mehr die räumliche Zugehörigkeit der südosteuropäischen Peripherie zu Europa (wieder-)entdeckt und rhetorisch bekräftigt wurde, desto klarer empfand man, dass die „nicht-europäischen“ Elemente nicht hierher passten. Dies tangierte auch die gesellschaftliche Realität vor Ort. Politische AkteurInnen von der osmanischen Reformbürokratie bis hin zu verschiedensten NationalistInnen sahen sich selbst und ihr Handeln in einem „europäischen“ Rahmen. Jedoch stellten sie die althergebrachten Mechanismen sozialer Integration immer mehr infrage. Ihr Ziel war es, dem Stigma der Rückständigkeit, die sie real erlebten und die als „orientalisch“ definiert wurde, zu entkommen – wenn es sein musste sogar mit Gewalt.[8]
Dieser Essay versucht, einen Eindruck von dieser „Verwestlichung“ bzw. Neuausrichtung hin zur Europäisierung zu vermitteln. Dabei müssen diese Prozesse als sehr widersprüchliche gesellschaftliche Entwicklungen betrachtet werden. Die Ambivalenzen sollen anhand von drei Fokussierungen exemplarisch behandelt werden. Es wird dabei zuerst um die reformorientierte Gleichbehandlungspolitik innerhalb des Osmanischen Reiches, die sogenannte Tanzimat gehen, sodann um die gleichzeitige Aufwertung des Konfessionellen als politischer Kategorie und schließlich um den Zusammenhang von Bildung und nationaler Ideologie.
Auftakt zu mehr Gleichheit der osmanischen Untertanen
Althergebrachtes Zugehörigkeitsdenken erachteten viele Bürokraten der Tanzimat, also jenes großen politischen Reformwerks, das im Osmanischen Reich im 19. Jahrhundert mit Eifer vorangetrieben wurde, immer wieder als ein Hindernis. Spätestens seit den 1820er-, 1830er-Jahren hatte sich bei den regierenden Eliten um den Sultan in Istanbul die Auffassung durchgesetzt, dass nur eine radikale Neudefinition des auf islamischen und traditionell gewachsenen Vorrechten basierenden Herrschaftssystems das Reich vor dem Untergang würde retten können. Ob man wollte oder nicht, musste eine Umgestaltung nach europäischem Vorbild erfolgen. Vom Sultan unterstützt wurde dieses Projekt mit großer Entschlossenheit angegangen. Unter Mahmud II. wurden ab Ende der 1820er-Jahre im staatlichen Dienst der Turban und die traditionelle Kleidung per Dekret abgeschafft und durch den Fes und europäische Uniformen ersetzt. Die französische Sprache wurde zumindest bei den gehobenen Eliten im Staatsdienst zunehmend zur Lingua franca und vieles andere mehr. Man könnte das Bild des mythologischen Tuba-Baums bemühen, der bekanntlich vom Himmel auf die Erde herunter wächst. Genau so sollte von oben herab Schritt für Schritt eine Modernisierung und Europäisierung, was durchaus als synonyme Entwicklungen gedacht wurde, die osmanische Gesellschaft voranbringen. Diese Modernisierung sah – dem Trend der Zeit folgend – unter anderem eine zunehmende Gleichstellung der gesamten Bevölkerung im Staate vor.
