„[…] die mir in warheit recht sbanisch ist vorkommen.“ Interkulturelle Hermeneutik auf der Schwelle nach Übersee (1749).[1]
Von Thomas Schader
Der Jesuitenorden gilt als einer der ersten Global Player der Frühen Neuzeit. Ausschlaggebend für die weltweite Ausrichtung der Gesellschaft Jesu war ihr missionarisches Engagement in den für Europa unbekannten Gebieten jenseits der Ozeane. Vor allem im Patronat der spanischen Krone, in Teilen des heutigen Lateinamerikas und des Westpazifik, war der Orden aktiv. Im Laufe des 17. Jahrhunderts stieg die Nachfrage nach Missionaren aufgrund der expandierenden Missionsgebiete stetig an. Waren die Missionen in Übersee lange Zeit fast ausschließlich geistlichen Untertanen der spanischen Krone vorbehalten, so lockerten sich die Beschränkungen allmählich, und der Ruf nach Übersee erreichte auch die Territorien des Heiligen Römischen Reiches. Im Verlauf des 18. Jahrhunderts verließen hunderte Jesuiten aus Assistentia Germania ihre Heimat, um in den spanischen Kolonien zu missionieren.[2]
Die Reise der zentraleuropäischen Jesuitenmissionare in die Neue Welt war eine Unternehmung voller Risiken, Unwägbarkeiten und Verzögerungen. Der Weg nach Übersee führte sie zunächst über das Mittelmeer nach Spanien. Dort angekommen, waren sie gezwungen, oft längere Zeit in den andalusischen Hafenstädten Sevilla, Cádiz oder El Puerto de Santa María zu warten. Einmal jährlich liefen die königlichen Flotten in die überseeischen Provinzen aus, doch konnten sich die Abfahrtstermine aufgrund von Verspätungen, Unwettern oder politischen Spannungen um Jahre hinauszögern. Die internationale Ausrichtung sowie das globale Engagement der Gesellschaft Jesu verlangte von den Missionaren, sich immer wieder auf ganz unterschiedliche kulturelle Kontexte einzulassen, um „zur größeren Ehre Gottes“ den christlichen Glauben in die letzten Winkel der Welt zu tragen. Kulturelle Differenzerfahrung gehörte zum täglichen Brot der Missionare, ob sie nun unter den Moxos in Peru, den Sáliva an den Ufern des Orinoco oder den Guaraní in Paraguay den „Weinberg des Herrn“ bestellten. Doch bereits am Rande Europas, während der Wartezeit in Spanien, kam es zu verschiedenen Formen des Kulturkontaktes, stellte die Iberische Halbinsel doch für die Überseekandidaten zentraleuropäischer Provenienz grundsätzlich kulturelles Neuland dar.
Als Teil einer größeren Studie, die sich der Lebenswelt der zentraleuropäischen Überseekandidaten im „Warteraum Andalusien“ widmet, möchte ich in diesem Essay das kulturelle Wissen der wartenden Missionskandidaten in den Blick nehmen und danach fragen, wie sie die angebliche kulturelle Andersartigkeit Spaniens wahrnahmen, deuteten und reproduzierten. Der Brief vom 4. Juli 1749 aus der Feder des bayerischen Überseekandidaten Anton Maria Bentz S. J. (1716-1766) eignet sich insofern gut als Quelle, als er stellvertretend für viele andere Briefe aus jesuitischer Feder interessante Einblicke in das hermeneutische Verfahren im Umgang mit der spanischen Kultur gewährt. Von Bentz sind aus jener Wartezeit in Spanien sechs Briefe erhalten. Diese werden im Bayerischen Hauptstaatsarchiv in München (BayHStA) verwahrt. Fünf sind an seine Familie adressiert, der vorliegende Brief richtet sich an einen befreundeten Ordensbruder unbekannten Namens in der oberdeutschen Heimatprovinz.
