Der Europäische Gerichtshof als “Motor der Integration”[1]
Von Lukas Herget
Eine Kontrolle des Wettbewerbs, insbesondere bei der Fusion marktbeherrschender Unternehmen, gehört heute zur beinahe selbstverständlichen Regulierungskompetenz der Europäischen Kommission. Die Grundlagen für die rechtliche Implementierung dieses Regulierungsinstruments wurden aber nicht von den Mitgliedstaaten, sondern von anderen europäischen Institutionen gelegt, nämlich von der Kommission und dem Europäischen Gerichtshof (EuGH). 1971 hatte die Kommission, als Wettbewerbsbehörde des Gemeinsamen Marktes, den EWG-Vertrag (Art. 86) auch als Rechtsgrundlage einer Fusionskontrolle herangezogen und auf dessen Grundlage erstmals einen Unternehmenszusammenschluss auf dem Gemeinsamen Markt in einer formellen Entscheidung untersagt.[2] In dem der Entscheidung zugrundeliegenden, gesellschaftsrechtlich komplex gelagerten Sachverhalt hatte der Verpackungsmittelhersteller, die Continental Can Company Inc. mit Sitz in New York, ihre Marktposition auf dem europäischen Markt zunächst dadurch verstärkt, dass sie ihre Beteiligung an dem größten europäischen Verpackungsmittelhersteller, der Schmalbach-Lubeca-Werke AG, auf ca. 85 Prozent erhöhte. Kurz darauf gründete die Continental Can eine Tochtergesellschaft, die Europemballage mit europäischer Niederlassung in Brüssel, und brachte in diese ihre Anteile an der Schmalbach-Lubeca ein. Anschließend erwarb die Europemballage mit Mitteln der Continental Can die Aktienmehrheit an der niederländischen Thomassen & Drijever-Verblifa N.V., einem weiteren Verpackungsmittelhersteller auf dem Gemeinsamen Markt, der bereits Lizenznehmer der Continental Can war. Damit erhöhte sich der Anteil der Continental Can an diesem Unternehmen auf ca. 91 Prozent.[3] In diesem Vorgang sah die Kommission einen Verstoß gegen Art. 86 EWG-Vertrag und führte in ihrer Entscheidungsbegründung in Art. 1 aus, „daß die Continental Can Company Inc. […] über ihre Tochtergesellschaft, die Schmalbach-Lubeca AG, […] auf einem wesentlichen Teil des Gemeinsamen Marktes eine beherrschende Stellung auf dem Markt der Leichtverpackungen […] innehat“ und diese „mißbräuchlich ausgenutzt hat, indem sie […] über ihre Tochtergesellschaft Europemballage Corp. etwa 80 % der Aktien […] des niederländischen Unternehmens Thomassen & Drijever-Verblifa N.V. […] erworben und dadurch den Wettbewerb […] auf einem wesentlichen Teil des Gemeinsamen Marktes praktisch ausgeschaltet hat“. In Art. 2 heißt es weiter, dass die Continental Can daraufhin verpflichtet wird, „die in Artikel 1 festgestellte Zuwiderhandlung gegen Artikel 86 des Vertrages zur Gründung der EWG abzustellen“.[4]
Auch wenn diese Entscheidung erstmals die Untersagung eines Unternehmenszusammenschlusses auf dem Gemeinsamen Markt markierte, kam sie für die betroffenen Unternehmen nicht völlig unerwartet. Im Vorfeld hatte die Kommission diese nämlich bereits schriftlich darüber informiert[5], dass der geplante Vorgang möglicherweise nicht mit Art. 86 EWG-Vertrag im Einklang steht; zudem wurde die Anwendbarkeit von Art. 86 EWG-Vertrag als Zusammenschlusskontrollvorschrift bereits seit Beginn der 1960er Jahre diskutiert und Mitte der 1960er-Jahre sowohl von einer Expertengruppe als auch von der Kommission selbst in ihrem sogenannten Konzentrationsmemorandum 1966 bejaht.