Diese neue Vorstellung von Gleichheit versuchte man der Bevölkerung auch in entlegenen und aus Istanbuler Sicht veränderungsunwilligen Provinzen wie jener Bosniens mitunter mit recht drastischen Mitteln klarzumachen. Der damals als Konsul für das Habsburgerreich in Sarajevo Dienst tuende Demeter Atanasković, der ohne Zweifel weit besser über innere Differenziertheiten innerhalb eines osmanischen städtischen Kontexts Bescheid wusste als der zuvor zitierte junge englische Reisende, beschreibt eine Maßnahme, die er 1851 in Sarajevo beobachtete. Hier hatte um die Jahrhundertmitte im Auftrag des Sultans der Offizier Omer Paşa Latas mit seiner Armee den Widerstand der einheimischen Agas und Beys gegen die Einführung von Tanzimatreformen gebrochen. Um den lokalen Eliten den neuen Zug der Zeit verständlich zu machen, ordnete Omer Paşa verschiedenste Maßnahmen an. Unter anderem im Juni 1851 die folgende, über die der vor Ort akkreditierte Konsul berichtet:
„[So melde ich], dass die Herstellung einer fahrbaren Strasse zwischen hier [Sarajevo] und Travnik in Angriff genommen wurde und mehrere hundert Menschen täglich daran arbeiten. Bis jetzt war wie üblich das Landvolk (Christen und Muhammedaner) dazu beordert. Gestern wurde infolge einer Anordnung des Omer Paša durch den öffentlichen Ausrufer verkündigt, dass auch die Bewohner dieser Stadt [Sarajevo], ohne Unterschied der Religion und des Standes, Christen, Muselmänner und Juden, Mufti so gut als der Bischof, der Beg, der Aga, der reichste Handelsmann und der ärmste Taglöhner, kurz jedes männliche Individuum im Alter von 10 bis 80 Jahren, mit alleiniger Ausnahme der Kranken und Krüppel, persönlich an jenem Straßenbau arbeiten müssen. Die Stellung eines Ersatzmannes ist nicht gestattet. Heute rückte in der Tat die Bevölkerung von 13 Stadtvierteln (deren es hier 122 gibt) mit Körben, Spaten und anderen Werkzeugen auf die Robot aus, welche so tourweise fortgehen wird. […] Diese unerwartete und ungewöhnliche Verfügung hat allgemeine Unzufriedenheit erregt. Man begreift ihre Veranlassung nicht und meint, dass Omer Paša mit der Ausdehnung des Gleichheitssystems zu weit gehe.“[9]
Die Nichtrespektierung bisher fest verankerter Stadt-Land sowie „ständischer“ und islamisch-konfessioneller Vorrechte rief vor Ort massive Unzufriedenheit und Unverständnis hervor. Mit der Zeit schwenkten die Behörden dann auch wieder auf einen pragmatischeren Umgang gegenüber bestehenden Differenzierungsansprüchen zurück. Dennoch: Das Streben, zumindest prinzipiell für alle Untertanen des Sultans eine gewisse Gleichheit vor dem Gesetz erreichen zu wollen, blieb. Nach dem Ende des Krimkriegs wurde als Vorbedingung des Pariser Friedens 1856 unter Sultan Abdulmecid das Hatt-ı Hümayun proklamiert, das unter anderem die prinzipielle Gleichstellung von NichtmuslimInnen mit MuslimInnen vor dem Gesetz noch einmal dezidiert betonte. Nach diesem berühmten Reformedikt kam hier auch im Alltag Einiges voran.
Tendenzen einer gleichzeitigen Re-Konfessionalisierung
Trotz der prinzipiell wohlmeinenden Absichten des von oben gelenkten Emanzipierungsprojekts sollte es heftige Rückschläge auf dem Weg zu mehr Gleichheit geben. Strukturell spielten dabei eine fast endemische Finanzschwäche des spätosmanischen Staates, seine damit einhergehende mangelnde „infrastrukturelle“ Gestaltungskapazität sowie ein nach innen beharrlich aufrecht erhaltener Steuerdruck (insbesondere auf die ländliche Bevölkerung) eine große Rolle. Vor diesem Hintergrund ließen dann soziale Konflikte und die – von „revolutionären“ Gruppen auch strategisch geplante – Eskalation von Gewalt, den Prozess einer innergesellschaftlichen Emanzipation vielerorts ins Stocken geraten. Gerade die Eskalation von Gewalt und ihre Deutung führten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einer Art Re-Konfessionalisierung, die die neue Gleichstellungspolitik ‚von oben‘ konterkarierte. Ein Beispiel soll helfen, diesen Gedanken zu veranschaulichen.