Hinter Pater Anton Maria Bentz lag ein recht gewöhnlicher Lebensweg für einen angehenden Überseemissionar der Gesellschaft Jesu. Im Jahr 1716 im bayerischen Dillingen geboren, ging er mit 16 Jahren nach Landsberg am Lech, um dort das Noviziat zu beginnen. Die oberdeutsche Ordensprovinz beherbergte in Landsberg ein Noviziat speziell für zukünftige Überseemissionare. Obgleich die Kandidaten im Laufe des 18. Jahrhunderts immer jünger wurden und bereits als Novizen den Ruf nach Übersee erhielten, musste sich Bentz einige Jahre gedulden. Nach seiner Priesterweihe unterrichtete er unter anderem in den Kollegien in Konstanz, Luzern und Feldkirch, bevor er den positiven Bescheid auf sein Bewerbungsschreiben erhielt und sich Anfang des Jahres 1749 über Genua auf den Weg nach Cádiz machte. Zu diesem Zeitpunkt war Anton Maria Bentz 32 Jahre alt.[3]
Pater Bentz kam Ende April mit seinen Gefährten in Cádiz an. Die Fahrt über das Mittelmeer hatte er gut überstanden. Nach der notwendigen Quarantäne, die alle Passagiere durchlaufen mussten, die über das Meer in Spanien ankamen, ging es für Bentz weiter nach El Puerto de Santa María, eine kleine Hafenstadt in der Bucht von Cádiz.[4] Die Gesellschaft Jesu verteilte die ausländischen Missionskandidaten grundsätzlich auf die verschiedenen Niederlassungen der andalusischen Provinz. Pater Bentz verbrachte in El Puerto de Santa María nahezu ein Jahr, bis er sich mit seinen Gefährten auf den Weg nach Mexiko machen konnte. Der Grund für die Verzögerung lag in der Zunahme der politischen Spannungen zwischen Spanien und England. Mit dem Ende des Spanischen Erbfolgekrieges war England zur dominanten Seemacht im westlichen Mittelmeer geworden. Die britische Navy kontrollierte von Gibraltar aus den dortigen Schiffverkehr und verhinderte immer wieder, dass die spanischen Galeonen nach Übersee auslaufen konnten. Die Beamten des spanischen Handelshauses der Casa de Contratación hatten die Missionare um Pater Bentz bereits registriert, doch kam vom königlichen Hof in Madrid unerwartet die Nachricht, dass man in der derzeitigen Situation ungern so viele deutsche Patres ausreisen lassen wolle. Die Missionare aus den deutschen Ordensprovinzen wurden grundsätzlich als vertrauenswürdig eingestuft, dennoch führte die spanische Krone eine restriktive Migrationspolitik und legte immer wieder Quoten fest, um den Anteil ausländischer Missionare in den Überseegebieten möglichst niedrig zu halten.[5] Trotz der Kontrollen erreichte das Engagement der deutschen Ordensassistenz in den Jahren 1749/50 einen Höhepunkt. Dementsprechend groß war auch das Misstrauen, das ihr die spanischen Behörden entgegenbrachten.[6]
Trotz politischer Bedenken konnten die Missionare um Pater Bentz Mitte Juni des darauffolgenden Jahres in See stechen. Bis dahin mussten sie sich die Zeit vertreiben. Die ausländischen Überseekandidaten sollten während des Aufenthalts in Spanien vorrangig die spanische Sprache lernen. Der rasche Spracherwerb war für die zukünftigen Missionare unabdingbar, da das Spanische im Sinne Antonio de Nebrijas als compañera del imperio, als Begleiter des spanischen Weltreiches, fungierte und in den Überseegebieten als Amts- und Alltagssprache diente.[7] Zudem beklagten die deutschen Missionare des Öfteren, dass unter den spanischen Brüdern das Lateinische wenig verbreitet und der Gebrauch des Deutschen unerwünscht sei. Bentz widmete sich unmittelbar nach seiner Ankunft in El Puerto de Santa María dem Studium des castellano. Dafür unternahm er zusammen mit einem Ordensbruder eine kurze Sprachreise in das andalusische Umland. Der schnelle Erwerb der Sprache ermöglichte es den ausländischen Missionskandidaten, sich unter der spanischen Bevölkerung karitativ zu engagieren. Dies wurde ihnen von Seiten der Ordensleitung grundsätzlich erlaubt, vorausgesetzt, sie schonten ihre Kräfte für die anstehende Reise. Je nach Sprachkenntnissen und individuellen Fähigkeiten führten die Missionare die üblichen Dienste am Nächsten fort, indem sie sich etwa um Kranke, Arme und Gefangene kümmerten, als Katecheten, Beichtväter oder Volksmissionare tätig wurden oder vor der Stadtgemeinde die ein oder andere Predigt hielten.