[6] Diese wettbewerbspolitischen und rechtlichen Debatten über die Anwendbarkeit von Art. 86 EWG-Vertrag verliefen parallel zu den wirtschaftlichen Entwicklungen der 1960er-Jahre. Anfang der 1960er-Jahre kam es im Zuge der Marktintegration und den immer stärker auf den Gemeinsamen Markt vordringenden US-amerikanischen Unternehmen zu einem sukzessiven Anstieg der Unternehmenszusammenschlüsse („Merger-Boom“).[7] Im Hinblick auf die zunehmende internationale Konkurrenz wurde dieser zwar zunächst überwiegend positiv bewertet[8], der sich dabei abzeichnende Wandel der Unternehmens- und Marktstrukturen nahm aber während der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre und vor dem Hintergrund der Wahrnehmung zunehmender wirtschaftlicher Unsicherheiten nochmals zu und setzte die Kommission sukzessive unter Handlungsdruck. Konkret erhöhte sich zwischen 1962 und 1970 die Zahl der Zusammenschlüsse innerhalb der Gemeinschaft von 173 auf 612 und damit um den Faktor 3,5, wobei die Steigerungsrate zwischen 1966 und 1970 beinahe doppelt so hoch war wie zwischen 1962 und 1966.[9] In den Sitzungen der Generaldirektion Wettbewerb wurden daher bereits 1963 erste Vorschläge zur Anwendbarkeit von Art. 86 EWG-Vertrag auf Zusammenschlüsse diskutiert[10], eine konkrete Entscheidung auf Grundlage der anschließend im Konzentrationsmemorandum dazu veröffentlichten Rechtsauffassung der Kommission blieb bis zum Fall Continental Can allerdings aus. Zum Zeitpunkt der Entscheidung des EuGH 1973 lag somit weder eine gefestigte Entscheidungspraxis der Kommission als Orientierungsgrundlage noch ein Urteil des EuGH in dieser Frage vor. Und auch in der juristischen Öffentlichkeit war die rechtliche Frage der Anwendbarkeit von Art. 86 EWG-Vertrag auf Zusammenschlüsse höchst umstritten.[11]
In seinen das spätere Urteil des EuGH vorbereitenden Schlussanträgen stellte der Generalanwalt am EuGH, Karl Roemer, daher abschließend fest, dass das Vorgehen der Kommission, den Zusammenschluss nachträglich zu untersagen, in Art. 86 EWG-Vertrag keine „Rechtsbasis“[12] finde und deshalb aufgehoben werden müsse.[13] Der EuGH entsprach zwar dieser Forderung und hob die Entscheidung der Kommission in seinem Urteil auf, in seinen rechtlichen Ausführungen folgte er aber der Argumentation des Generalanwaltes hinsichtlich der Anwendbarkeit des Art. 86 EWG-Vertrag auf Unternehmenszusammenschlüsse nicht. Im Gegenteil stellte das Gericht vielmehr fest, dass der Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung im Sinne des Art. 86 EWG-Vertrag grundsätzlich auch in der Verstärkung einer beherrschenden Stellung durch einen Zusammenschluss gesehen werden könne und bestätigte so das Vorgehen der Kommission prinzipiell. Noch methodisch sauber verwiesen die Richter für eine derart gelagerte Auslegung von Art. 86 EWG-Vertrag zwar auf den „Aufbau und Wortlaut von Artikel 86 [EWG-Vertrag] sowie auf System und Ziele des Vertrages“, einigermaßen mysteriös fügten sie aber ausdrücklich hinzu, dass zur Entscheidung dieser Frage auch auf den „Geist“ des Vertrages „zurückgegriffen werden“ müsse.[14]
Vor dem Hintergrund dieser Argumentation war es nicht erstaunlich, dass das Urteil zum Teil deutlich kritisiert wurde. Eine solche Auslegung des Art. 86 EWG-Vertrag käme, so Teile der juristischen Experten, der Einführung einer Fusionskontrolle contra legem, also gegen den Wortlaut des Art. 86 EWG-Vertrag und unter Verkennung seiner Entstehungsgeschichte, gleich.