Europäisierung der Erinnerung an das kroatische Konzentrationslager (KZ) Jasenovac. Wie europäisch sind post-sozialistische Gedenkmuseen?[1]
Von Ljiljana Radonić
[Frühere Version des Artikels: 2012]
Es ist keineswegs erstaunlich, in der Ausstellung einer KZ-Gedenkstätte ein antisemitisches Plakat aus dem Jahr 1942 zu finden. Dennoch fallen an diesem Exponat und dem Kontext, in dem es steht, zwei Dinge auf. Erstens die Bildunterschrift zu dem „propagandistisch-hetzerischen“ Ausstellungsplakat, die seit der Eröffnung der neuen Ausstellung in der KZ-Gedenkstätte Jasenovac im Jahre 2006 das Exponat untertitelt:
„Die Ustascha- und Nazipropaganda über die zerstörerische Wirkung von Juden wird durch die Tatsache widerlegt, dass in den ersten vier Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts Architekten und Bauunternehmer jüdischer Abstammung zahlreiche wichtigste öffentliche und Wohngebäude im Zentrum Zagrebs errichtet haben.“[2]
Unzureichender kann man Antisemitismus nicht begegnen, als gegen den Vorwurf des zersetzenden jüdischen Wesens den Hinweis auf architektonische Leistungen von Jüdinnen und Juden ins Feld zu führen. Wie die mit Davidsternen übersäte Schlange verdeutlicht, zielt der antisemitische Hass keinesfalls bloß auf den Vorwurf der Unproduktivität, sondern imaginiert Jüdinnen und Juden als für den ‚Volkskörper‘ lebensbedrohliches ‚Gegenvolk‘. In der Ausstellung bleibt es jedoch bei diesem kurzen Verhandeln von Antisemitismus.
Zweitens fällt auf, dass hier der Versuch unternommen wird, Antisemitismus, der zur Vernichtung von Jüdinnen und Juden führte, zu thematisieren, während der Hass auf SerbInnen und Romnija und Roma nicht erklärungsbedürftig erscheint. Von den rund 100.000 Opfern des KZ Jasenovac waren jedoch ungefähr die Hälfte SerbInnen, außerdem wurden mindestens 16.000 Romnija und Roma aus rassistischen Gründen ermordet. Der Genozid an diesen beiden Opfergruppen wird zwar in der Ausstellung erwähnt, der Hass auf sie jedoch im Gegensatz zum Antisemitismus nicht weiter erörtert. Damit wird die Besonderheit der Kollaboration des Ustascha-Regimes mit dem Dritten Reich nicht angesprochen: Der am 10. April 1941 nach der Zerschlagung Jugoslawiens ausgerufene Unabhängige Staat Kroatien (1941–1945), ein Gebilde von Hitlers und Mussolinis Gnaden, war ein seltenes Beispiel für ein Kollaborationsregime, das selbstständig Todeslager betrieb – und zwar im Gegensatz etwa zu den rumänischen Lagern in Transnistrien auf dem eigenen Staatsterritorium nur hundert Kilometer südöstlich der Hauptstadt Zagreb und nicht auf im Zweiten Weltkrieg erworbenem Gebiet.
Doch warum wird der Antisemitismus zum Gegenstand der Ausstellung gemacht, der Serbenhass aber nicht? Neben der „regionalen“ Erklärung, dass durch den Jugoslawien-Krieg der 1990er-Jahre die Auseinandersetzung mit der serbischen Bevölkerung in Kroatien erneut zu einem konfliktreichen Gegenstand wurde, sticht vor allem eine europäische Komponente heraus, die mit der Suche nach einem europäischen Umgang mit der Vergangenheit zu tun hat. Im Folgenden wird also die Frage diskutiert, in welchem Verhältnis das 2006 in einem Beitrittsstaat der Europäischen Union (wieder-)eröffnete KZ-Gedenkmuseum Jasenovac zu der „Europäisierung der Erinnerung“[3] nach 1989 steht.
Sucht man nach Vergleichsmöglichkeiten und besucht außer der Gedenkstätte Jasenovac noch ein anderes neueres Gedenkmuseum, das 2004 eröffnete Holocaust Memorial Center in Budapest, so werden zahlreiche Parallelen zwischen den beiden Museen offenkundig: Beide Ausstellungen sind betont dunkel gehalten, es dominieren persönliche Gegenstände der Opfer hinter Glas, Opfernamen in weißer Schrift auf schwarzem Hintergrund und Video-Interviews mit Überlebenden. Als ästhetisches Vorbild für diese neueren Gedenkmuseen dient das US Holocaust Memorial Museum in Washington, das beide Museen als Orientierungspunkt angeben.