Pater Bentz engagierte sich vor allem in der Krankenseelsorge. Das andalusische Klima, die ungewohnte Kost und vereinzelt grassierende Seuchen führten dazu, dass einige Missionskandidaten in Spanien schwer erkrankten. So waren Koliken und Diarrhö keine Seltenheit. Halfen gängige Heilungsmethoden wie Aderlass oder Schröpfen nicht, griffen die Missionare gerne auf alternative Praktiken zurück, die heute seltsam anmuten. Pater Bentz berichtet sehr anschaulich davon, wie er mit einer Handvoll Graberde des Heiligen Nepomuk Krankheiten kurierte, oder etwa, wie sein Gefährte Pater Franz Inama nach einem Gelübde auf den Heiligen Aloysius von starkem Fieber befreit wurde und bald wieder die Messe lesen konnte. Vereinzelt kam es vor, dass ausländische Missionskandidaten in Spanien ihr Grab fanden, ohne je einen Fuß auf amerikanischen Boden gesetzt zu haben. Ferner beschloss die Ordensleitung, einzelne Missionskandidaten aus gesundheitlichen Gründen wieder in die Heimat zurückzuschicken, so im Fall des böhmischen Missionskandidaten Pater Richter. Dieser war, so Bentz, kurz nach seiner Ankunft in Cádiz schwer an Tuberkulose erkrankt und musste Spanien nach kurzer Zeit wieder verlassen.
Während etliche Missionare den Aufenthalt in Spanien beklagten, erging es Pater Bentz nach eigenen Aussagen recht gut. Weder die andalusische Hitze noch das ungewohnte Essen scheinen ihm viel ausgemacht zu haben. Besonders die Unterkunft der Missionare gefiel Pater Bentz. Die Gesellschaft Jesu besaß in El Puerto de Santa María seit 1735 eine Herberge, die speziell für die zukünftigen Überseemissionare gebaut worden war. Das Hospicio de Indias war sehr geräumig und bot mehr als 180 Personen Platz. Die Herberge befand sich unmittelbar am Ufer, und aus ihren Türmchen hatte man einen weiten Blick über die Bucht von Cádiz. Wie Bentz erwähnt, war es „unser tägliche sehr vergnügliche recreation“, den Schiffen beim Ein- und Auslaufen zuzusehen. El Puerto de Santa María, oder einfach El Puerto, hatte lange Zeit zum Herzogtum Medinaceli gehört, bis es im Jahr 1729 Teil der spanischen Krone wurde. Für Bentz gehörte El Puerto zu den schönsten Ortschaften, die er in Spanien gesehen hatte. Sein Augenmerk richtete sich besonders auf die Gassen; er zeigte sich darüber verwundert, dass sie allesamt gepflastert und für spanische Verhältnisse ungewöhnlich breit und sauber waren.
Die Briefe der deutschsprachigen Überseekandidaten aus dem „Warteraum Andalusien“ beinhalten neben landeskundlichen Informationen ausführliche Beschreibungen über die Sitten, Bräuche und angeblichen Eigentümlichkeiten der spanischen Bevölkerung. Die Missionare der deutschen Ordensassistenz betraten mit der Iberischen Halbinsel ein Gebiet, das sie bislang nur aus Erzählungen kannten. Ihr Blick auf Spanien war jedoch – vielleicht gerade deswegen – nicht ungetrübt und frei von Vorurteilen.