[15] Ihre argumentative Grundlage fand diese Kritik vor allem darin, dass innerhalb der Debatten über die kartellrechtlichen Vorschriften des EWG-Vertrages explizit eine Entscheidung gegen die Einführung von allgemeinen Fusionskontrollvorschriften getroffen wurde. Denn hätten die verhandelnden Regierungen eine Fusionskontrolle für den Gemeinsamen Markt implementieren wollen, so hätten sie, so die Kritiker, eine dem Art. 66 EGKS-Vertrag, der die Zusammenschlusskontrolle für den Geltungsbereich des EKGS-Vertrags regelt, entsprechende Vorschrift für den Gemeinsamen Markt in den EWG-Vertrag aufnehmen müssen.[16] Da die Kommission wie alle Gemeinschaftsorgane nur dazu befugt war, innerhalb der Bereiche tätig zu werden, für die sie durch den EWG-Vertrag ermächtigt wurde, wäre die Anwendung von Art. 86 EWG-Vertrag als Fusionskontrollvorschrift, unter Zugrundelegung dieser Argumentation, also eine primärrechtlich in hohem Maße problematische Erweiterung der Regulierungskompetenzen. Gegen eine systematische Anwendung von Art. 86 EWG-Vertrag als Fusionskontrollvorschrift sprach aus unternehmerischer Sicht vor allem die Möglichkeit des nachgeschalteten Fusionsverbotes. Die sich daraus ergebende Notwendigkeit einer Entflechtung des Zusammenschlusses wäre so unter Umständen Jahre nach dem Vollzug des Zusammenschlusses durchzuführen und daher mit erheblichen Kosten und Risiken verbunden gewesen.
Dass oberste Gerichte Auslegungsmethoden im Interesse der Erweiterung von Kompetenzen durchaus ausdehnen, auch Generalklauseln dazu nutzen, um Gesetze an neue wirtschaftliche Herausforderungen anzupassen und so faktisch sogar neue Regelungen schaffen, ist zwar mit Blick auf die Gewaltenteilung problematisch, in der Justizgeschichte zumal gegenüber wirtschaftlichen Akteuren aber nicht neu. Als bekanntes Beispiel dafür gilt bis heute die Überwindung des währungsrechtlichen Nominalprinzips während der Inflationszeit der 1920er-Jahre.[17] In seiner später als Aufwertungsrechtsprechung bekannt gewordenen Spruchpraxis machte sich das Reichsgericht die Generalklausel des § 242 BGB und den dort verankerten Vertragsgrundsatz von „Treu und Glauben“ zunutze, um die wirtschaftlichen Folgen der Hyperinflation für die Gläubiger von Geldschulden abzufedern. Statt das währungsrechtliche Nominalprinzip zu berücksichtigen, wendeten die Richter § 242 BGB an und werteten unter Zuhilfenahme des darin enthaltenen Grundsatzes die Schulden anteilig um den inflationsbedingt veränderten Geldwert auf (sogenannte Aufwertung).[18] Dieses Vorgehen entsprach weder dem Vertragsgefüge in dem zugrundeliegenden Fall noch dem zu dieser Zeit vorherrschenden geltenden Rechtsverständnis und war damit methodisch höchst umstritten.
Reiht sich das Continental Can Urteil also nur in eine juristisch-methodisch zwar umstrittene, aber seit Jahrzehnten für andere Fälle analog praktizierte Rechtsprechungstradition nationaler oberster Gerichte ein und verschiebt diese auf die europäische Ebene? Um den besonderen Stellenwert des EuGH-Urteils im Fall Continental Can zu erkennen, bedarf es weniger einer formaljuristischen Analyse der Entscheidungsbegründungen und eines Messens dieser an normativen, methodischen Vorgaben als einer Betrachtung der rechtspolitischen Auswirkungen des Urteils auf den europäischen Rechtsetzungs- und Integrationsprozesses insgesamt. Ermutigt durch das Urteil, erarbeitete die Kommission noch im Jahr der Entscheidung eine Verordnung, mit dem Ziel, Zusammenschlüsse von gemeinschaftsweiter Bedeutung einer „systematischen Kontrolle“[19] zu unterwerfen, und legte diese dem Ministerrat zur Abstimmung vor.[20] Eine solche Rechtsetzungskompetenz der Kommission hatte erst der EuGH durch seine Entscheidung rechtssicher begründet. Darin liegt das Besondere der Entscheidung. Betrachtet man vor diesem Hintergrund nochmals die Entscheidungsgründe, so ist weniger die Auslegungsmethodik als vielmehr das Prüfungsvorgehen der Richter im Zusammenhang mit Art. 86 EWG-Vertrag bemerkenswert. Dieser besagt:
„Mit dem Gemeinsamen Markt unvereinbar und verboten ist die mißbräuchliche Ausnutzung einer beherrschenden Stellung auf dem Gemeinsamen Markt oder auf einem wesentlichen Teil desselben durch ein oder mehrere Unternehmen, soweit dies dazu führen kann, den Handel zwischen Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen. […]“
Der EuGH prüfte zwar das Vorliegen einer „beherrschenden Stellung“ und stellte aufgrund einer von der Kommission fehlerhaft vorgenommenen Marktabgrenzung fest, dass eine solche für die Schmalbach-Lubeca AG auf einem wesentlichen Teil des Gemeinsamen Marktes nicht vorlag.[21] Wenn keine „beherrschende Stellung“ des Unternehmens angenommen werden konnte, hätten die Luxemburger Richter die Kommissionsentscheidung nach dem Wortlaut des Art. 86 EWG-Vertrag verwerfen können, was sie aber nicht taten. Stattdessen prüften die Richter unter dem Tatbestandmerkmal der „mißbräuchliche[n] Ausnutzung“ und dem Zusammenhang dieses Merkmals mit dem der „beherrschenden Stellung“ die Anwendbarkeit des Art. 86 EWG-Vertrag auf Zusammenschlüsse. Sie stellten dazu fest, dass ein missbräuchliches Verhalten auch dann vorliegen kann, „wenn ein Unternehmen in beherrschender Stellung diese dergestalt verstärkt, daß der erreichte Beherrschungsgrad den Wettbewerb wesentlich behindert, daß also nur noch Unternehmen auf dem Markt bleiben, die in ihrem Marktverhalten von dem beherrschenden Unternehmen abhängen.“[22] . Unter dieser selbst gesetzten Auslegungsvorgabe verwarfen die Richter die grundlegende Unterscheidung zwischen dem Missbrauch als Verhaltensmerkmal und der bloßen Änderung der Marktstruktur, mit dem Ergebnis, dass Art. 86 EWG-Vertrag Zusammenschlüsse erfasst – unabhängig von der Art und Weise ihres Zustandekommens –, allerdings nur sofern sie zu einer wesentlichen Behinderung des Wettbewerbs beitragen.[23]
Der EuGH kam so letztlich im Einklang mit der Kommissionsentscheidung zu dem Ergebnis, dass die Regelung unter bestimmten, eng gefassten Voraussetzungen dazu geeignet sei, als Zusammenschlusskontrollvorschrift zu fungieren. Erstaunlich ist dieses Vorgehen aus zwei Gesichtspunkten: Erstens geht das Gericht über den klaren Wortlaut des Art. 86 EWG-Vertrag hinweg, indem im Ergebnis der Handlungsspielraum der Vorschrift erweitert wird. Zweitens nutzt es den selbst geschaffenen Entscheidungsspielraum dafür, im Wege des Richterrechts auch eine (allgemeine) Zusammenschlusskontrolle auf europäischer Ebene zu ermöglichen. Er betrieb so unmittelbar Rechtspolitik unter dem Deckmantel einer gerichtlichen Entscheidung und stützte inhaltlich damit nicht nur die wettbewerbspolitische Haltung der Kommission, die auf Gemeinschaftsebene eine Fusionskontrollkompetenz implementieren wollte. Der EuGH schuf damit zugleich unter den Chiffren traditionell juristischer Auslegungstechniken und -semantiken neues europäisches Recht, indem er die Grenzen der ihm vom EWG-Vertrag zugewiesenen Aufgabe als „Hüter der Verträge“ im Interesse der europäischen Institutionen ausdehnte.[24]