Bleiben wir dabei noch im bosnischen Vilayet und wenden wir uns seiner südlichen Grenze zu, die zwischen den Regionen Herzegowina und Montenegro verlief. Einige Jahre nach den oben beschriebenen Ereignissen in Sarajevo kam es in diesem herzegowinisch-montenegrinischen Grenzraum infolge einer Entwaffnungsaktion in der Bevölkerung durch die osmanischen Behörden zu Aufruhr. In dem heiklen Grenzgebiet, wo Konflikte von lokalen herzegowinischen Beys mit montenegrinischen Freischärlern von den Bergen Tradition hatten, entstand ein gewaltsamer Konflikt. Geführt von den orthodoxen Bischöfen von Cetinje (und unterstützt durch russische Interessenspolitik) hatte die orthodoxe Bevölkerung mehrerer montenegrinischer Gebirgsregionen in den Jahrzehnten zuvor weitreichende Eigenständigkeit innerhalb des osmanischen Herrschaftssystems gewonnen. Nun aber entsandten die osmanischen Behörden Militär, um einer zunehmend anarchischen Situation, wo marodierende Banden durch die Dörfer der ostherzegowinischen Grenzgegend zogen, Herr zu werden. Es kam zu einem Kleinkrieg an der Grenze und schließlich zu mehreren osmanischen Feldzügen gegen Montenegro. Bei einem dieser Feldzüge geriet im Frühjahr 1858 ein osmanisches Kommando in eine Falle. Ein großer Teil der osmanischen Soldaten wurde von montenegrinischen Milizen hingemetzelt. Vielen toten, aber auch lebenden, osmanischen Soldaten wie Angehörigen der sie begleitenden muslimischen Freiwilligen wurde von den montenegrinischen Kämpfern als Trophäe die obere Gesichtshaut einschließlich der Nase abgeschnitten. Der vor Ort in einer Sondermission anwesende osmanische Beamte Murad Efendi[10] war von dieser Praxis schockiert. Noch mehr verärgert war er, wie er später in einem Buch niederschrieb (dem die Auszüge des zweiten Quellenbeispiels entstammen, das diesen Beitrag umrahmt), von der gleichzeitigen Berichterstattung und Deutung dieser Schlacht in der europäischen Presse. Murad Efendi empörte es zum einen, dass man den Konflikt im herzegowinisch-montenegrinischen Raum ganz einfach auf einen Feldzug des Islam gegen das Christentum reduzierte, und zum anderen, dass man auch bewusst die angesprochenen Gräueltaten der Skalpierung osmanischer Soldaten durch die montenegrinischen Kämpfer publizistisch in der europäischen Presse völlig gegenteilig kolportierte. Hierzu schreibt er, um nochmals die zentrale Aussage seiner Beschreibungen zu betonen:
„Mir selber sind Opfer dieser kannibalischen Grausamkeit vor Augen gekommen – schreckliche Zeichen für die Bestialität, die dem Ebenbilde Gottes innewohnen kann, betrübende Beweise, wie Heuchelei und Phrase unerschüttert in der Welt herrschen. Man beansprucht für diese Stämme das Interesse Europas im Namen des Christentums und der Kultur! […] Das schlimmste hierbei ist die Lüge, mit welcher man diese Bestrebungen bemäntelt und die öffentliche Meinung Europas irre zu führen sucht, indem man den Kampf als einen Widerstand des Christentums gegen den Islam, als einen Feldzug der Kultur gegen die Barbarei darstellt.“[11]
In mehreren Regionen des spätosmanischen Südosteuropa (und zu diesen gehörte eben auch der hier thematisierte bosnische Vilayet) kam es infolge gewaltbedingter Destabilisierungen immer wieder zu sozialen Dynamiken, die innergesellschaftliche Abgrenzungen immens aufwerteten –und dabei insbesondere die konfessionellen. Die „europäische Meinung“, von der im Zitat die Rede ist, blieb nicht ohne Einfluss. Die Neigung der Großmächte, jeglichen Konflikt im osmanischen Südosteuropa letztlich auf einen Konflikt von „Christentum“ und „Islam“ zu reduzieren, förderte sogar vor Ort eine solche Interpretation. All dies führte dazu, dass auch die erwähnte gesellschaftliche Gleichstellungspolitik der osmanischen Tanzimatzeit zutiefst in konfessionelle Dynamiken verstrickt blieb.