Mit der Bildung von Territorialstaaten in der Frühen Neuzeit erfuhren Völkerstereotype eine enorme Popularität in der breiten Bevölkerung. Bildmedien – wie die Völkertafeln – trugen dazu bei, dass sich bestimmte Vorstellungen vom eigenen Land wie von fremden Ländern in den Köpfen der Menschen festigten. So wurde Italien von seinen europäischen Nachbarn als das Land der Renaissance betrachtet, das Heilige Römische Reich als das Land der Reformation. Über Spanien wurden in der Frühen Neuzeit Topoi wiederbelebt, die es seit der Antike gab und die über das Mittelalter hinweg tradiert wurden. Den Spaniern wurde beispielsweise nachgesagt, dass sie zum Müßiggang neigten, einen mäßigen Lebensstil (sobrietas) hätten und einen würdevollen Auftritt (gravitas) pflegten, wobei diese Topoi nun an Schärfe gewannen. Die Spanier wurden zunehmend als faul und nachlässig, hochmütig, prahlerisch und arrogant bezeichnet.[8] Die deutschen Missionskandidaten rekurrierten bei der Beschreibung des spanischen Gegenübers oftmals auf gängige Motive und bekannte Interpretationsmuster. Pater Bentz war hier keine Ausnahme. Obgleich er an einigen Stellen versuchte, sich von geläufigen Vorurteilen zu distanzieren, bewegte er sich mit seiner Landes- und Sittenbeschreibung innerhalb der gängigen Diskursbahnen seiner Zeit.
Ein Beispiel für das Zurückgreifen auf tradierte Motive ist die Beschreibung der Fronleichnamsprozession in seinem Brief vom 4. Juli 1749. Spanien galt in der Frühen Neuzeit als Inbegriff eines katholischen Staates. Vor allem Andalusien zeichnete sich durch eine ausgeprägte, bisweilen exaltierte Volksfrömmigkeit aus, die sich in einer starken Marienverehrung, in einer intensiven Bußtradition und in einer theatralischen Prozessionskultur niederschlug.[9] An Fronleichnam fand die Prozessionskultur einen ihrer Höhepunkte. Im Zuge der konfessionellen Auseinandersetzung wurde die öffentliche Verehrung der Eucharistie zu einer demonstrativ katholischen Andachtsform. Dafür verantwortlich war vor allem die Gesellschaft Jesu.[10] Der pathetisch-theatralische Umgang mit der Eucharistie in Andalusien forderte die deutschen Jesuiten daher heraus, sich mit der Frage der adäquaten Präsentation des Leibes Christi in der Öffentlichkeit auseinanderzusetzen. Dabei rekurrierten sie auf gängige Deutungsmuster. Pater Bentz zeigte sich einerseits beeindruckt von dem feierlichen Charakter der Prozession an Corpus Christi. Gleichzeitig unterstellte er ihr ein rein possenhaftes Gebaren und griff einen Topos auf, der die weitverbreitete Auffassung der von Dekadenz zersetzten spanischen Nation versinnbildlichte: den des „närrisch-quichotesken Spaniers“.
Das Bild, das in Mitteleuropa von Spanien gezeichnet wurde, erfuhr im 17. Jahrhundert einen radikalen Wandel. Während Spanien bislang eine der dominierenden Weltmächte war, befand es sich seit der Jahrhundertmitte in einem rapiden politischen, ökonomischen und sozialen Abstieg. Der Verlust Portugals (1640), die Unabhängigkeit der Vereinten Niederlande (1648), Bevölkerungsrückgang, Inflation sowie eine Reihe angeblich schwacher Monarchen und zuletzt die Folgen des Spanischen Erbfolgekriegs (1701-1713/14) führten dazu, dass Spanien von ausländischen Mächten um die Jahrhundertwende kaum noch als ernsthafter Konkurrent angesehen wurde. War bis dahin das Paradigma der „Schwarzen Legende“ dominant, wonach Spanien als grausamer und religiös-fanatischer Tyrann auftrat, wurde Spanien von seinen zentraleuropäischen Nachbarn seit dem Ende des 17. Jahrhunderts als ein „exotisch-quijoteskes Kuriositätenkabinett“ betrachtet.[11]
Diese Vorstellung schlug sich auch in Bentz’ Fronleichnamsbeschreibung nieder. Bereits die einleitende Formulierung macht den Leser des Briefes auf das Komische der Szenerie aufmerksam. Die Sentenz etwas komme einem spanisch vor, findet sich bereits in Grimmelshausens Simplicissimus und wurde von da an zu einer feststehenden Redensart für Befremdendes, Unangenehmes und Komisches.[12] Nicht nur bei Pater Bentz findet sie Verwendung. Die Sentenz taucht als einleitende wie als resümierende Formulierung auch in anderen Prozessionsbeschreibungen aus der Feder deutscher Missionare auf.[13]
Für die Überseekandidaten war die kulturelle Prägung der jeweiligen Heimatprovinz Ausgangspunkt für ihre Wahrnehmung von Welt. Diese diente immer wieder als Vergleichsfolie, vor der die Missionare die ihnen unbekannte Realität zu deuten pflegten. Pater Bentz fand in der Tradition der süddeutschen Fasnacht einen passenden Anknüpfungspunkt, von dem aus er sich den Sinn der Fronleichnamsprozession zumindest teilweise zu erschließen hoffte. Die Erinnerung an die Münchener Fasnacht erleichterte es ihm, einen Zugang zum Verständnis spanischer Prozessionskultur zu finden. Der Vergleich suggerierte gar ein gewisses Maß an kultureller Erkenntnis, die jedoch rein oberflächlich blieb und dem Narrativ des „närrischen Spaniers“ wesentlichen Vorschub leistete.