Um zu erkennen, wie tief der Eingriff in die Wettbewerbspolitik reichte, bedarf es einer Betrachtung der Ausführungen des EuGH zur Abgrenzung des relevanten Marktes im Zusammenhang mit der Feststellung einer „beherrschenden Stellung“. Setzt man hier ein rechtspolitisches Eingreifen voraus, indem der EuGH entsprechend seiner Rolle als supranationaler Akteur proeuropäisch die Kompetenz der Kommission zur Regulierung von Zusammenschlüssen auf der Grundlage des Art. 86 EWG-Vertrag erweitert, so erscheint es innerhalb dieses Vorgehens verwunderlich, dass die Voraussetzungen zur Marktabgrenzung in der Entscheidung vergleichsweise hoch angesetzt wurden. Die Anwendung des Art. 86 EWG-Vertrag als systematisches Regulierungsinstrument im Sinne des Urteils wäre somit zwar grundsätzlich möglich, unter Berücksichtigung der Entscheidungsgründe aber in praktischer Hinsicht für die Kommission kaum umsetzbar. Spiegelt man dieses zunächst ambivalent wirkende Vorgehen des EuGH jedoch vor dem Hintergrund der Verordnungskompetenz der Kommission gemäß der Art. 87 in Verbindung mit Art. 235 EWG-Vertrag, die diese unmittelbar nach dem Urteil wahrgenommen hatte, so liegt die Vermutung nahe, dass der EuGH ein regulatives Tätigwerden der Kommission beabsichtigt hatte und gerade wollte, dass die Kommission eine Verordnung für eine systematische Kontrolle von Zusammenschlüssen erarbeitet, statt den praktisch ungeeigneten Art. 86 EWG-Vertrag weiter heranzuziehen. Blickt man allerdings auf die Voraussetzungen für den Erlass einer geeigneten Verordnung, so war dazu eine einstimmige Entscheidung im Ministerrat erforderlich.[25] Dieses „integrationshemmende Rechtsetzungsverfahren“[26] markierte die Schwachstelle des EWG-Vertrages, denn es hatte zur Folge, dass Pfadabhängigkeiten gegenüber nationalen Ordnungsvorstellungen und die damit verbundene Frage nach der Durchsetzung wirtschaftspolitischer Interessen einzelner Mitgliedstaaten auf Gemeinschaftsebene erhebliches Gewicht zukamen. Jeder Mitgliedstaat konnte den Erlass der Verordnung allein mit seiner Gegenstimme blockieren, mit der Folge, dass eine Einigung auf den kleinsten gemeinsamen Nenner mit demjenigen Land drohte, das am wenigsten Interesse an der Verordnung hatte. Dass sich der EuGH innerhalb dieses komplexen Normsetzungsprozesses seiner Rolle als „political player“[27] durchaus bewusst war, lässt sich anhand einer Äußerung Pierre Pescatores, Kammerpräsident in dem über den Continental Can Fall entscheidenden Senat, unmittelbar im Anschluss an das Urteil erkennen. Zur „Rolle und Chance des Rechtes und des Richters innerhalb des europäischen Rechtssystems“ führte er auf einem Kongress aus, dass mangels Initiative des Gemeinschaftsgesetzgebers „der Richter, der vor dringenden Problemen steht, fast gegen seinen Willen dazu gedrängt [wird], relativ frei über die Hilfsmittel zu verfügen, die ihm dort, wo der Gemeinschaftsgesetzgeber keine Lösungskriterien anbietet, zur Verfügung stehen“. Er fügt hinzu, dass dies „auch die Erklärung von Schlußfolgerungen [sei], wie man sie z.B. in einem kürzlich ergangenen Urteil findet, das aufgrund seiner Kühnheit Eindruck gemacht hat (die Rechtssache Continental Can)“. Im Hinblick auf die Rechtslage zum Zeitpunkt der Entscheidung führt er zusätzlich noch an, dass „es sehr wünschenswert gewesen [wäre], wenn der Gemeinschaftsgesetzgeber seineGesetzgebungsbefugnis ausgeübt hätte oder wenn die Mitgliedsstaaten den Vertrag mit entsprechenden Zusätzen ausgestattet hätten, um die Fusionskontrolle, von der so viel gesprochen wurde, einzuführen“.[28]