Ein genauer Blick in die von Konflikten betroffenen lokalen Gegebenheiten zeigt jedoch, wie viel mehr sich dort abspielte und wie vielschichtig es war. Stets waren unterschiedliche Gruppeninteressen involviert: etwa jene muslimischer Notabeln und GroßgrundbesitzerInnen, städtischer HandwerkerInnen und HändlerInnen, der lokalen und regionalen Ulema oder des orthodoxen und katholischen Klerus, oder auch jene osmanischer Bürokraten und Militärs, vor Ort stationierter Konsuln der Großmächte, muslimischer und christlicher Dorfbevölkerungen, nomadischer ViehzüchterInnen, wenn nicht sogar in Illegalität lebender Outlaws. Angehörige der genannten Gruppen agierten aus der reellen Furcht, Opfer der Verhältnisse zu werden, versuchten drohende ökonomische, soziale oder politische Verluste abzuwenden oder im Gegenteil aus der Situation Vorteile zu ziehen. Dabei vollzogen sich recht komplexe soziale Dynamiken und Zweckbündnisse. Darin war auch viel Gegenläufiges, das sich bei genauerer Betrachtung so überhaupt nicht in das von außen übergestülpte Bild des konfessionellen Konflikts fügt.[12]
Es wird in der zukünftigen Forschung nötig sein, noch viel systematischer eben auch auf diese anderen, jenseits der „konfessionellen Dimensionen“ bestehenden Interessen der involvierten Menschen und Gruppen zu blicken (auch bei Untersuchungen über die im Laufe des 19. Jahrhunderts entstandenen post-osmanischen Staaten wie Griechenland, Serbien oder Bulgarien, wo eine Konfessionalisierung von führenden Eliten oft dezidiert propagiert wurde). Nur so lässt sich verstehen, wie die gleichzeitig mit den angesprochenen Konfessionalisierungstendenzen angelaufene Europäisierung der spät- oder postosmanischen Verhältnisse subjektiv von den Menschen in ihrer Lebenswelt erfahren wurde.
Europäische Bildung als nationale Mobilisierung
Bleiben wir bei dieser Erfahrung von Europäisierung. Das im Folgenden etwas näher betrachtete Beispiel der Stadt Monastır (das heutige Bitola) im gleichnamigen westmakedonischen Vilayet soll einen Eindruck davon vermitteln, unter welchen Vorzeichen sich eine so komplexe Gemengelage in einem spätosmanischen Kontext gegen Ende des 19. Jahrhunderts entwickeln konnte. Der Bereich, der dies besonders gut veranschaulicht, ist das Schulwesen, in dem „europäische“ Unterrichtsformen und -inhalte als „Orientierung am Westen“ greifbar sind.[13]
Man ist rückblickend erstaunt, welch entwickelte Schulinfrastruktur es an der Wende vom 19. auf das 20. Jahrhundert in dieser multikonfessionellen und mehrsprachigen osmanischen Kleinstadt von damals etwa 45.000 EinwohnerInnen gab. Sehr detailliert hat dies der französische Historiker Bernard Lory rekonstruiert.[14] So gab es in der Stadt neben den traditionellen islamischen Schulen der Grund- und Sekundarstufe, den Mektebs und Medresen, auch ein angesehenes weiterführendes staatliches Schulwesen. Die Rüşdiye, eine Mittelschule, und insbesondere die sogenannte Idadiye von Monastır, eine daran anschließende dreijährige weiterführende höhere Lehranstalt, genossen damals hohes Ansehen. Stolz ist man heute noch, dass Mustafa Kemal Atatürk einst Absolvent der Idadiye von Monastır gewesen ist. In der Stadt gab es zudem eine für die damalige Zeit unglaubliche Anzahl weiterer nicht-staatlicher, kommunaler und privater Schulen: elf griechische, dreizehn bulgarische, drei jüdische, sowie je eine aromunisch-rumänische, eine serbische und eine protestantische Schule, später kam noch eine albanische hinzu. In den meisten hier genannten Schulen war der Schulbesuch frei, es herrschte ein regelrechter Kampf um SchülerInnen bzw. um ihre Eltern. Die Finanzierung dieser privaten Schulen wurde zu einem Großteil aus dem Ausland, etwa aus Griechenland, Bulgarien, Serbien oder Rumänien getragen.