Die Person des geschwätzigen und Brille tragenden Zuschauers tat ihr Übriges, um der Prozession den letzten Rest an sakraler Seriosität zu nehmen. Die Brille als typisches Modeaccessoire der Spanier war ein gängiges Motiv, das dem Topos des Närrischen zusätzlich Gestalt verlieh. Es findet sich bereits in Montesquieus Lettres persanes, einer Sammlung fiktiver Briefe, die 1721 erschien und den Grundstein für die antispanische Polemik der französischen Aufklärung legte.[14]
In anderen Beschreibungen aus jesuitischer Feder wird die Fronleichnamsprozession gerne als „lächerlich“, als „Comödi“ oder als „Gauckelwesen“ bezeichnet.[15] Im Vergleich dazu fällt der Tonfall der Bentzschen Beschreibung eher gemäßigt aus. Während der Spott unterschwellig bleibt, äußerte Bentz seine Kritik direkt und machte dadurch seinen Standpunkt deutlich. Er monierte, dass das närrische Treiben die Andacht störe und die Erbauung sehr schlecht sei. Zudem kritisierte er die liturgischen Fähigkeiten der spanischen Kleriker, indem er kommentierte, dass man „in disen ländern nichts weis von seegen geben“. Wie viele seiner Gefährten schrieb Bentz aus der Perspektive des Zaungastes. Dies schlug sich darin nieder, dass er sich auf den Ablauf der Prozession beschränkte und sich am rein Äußerlichen abarbeitete. Nach dem tieferliegenden Sinn der Theatralik oder dem Zweck profaner Figuren wie der tarasca oder des cabezudo fragte er hingegen nicht. Die oberflächliche Beschreibung bewirkte eine Komplexitätsreduktion der sakralen Prozessionsliturgie, die dazu führte, dass beim Leser nichts anderes übrigblieb als der Eindruck närrischer Folklore. Ein kultureller Erkenntnisgewinn war dadurch nicht möglich, weder für Bentz noch für seinen Ordensbruder in der Heimat. Ob Bentz bewusst den Topos des Närrisch-Quijotesken aufgriff, um die spanische Prozessionspraxis zu diskreditieren, ist unklar. Folgenreicher ist die Tatsache, dass er im Rahmen der innerkatholischen Auseinandersetzung um die adäquate Umgangsform mit dem Leib Christi zur Verbreitung, Tradierung und Verhärtung des despektierlichen barocken Spanienbildes beitrug.