Das Beispiel zeigt exemplarisch die Funktion des EuGH im europäischen Rechtsetzungs- und damit auch Integrationsprozess. Im Fall Continental Can hat das Gericht aktiv einen europäischen Rechtsetzungsprozess nicht nur angestoßen, sondern bereits die vertraglichen Kompetenzgrundlagen dafür entscheidend erweitert und in einem proeuropäischen Sinne beeinflusst. Die Auslegung des Art. 86 EWG-Vertrag war zwar umstritten. Gerichte, zumal in letzter Instanz, sind aber in der Lage, das bestehende Recht an veränderte wirtschaftliche Rahmenbedingungen anzupassen, und das gilt nicht nur für den EuGH. Besonderer Stellenwert kommt dem Urteil daher für den Entwicklungsprozess eines europäischen Wettbewerbsregimes insgesamt zu. Interessant sind dabei weniger die juristischen Kniffe der Richter bei der Auslegung des Gemeinschaftsrechts, sondern vielmehr das konkrete Prüfungsvorgehen als Mittel zur Verfolgung wettbewerbspolitischer Interessen, das letztendlich erst dazu führte, dass die Kommission eine Verordnung zur systematischen Kontrolle von Zusammenschlüssen erarbeiten und vorschlagen konnte. Vor dem Hintergrund der rechtlichen Rahmenbedingungen für den Erlass einer solchen Fusionskontrollverordnung lässt sich die wettbewerbspolitische Bedeutung der Entscheidung und die Rolle des EuGH innerhalb des Rechtsetzungsprozesses nochmals differenzierter bewerten. Am Beispiel der Fusionskontrolle zeigt sich deutlich, dass das Einstimmigkeitserfordernis dazu führte, dass der Gemeinschaftsgesetzgeber initiativ nur sehr begrenzt auf die wirtschaftlichen Dynamiken, hier die Konzentrationsentwicklungen und den Strukturwandel der 1960er-Jahre, reagieren konnte. Mangels gesetzlicher Regelungen wurden die Richter so „fast gegen ihren Willen dazu gedrängt“, im Zuge einer Entscheidung zu reagieren, und stießen mit dieser den Rechtsetzungsprozess erst an. Von den ehemaligen Kommissionsbeamten Manfred Caspari und Dieter Schwarzwird die Entscheidung damit retrospektiv zu Recht als das „retardierende Moment“ im europäischen Rechtsetzungsprozess bezüglich der Fusionskontrollverordnung bezeichnet[29] und stützt die inzwischen auch in den Sozialwissenschaften verbreitete Beschreibung des EuGH als „Motor der Integration“.[30] An ihr wird deutlich, mit welchen Mitteln der EuGH im Wege einer proeuropäischen Rechtsprechung Einfluss auf das Gemeinschaftsrecht genommen hatte. Bis heute hat er in dieser und vergleichbarer Art und Weise zahlreiche Grundsätze des Gemeinschaftsrechts wie beispielsweise den Vorrang des Gemeinschaftsrechts gegenüber dem nationalen Recht erst geschaffen. Betrachtet man dabei die vom EuGH betriebene „Rechtsfortbildung“ vom Ergebnis her, so steht diese oftmals der Wirkung von Richtlinien oder gar Vertragsrevisionen in keiner Weise nach.[31]
[1] Essay zu der Quelle Continental Can Urteil (EuGH) vom 21.02.1973, in: Themenportal Europäische Geschichte, 2022, URL: <https://www.europa.clio-online.de/quelle/id/q63-76367>.
[2] Siehe dazu die Entscheidung der Kommission: Europäische Kommission, Entscheidung vom 9.12.1971, ABl., Nr. L 7 vom 8.1.1972, S. 25–39.
[3] Zum Sachverhalt vgl. ebd., S. 25–35.
[4] Zum Ganzen ebd., S. 39.
[5] Ebd., S. 26 f.
[6] Vgl.: Europäische Kommission, Das Problem der Unternehmenskonzentration im Gemeinsamen Markt, Konzentrationsmemorandum, Denkschrift der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaftskommission vom 1.12.1965, Dokument SEK (65) 3500, in: Wirtschaft und Wettbewerb 16 (1966), H. 4, S. 330–347.
[7] Siehe: Bernhard Loeffelholz von Colberg, Nationale Unternehmenskonzentration als Antwort auf die amerikanische Herausforderung?, in: Europa Archiv 24 (1969), S. 573–580; Kyrill Farbmann, Die Reform der Fusionskontrollverordnung als ein Beispiel der Europäischen Normsetzungspolitik, Frankfurt am Main 2005, S. 41.