Man könnte hier noch weiter in die Details gehen. Aber allein die große Anzahl von unterschiedlichen Schulen in einer Stadt von kaum 50.000 EinwohnerInnen lässt erahnen, worum es ging: Die Bevölkerung sollte sich auf ihre Nationalität besinnen – und dabei hatten Sprache und Ethnizität noch größere Bedeutung als Religion. Für viele BewohnerInnen der Stadt war das nicht einfach, denn Mehrsprachigkeit war auf der Çarşı, dem Geschäftsviertel (dem über Jahrhunderte entscheidenden Ausbildungsort für das berufliche Leben), die Regel gewesen. Um orthodoxe SchülerInnen warben, um ein Beispiel zu nennen, griechische, bulgarische, serbische oder rumänische Schulen. So war es durchaus üblich, dass SchülerInnen in der Zeit des sich nationalisierenden Schulwesens unterschiedliche Schulen (mit unterschiedlichen Unterrichtssprachen) besuchten, um sich mehrere Optionen für die Zukunft offen zu halten.
Unter den SchülernInnen, die eine Schulkarriere durchlaufen hatten, in der die Vermittlung von Wissen eher eine untergeordnete Bedeutung im Vergleich zur Stärkung eines nationalen oder gar revolutionären Bewusstseins hatte, entstand eine sich radikalisierende Szene. Die folgende Tagebuchnotiz eines damaligen Schülers vermittelt einen Eindruck davon. Es handelt sich hier um einen Jugendlichen, der sich mit ganzer Leidenschaft der revolutionären sogenannten Inneren Makedonischen Befreiungsfront anschließen wollte. Er schreibt darüber und über seine Schule und Lehrer:
„Wir sind mit unseren Lehrern immer in Kontakt. Wir sind ihre Kameraden. Wir besuchen sie sonntags, rufen sie bei den Vornamen, rauchen mit ihnen und füllen sogar unsere Tabaksbeutel mit ihrem Tabak. Wir sind stolz, so immens stolz, dass sie uns als Erwachsene behandeln, als Revolutionäre, als Waffenbrüder. […] Wir wissen, dass ein Revolutionär so etwas wie ein Asket sein muss, der jeden Komfort, jedes persönliche Glück von sich weist. Als solcher wird keiner von uns jemals heiraten und eine Familie gründen. Keiner von uns wird Mazedonien je verlassen, keiner je seine Ausbildung außerhalb des Landes fortführen. Jeder der heiratet, der Mazedonien verlässt oder sich an einer Universität einschreibt, wird als Feigling, als Verräter betrachtet. Mazedonien kann nicht warten; braucht solche nicht, die ein Universitätsdiplom als wichtiger als die Freiheit erachten oder die es für eine Liebe betrügen. In unserem Lehrer Dame Gruev sehen wir das Modell des Selbstverzichts, sehen in ihm den Hohepriester Mazedoniens, die Inkarnation eines revolutionären Asketen.“ [15]
Liest man diese Zeilen, so liegt die Vermutung nahe, dass gerade das Schulwesen die AkteurInnen hervorbrachte, die später die komplexe städtische Kultur Monastırs in der spätosmanischen Reformepoche unterhöhlten und zerstörten. Auf gewaltsame Weise entlud sich während der tragischen Balkankriege von 1912/13 der aufgestaute Hass.