Wider den gängigen Diskurs äußerte sich Bentz hingegen zur Höflichkeit der Spanier gegenüber ausländischen Geistlichen. Obgleich die auswärtigen Missionskandidaten mit der Zulassung zur spanischen Überseemission im Dienst der spanischen Krone standen, liest man in etlichen Missionarsbriefen deutliche Klagen über unhöfliches und überhebliches Verhalten der Spanier gegenüber den deutschsprachigen Überseekandidaten. Dreh- und Angelpunkt für Ressentiments auf beiden Seiten bildete oftmals die Sprache. Galt das Deutsche für die Spanier als Inbegriff des Luthertums und somit als Ketzersprache, so warfen die deutschsprachigen Missionare den Spaniern Spracharroganz vor und bedienten gleichzeitig ein geläufiges Motiv antispanischer Polemik. Dass Bentz in diesem Zusammenhang die gängigen Diskursbahnen verließ, war der unmittelbaren Erfahrung geschuldet. Seine Äußerung, wonach ein Spanier es nicht für nötig hielt, den Hut zu ziehen, obwohl eine Schar von hundert spanischen Geistlichen vorbeizog, sich jedoch hundert Spanier versammelten und sich vor einem einzigen deutschen oder böhmischen Geistlichen „bis auf die erdten“ neigten, mag reine Rhetorik sein. Sie unterstreicht jedoch, wie beeindruckt Bentz von dem wertschätzenden Verhalten war, das die Spanier den ausländischen Gästen entgegenbrachten, und betont gleichzeitig seinen Willen, sich über ein gängiges Vorurteil hinwegzusetzen.
Der Brief vom 4. Juli 1749 zeigt stellvertretend für viele Missionarsbriefe aus dem „Warteraum Andalusien“, dass kulturelles Wissen vom Zusammenspiel tradierter Diskurse, kollektiver Standpunkte und individueller Erfahrungen abhing. Beschränkten sich die Überseekandidaten bei der Beschreibung spanischer „Andersartigkeiten“ auf die Rolle des Zaungastes, griffen sie eher auf geläufige Motive zurück, mit der Folge, dass ihnen der Zugang zum hermeneutischen Verstehen des „bekannten Unbekannten“ versagt blieb. Hingegen barg die unmittelbare und aktive Konfrontation mit dem vermeintlich Fremdartigen die Chance, vorgefertigte Meinungen über Bord zu werfen und einen interkulturellen Erkenntnisprozess in Gang zu setzen.
Die Missionare der Gesellschaft Jesu waren als globale Akteure kulturelle Grenzgänger. Um unter den autochthonen Zivilisationen jenseits der Ozeane bestehen zu können, mussten sie ein hohes Maß an kultureller Empathie aufbringen. Die Kulturen auf dem amerikanischen Kontinent waren äußert vielschichtig und verfügten über weit zurückreichende Traditionen und komplexe Kommunikationssysteme. Zudem gab es eine Vielzahl an Religionen mit diversen Riten und Kulten. Die Komplexität der autochthonen Glaubenssysteme stellte die Missionare immer wieder vor Herausforderungen. Eine oberflächige Indoktrination der christlichen Lehre war zum Scheitern verurteilt; nur das tiefgründige Begreifen der fremden Kultur- und Glaubenspraktiken ermöglichte es den Missionaren, religiöse, spirituelle und kosmologische Codes zu entschlüsseln und christliche Inhalte gezielt zu platzieren.
Obgleich die zentraleuropäischen Missionskandidaten mit der Iberischen Halbinsel kulturelles Neuland betraten, war das Ausmaß des Kulturschocks an der Südwestgrenze Europasnicht zu vergleichen mit dem, was sie in Übersee erwartete. Der „Warteraum Andalusien“ konfrontierte sie dennoch mit kulturellen Differenzen, die sie aufforderten, gängige Lesarten und Deutungsmuster zu hinterfragen, und war daher ein geeignetes Testfeld für die Mission in Übersee.
Literaturhinweise
Markus Friedrich, Die Jesuiten. Aufstieg, Niedergang, Neubeginn, München 2016.
Debora Gerstenberger, Iberien im Spiegel frühneuzeitlicher enzyklopädischer Lexika Europas. Diskursgeschichtliche Untersuchung spanischer und portugiesischer Nationalstereotypen des 17. und 18. Jahrhunderts, Stuttgart 2007.
Bernd Hausberger, Jesuiten aus Mitteleuropa im kolonialen Mexiko. Eine Bio-Bibliographie, München 1995.
Ulrike Hönsch, Wege des Spanienbildes im Deutschland des 18. Jahrhunderts. Von der Schwarzen Legende zum „Hesperischen Zaubergarten“, Tübingen 2000.