[8] Manfred Caspari / Dieter Schwarz, Europäische Fusionskontrolle. Ein Historienspiel, in: Clemens-August Andreae / Jochen Kirchhoff / Gerd Pfeiffer (Hrsg.), Wettbewerb als Herausforderung und Chance. Festschrift für Werner Benisch, Köln 1989, S. 383–397, hier S. 384.
[9] Parallel dazu verringerte sich die Anzahl der Unternehmen in den einzelnen Wirtschaftsbereichen auf dem Gemeinsamen Markt erheblich, siehe Europäische Kommission, Third Report on Competition Policy, 1974, S. 30 f.: „In some sectors the concentration process has already gone so far that only four manufacturers in such sectors are left in the Community. In many other cases there has been a substantial reduction in the number of firms, sometimes by as much as half.“
[10] Bereits 1962 begann man innerhalb der Generaldirektion Wettbewerb der Kommission damit, sich mit den Auswirkungen von Unternehmenskonzentrationen auf dem Gemeinsamen Markt zu befassen. In einer Sitzung mit dem Generaldirektor für Wettbewerb Hans von der Groeben, stellte Ernst-Joachim Mestmäcker, Sonderberater der Kommission in Wettbewerbsfragen, die Frage, „wie weit man Unternehmenszusammenfassungen im Rahmen von Art. 85 und 86 erfassen könne“. Er selbst schlug in einer Sitzung Anfang 1963 dazu vor, dass wenn „durch einen Unternehmenszusammenschluss ein Missbrauch ermöglicht wird, […] man vielleicht im Zusammenschluss selbst einen Missbrauch im Sinne des Art. 86 sehen“ könnte; Kurzprotokoll über die Besprechung der Herren von der Groeben, Mestmäcker, Möller, Albrecht, Wirsing und Schwartz am 17.1.1963 über die künftige Wettbewerbspolitik, 22.1.1963, ACDP, 01-659-001/1, Unterstreichung im Original.
[11] Siehe bereits: Lukas Herget / Louis Pahlow, Erwartungs(un)sicherheit durch Gerichte. Methoden und Chiffren der Justiz, in: Working Papers of the Priority Programme 1859. Experience and Expectation. Historical Foundations of Economic Behaviour, No 28 (December), Berlin 2020, S. 1–22, hier S. 15 ff.
[12] Schlussanträge Karl Roemer in der Rechtssache 6/72, vom 21.11.1972, S. 252–266, hier 258.
[13] Wörtlich heißt es (ebd., S. 257): „Demgegenüber ist es meines Erachtens im Interesse der Realisierung einer gesunden Wettbewerbsordnung der Gemeinschaft sinnvoller, zu zeigen, daß sich Artikel 86 [EWG-Vertrag] prinzipiell nicht für eine Fusionskontrolle eignet, als den Anschein zu erwecken, das bedeutsame Problem der Fusionskontrolle könne wenigstens teilweise bewältigt werden, indem man mit Hilfe einer extensiven Auslegung des Artikels 86 [EWG-Vertrag] Fälle erfaßt, in denen ohnehin nur ein unbedeutender, marginaler Restwettbewerb verschwindet, und die wettbewerbsrechtlich nicht die gravierendsten sind.“
[14] Siehe zum Ganzen: EuGH, Urteil vom 21.2.1973, Europemballage, S. 244.
[15] Wörtlich so: Joachim Lau, Das Problem der Fusionskontrolle in der Europäischen Gemeinschaft. Zum Verhältnis von Konkurrenz und Monopol unter besonderer Berücksichtigung des Continental-Can-Falles, Frankfurt am Main 1980, S. 98; für einen Überblick über die verschiedenen Streitpunkte und Argumente vgl. Dieter Krimphove, Europäische Fusionskontrolle, Köln 1992, S. 193 ff. mit weiteren Nachweisen.