Ausblick
Europäisierung war und blieb unstrittig das Leitbild – anfangs als Imaginierung und diskursive Praxis, später zunehmend als zentrales Argument für eine neu zu schaffende und als zeitgemäß erachtete politische Realität. Zwischen den 1830er-Jahren und der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert wurden die gesellschaftlichen Zugehörigkeiten in weiten Teilen Südosteuropas neu ausgerichtet. Es hatte dabei zunächst ‚von oben‘ einen Vorstoß zu mehr Gleichheit für eine bis dahin konfessionell wie ständisch unterschiedlich gestellte Bevölkerung gegeben. Dann aber kam es infolge zunehmender gewaltsamer Konflikte auch zu einer Re-Konfessionalisierung des gesellschaftlichen Alltags. Schließlich gewannen über die Mobilisierung von Ethnizität und Sprachzugehörigkeit vor allem nationale Grenzziehungen schicksalhafte Bedeutung.
Parallel dazu verschärfte sich die westliche Haltung zum sogenannten „Orient in Europa“. Mit dem ausgehenden 19. Jahrhundert wurde dieser „Orient“ von der Politik der europäischen Großmächte, die sich immer vehementer einem globalen Imperialismus verschrieb, symbolisch wie reell als nicht weiter erwünscht deklariert. Die Formierung der post-osmanischen Nationalstaaten Südosteuropas wurde durch die Großmächte ermöglicht, und sie machten sich danach an seine symbolische Eliminierung. Die systematische Entorientalisierungspolitik betraf alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens: Vielerorts wurde der neue Boulevard über den ehemaligen Basar gebaut,[16] in der offiziellen Geschichtsschreibung wurde die osmanische Vergangenheit verteufelt, bald ganz ausgeblendet, Sprachen wurden von orientalischen Ausdrücken gereinigt. Begleitet wurde all dies mit der zunehmenden sozialen Ausgrenzung, der partiellen Vertreibung und vielfach auch der physischen Eliminierung der als „nicht-europäisch“ definierten muslimischen Bevölkerung – Letzteres insbesondere in den Kriegen von 1877/78, den Balkankriegen von 1912/13 und im Ersten Weltkrieg. Überdies wurden viele Angehörige anderer Gruppierungen, die nicht in den jeweils angestrebten nationalstaatlichen Entwurf passten, Opfer von massiver Gewalt und Vertreibung, die von den osmanischen Armeen und Milizen ausging, die gegen den staatlichen Kollaps rekrutiert worden waren. Europäisierung und Entorientalisierung gingen oft eine unheilvolle Allianz ein, deren wechselvolle Geschichte noch ausführlich zu schreiben wäre.
[1] Essay zu den Quellen: Berichte aus Südosteuropa (1844/1877): Alexander William Kinglake, Eothen. Traces of Travel Brought Home from the East (1844); Murad Efendi, Türkische Skizzen. Erster Band. Türkische Fahrten, (1877). Essay und Quellen sind in einer früheren Fassung online erschienen im Themenportal Europäische Geschichte, URL:www.europa.clio-online.de/essay/id/fdae-1519.
[2] Was eine Imaginierung des Balkans im 19. Jahrhundert betrifft, hat die Arbeit von Maria Todorova nach 1997 eine recht fruchtbringende Theoriedebatte angestoßen. Vgl. Todorova, Maria, Imagining the Balkans, New York 1997.
[3] Kinglake, Alexander William, Eothen. Traces of Travel Brought Home from the East, New York 2005 (Originalausgabe London 1844), S. 1–4. Übersetzung von H.G.
[4] Vgl. Sundhaussen, Holm, Geschichte Serbiens. 19.–21. Jahrhundert, Wien 2008, S. 70–71.
[5] Ranke, Leopold, Die serbische Revolution. Aus serbischen Papieren und Mittheilungen, Hamburg 1829.
[6] Vgl. hierzu etwa den Essay von Pohlig, Matthias, Orientalismus in Fässern. Europa und die Türken um 1700, in: Themenportal Europäische Geschichte (2009), URL: http://www.eur-opa.clio-online.de/2009/Article=337 (20.01.2020).