Heinz Schilling, Del imperio común a la leyenda negra. La imagen de España en la Alemania del siglo XVI y comienzos del siglo XVII, in: Miguel Á. Vega Cernuda und Henning Wegener (Hrsg.), España y Alemania. Percepciones mutuas de cinco siglos de historia, Madrid 2002.
[1] Essay zur Quelle: Auszüge eines Briefes des Paters Anton Maria Bentz S.J. vom 4. Juli 1749 aus El Puerto de Santa María, in: Themenportal Europäische Geschichte, 2022, URL: <https://www.europa.clio-online.de/quelle/id/q63-75488>.
[2] Vgl. Markus Friedrich, Die Jesuiten. Aufstieg, Niedergang, Neubeginn, München 2016, S. 393 ff.; Bernd Hausberger, Jesuiten aus Mitteleuropa im kolonialen Mexiko. Eine Bio-Bibliographie, München 1995, S. 38 ff.
[3] Vgl. Hausberger, Jesuiten aus Mitteleuropa, S. 122 f.
[4] Vgl. Anton Maria Bentz, Brief aus El Puerto de Santa María, 4. Juli 1749, an Unbekannt, Bayerisches Hauptstaatsarchiv [BayHStA], Jes. 609/4, fol. 7r-8v. Im Folgenden stammen alle Quellenzitate, soweit nicht anders vermerkt, aus den hier abgedruckten Quellenausschnitten. Teilweise wird auch Bezug auf Bentz’ weitere Briefe aus El Puerto de Santa María genommen (BayHStA, Jes. 609/3; 609/5; 609/6; 609/7; 609/8).
[5] Vgl. Hausberger, Jesuiten aus Mitteleuropa, S. 38 ff.
[6] Vgl. ebd., S. 39 f.
[7] Das Konzept der „compañera del imperio“ geht zurück auf den Philologen Antonio de Nebrija (1441-1522). Im Prolog seiner Gramática de la lengua castellana von 1492 entwirft er das erste Mal diese Idee; vgl. dazu Franz-Josef Klein, Nebrija gab nur das Stichwort. Lesarten des Prinzips ›lengua compañera del imperio‹ im Siglo de Oro, in: Romanische Forschungen 107 (1995), S. 285-313.
[8] Vgl. Heinz Schilling, Del imperio común a la leyenda negra. La imagen de España en la Alemania del siglo XVI y comienzos del siglo XVII, in: Miguel Á. Vega Cernuda und Henning Wegener (Hrsg.), España y Alemania. Percepciones mutuas de cinco siglos de historia, Madrid 2002, S. 38; sowie Debora Gerstenberger, Iberien im Spiegel frühneuzeitlicher enzyklopädischer Lexika Europas. Diskursgeschichtliche Untersuchung spanischer und portugiesischer Nationalstereotypen des 17. und 18. Jahrhunderts, Stuttgart 2007, S. 151 f.
[9] Vgl. Manuel Castillo Martos und Joaquín Rodríquez Mateos, Sevilla barroca y el siglo XVII, Sevilla 2017, S. 389 ff., S. 468-527.
[10] Vgl. Friedrich, Die Jesuiten, S. 161 f.
[11] Vgl. Ulrike Hönsch, Wege des Spanienbildes im Deutschland des 18. Jahrhunderts. Von der Schwarzen Legende zum „Hesperischen Zaubergarten“, Tübingen 2000, S. 26 ff., S. 63; sowie Schilling, Del imperio común a la leyenda negra, S. 38.
[12] Vgl. Hönsch, Wege des Spanienbildes, S. 11.
[13] Vgl. beispielsweise Rainald Fischer (Hrsg.): P. Martin Schmid SJ (1694-1772). Seine Briefe und sein Wirken, Zug 1988, S. 46.
[14] Vgl. Gerstenberger, Iberien im Spiegel, S. 160.
[15] Vgl. Joseph Stöcklein, u.a. (Hrsg.), Der Neue Welt-Bott. Allerhand so Lehr- als Geistreiche Brief, Schriften und Reise-Beschreibungen […], Augsburg u.a., 1726-1761, Nr. 755, S. 48, Nr. 751, S. 29, Nr. 31, S. 97.