[16] Für eine dezidierte Auseinandersetzung mit diesem Argument vgl. Krimphove, Europäische Fusionskontrolle, S. 195 ff. Dafür, dass sich die Signatarstaaten aktiv gegen die Einführung einer Fusionskontrolle für den Gemeinsamen Markt entschieden haben, spricht außerdem, dass im sogenannten Spaak-Bericht, einem rechtlich zwar unverbindlichen, aber als Verhandlungsgrundlage dienenden Vorschlag für die Ausgestaltung der Wettbewerbsregelungen, noch die Idee einer Fusionskontrolle enthalten war, dann aber nicht mehr in den EWG-Vertrag übernommen wurde; siehe: Bericht der Delegationsleiter des von der Konferenz von Messina eingesetzten Regierungsausschusses an die Außenminister, abgedruckt in: Jürgen Schwarz (Hrsg.), Der Aufbau Europas. Pläne und Dokumente 1945–1980, Bonn 1980, S. 277–334, hier S. 301.
[17] Siehe hierzu bereits: Herget / Pahlow, Erwartungs(un)sicherheit, S. 11–15.
[18] Entscheidung des Reichsgerichts: Urteil des V. Senats vom 28.11.1923, in: Reichsgericht in Zivilsachen 107, 1924, S. 78–94.
[19] Begrifflich so die Kommission selbst in ABl., Nr. C 92 vom 31.10.1973, S. 1–7, hier S. 1.
[20] Vorschlag einer Verordnung (EWG) des Rates über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen, veröffentlicht in: ABl., Nr. C 92 vom 31.10.1973, S. 1–7.
[21] Vgl. hierzu die Urteilsbegründung: EuGH, Urteil vom 21.2.1973, Europemballage, S. 247 ff.
[22] Ebd., S. 246.
[23] So auch Krimphove, Europäische Fusionskontrolle, S. 194; der EuGH bildet unter: „C – Zu Artikel 86 des Vertrages und zum Begriff der mißbräuchlichen Ausnutzung einer beherrschenden Stellung“ einen Prüfungspunkt, unter dem er Elemente der „beherrschenden Stellung“ und der „mißbräuchlichen Ausnutzung“ miteinander verbindet, um zur Anwendbarkeit des Art. 86 EWG-Vertrag auf Zusammenschlüsse Stellung nehmen zu können; EuGH, Urteil vom 21.2.1973, Europemballage, S. 243 ff.
[24] Begrifflich so schon Martin Höpner, Der Europäische Gerichtshof als Motor der Integration: Eine akteursbezogene Erklärung, in: Berliner Journal für Soziologie 21 (2011), S. 203–229, hier S. 224; so im Ergebnis auch schon Herget / Pahlow, Erwartungs(un)sicherheit.
[25] Die Kommission stützte sich bei ihrem Verordnungsvorschlag auf Art. 87 in Verbindung mit Art. 235 EWG-Vertrag, dies war jedoch nicht unumstritten; siehe dazu vor allem: Ernst-Joachim Mestmäcker, Fusionskontrolle im Gemeinsamen Markt zwischen Wettbewerbspolitik und Industriepolitik, in: Europarecht 22 (1988), S. 349–378, hier S. 365–373.
[26] Michael Miersch, Die europäische Fusionskontrolle. Inhalt und Problematik der EG-Fusionskontroll-VO NR. 4064/89 in materieller und wettbewerbspolitischer Sicht (Diss. iur. masch. Regensburg) 1991, S. 23.
[27] Siehe für diese Einordnung auch Anna Katharina Mangold, Gemeinschaftsrecht und deutsches Recht. Die Europäisierung der deutschen Rechtsordnung in historisch-empirischer Sicht, Tübingen 2011, S. 138–168.
[28] Zitat übersetzt und abgedruckt in: Jean de Richemont, Art. 86 EWG-Vertrag und Fusionskontrolle, in: Studienvereinigung Kartellrecht e.V. (Hrsg.), Neue Entwicklungen im EWG-Kartellrecht. V. Kartellrechtsforum, Brüssel 1973. Referate und Diskussionen, Köln 1975, S. 41–73, hier S. 70.
[29] Siehe dazu: Caspari / Schwarz, Europäische Fusionskontrolle, S. 383.
[30] Höpner, Der Europäische Gerichtshof, mit weiteren Nachweisen.
[31] Vgl. auch ebd.