[7] Vgl. hierzu etwa Deringil, Selim, The Turks and „Europe“: The Argument from History, in: Middle Eastern Studies 43 (2007), H. 5, S. 709–723; Kitromiledes, Paschalis M., Imagined Communities and the Origins of the National Question in the Balkans, in: ders. (Hg.), Enlightenment, Nationalism, Orthodoxy. Studies in the Culture and Political Thought of Southeastern Europe (Variorum Collected Studies Series; 453), Aldershot 1994, S. 149–192.
[8] Vgl. hier die von Jörg Baberowski bezogen auf das Zarenreich formulierten Ideen über Modernisierungsansprüche und die Anwendung von Gewalt. Vgl. Baberowksi, Jörg, Diktaturen der Eindeutigkeit. Ambivalenz und Gewalt im Zarenreich und in der frühen Sowjetunion, in: ders. (Hg.), Moderne Zeiten? Krieg, Revolution und Gewalt im 20. Jahrhundert, Göttingen 2006, S. 37–59.
[9] Gavranović, Berislav, Građa Bosna i Hercegovina od 1853.–1870. godine (Naučno društvo NR BiH. Građa. Knjiga VIII. Odjeljenje istorisko-filoloških nauka knjiga 2), Sarajevo 1956, S. 326–327, Übersetzung von H.G.
[10] 1858 kam Murad-efendi als persönlicher Sekretär des Leiters einer offiziellen Sonderkommission der Hohen Pforte Kemal-efendi zur Untersuchung von Aufständen im herzegowinisch-montenegrinischen Grenzraum in den herzegowinischen Sandschak. Vgl. zur Person Murad-efendis, dessen ursprünglicher Name Franz von Werner war und der, als er in den osmanischen Staatsdienst aufgenommen wurde, auch zum Islam übertrat, etwa Šehić, Zijad, Prilog prošlosti Hercegovine XIX stoljeća – sjećanja Murad-Efendije iz Hercegovine, in: Hercegovina. Časopis za kulturno i historijsko naslijeđe. Br. 11–12, Mostar 2000, S. 105–122 oder Šarić, Salko, Austrijski književnik i diplomat u službi otomanskog carstva Murad Efendi u Mostaru 1858. godine, in: Most. God. XXV. Br. 110–111, Mostar 1999, S. 85–87.
[11] Efendi, Murad, Türkische Skizzen. Erster Band. Türkische Fahrten, Leipzig 1877, S. 155.
[12] Vgl. hier ausführlicher am Beispiel einer spätosmanischen Region Südosteuropas Grandits, Hannes, Herrschaft und Loyalität in der spätosmanischen Gesellschaft. Das Beispiel der multikonfessionellen Herzegowina, Wien 2008.
[13] Die in den Schulen gelehrten Fächer oder die Form der Curricula machen bewusst, welcher Sprung ins Neue damals vielerorts angegangen wurde. Wie Studien zeigen, blieb das Bildungswesen im Osmanischen Reich in der Alltagsrealität aber recht komplex – zudem aber auch verwoben mit gewachsenen Vorstellungen von sozialer, religiöser oder ständischer Differenzierung. Siehe in diesem Zusammenhang ausführlicher Fortna, Benjamin, Imperial Classroom. Islam, the State, and Education in the Late Ottoman Empire, Oxford 2002.
[14] Lory, Bernard, Schools for the Destruction of Society: School Propaganda in Bitola 1860–1912, in: Clayer, Nathalie; Grandits, Hannes; Pichler, Robert (Hgg.), Conflicting Loyalties in the Balkans. The Great Powers, the Ottoman Empire and Nation-Building, London (i.E.).
[15] Siljanov, Hristo, Pisma i izpovedi na edin četnik, Sofia 1984 (Erstauflage 1927), S. 24–26, Übersetzung von H.G.
[16] Wie zum Beispiel in dem eingangs betrachteten Beispiel von Belgrad. Siehe hierzu die Arbeit Mišković, Nataša, Basare und Boulevards. Belgrad im 19. Jahrhundert, Wien 2008.