Doch der politische Trend zur Einrichtung neuer Gedenkmuseen in post-sozialistischen Ländern lässt sich eher mit einer „Europäisierung der Erinnerung“ erklären. Diese lässt sich als Transformation der nationalen Perspektiven und Opfermythen fassen, als Veränderung der Geschichtsbilder im Sinne einer Anreicherung mit europäischen Bezügen. Die in der Nachkriegszeit vorherrschenden nationalen Opfer- und Widerstandserzählungen werden (zunächst vor allem in „westlichen“ Ländern) von der Frage nach der Verantwortung der eigenen Nation an begangenen Verbrechen abgelöst. Dieser Prozess ist eng verbunden mit der zunehmenden Bedeutung der Erinnerung an den Holocaust, der als „negative Ikone“[4] der Epoche ins Bewusstsein trat.
Die neue Entwicklung stammt auf zweifache Weise aus den USA: Zum einen transformierte die amerikanische Medienlandschaft die Shoa in ein konsumierbares Produkt (Beispiel Schindlers Liste); und zum anderen wurde der Holocaust zu einem universellen, moralischen Maßstab der Unterscheidung zwischen Gut und Böse. Gerade das Unvorstellbare daran trug zu seiner Entkontextualisierung bei, sodass er zum Sinnbild für die Opfererfahrung schlechthin wurde. Zahlreiche soziale und ethnische Gruppen berufen sich weltweit auf den Holocaust, um ihren Diskriminierungserfahrungen politische Geltung zu verschaffen. Das individuelle Opfer rückt dabei so stark in den Fokus des Gedenkens, dass der historische Kontext der jeweiligen Ereignisse eine immer geringere Rolle spielt. Diese Entwicklung wird gegenwärtig unter den Begriffen „Universalisierung“ bzw. „Kosmopolitisierung des Holocaust“ diskutiert.
In Europa weist dieser Trend noch eine zusätzliche, identitätsstiftende Komponente auf: Der Holocaust wird zu einem negativen europäischen Gründungsmythos. Das geeinte Europa nach 1945 wird als „Schicksalsgemeinschaft“ begriffen, die aus dem „Zivilisationsbruch Auschwitz“ eine Lehre gezogen und gemeinsame Strukturen entwickelt habe, um Ähnliches zu verhindern. In einer Zeit, in der nach einer europäischen Identität des neuen vereinigten Europa gesucht wird, die über eine Wirtschafts- und Währungsunion hinausgeht, erfüllt dieser Gründungsmythos eine identitätsstiftende Funktion. Am 27. Januar 2000, dem Jahrestag der Befreiung von Auschwitz, fand in Stockholm eine große internationale Holocaust-Konferenz statt, an der erstmals RegierungschefInnen aus 46 Ländern teilnahmen. Ein Ergebnis war die Empfehlung, alle Staaten sollten den 27. Januar oder ein anderes, national bedeutsames Datum als Holocaust-Gedenktag einführen. Damit wurden erste Ansätze unternommen, europäische „Erinnerungsstandards“ zu entwickeln, die auch bei der Osterweiterung der Europäischen Union (EU) zwar nicht offiziell, aber letztlich dennoch eine Rolle spielten.
So wurde das Holocaust Memorial Center in Budapest 2004 wenige Wochen vor dem EU-Beitritt eröffnet, obwohl die ständige Ausstellung erst 2006 fertiggestellt werden konnte und man somit ein fast leeres Gebäude mit einer kleinen temporären Ausstellung präsentierte. Es scheint ferner selbstverständlich, die Gedenkmuseen auf ein internationales Publikum auszurichten: Die Website des Jasenovac Memorial Museum ist zweisprachig, bei der des ungarischen Holocaust Memorial Center musste man in den ersten Jahren nach deren Veröffentlichung sogar auf der englischsprachigen Startseite auf die ungarische Flagge klicken, um überhaupt zur ungarischen Version zu gelangen. Im Holocaust Research Center in Oslo oder im Haus des Terrors in Budapest, das die Zeit von 1944–1989 behandelt, finden sich hingegen keinerlei englische Ausstellungstexte. Die ersten beiden scheinen also einen zusätzlichen Zweck zu erfüllen: die auch von außen wahrnehmbare Dokumentation der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. In Zeiten der zunehmend autoritären und geschichtsrevisionistischen Politik der regierenden Fidesz-Partei in Ungarn und eines anti-europäischen Backlash erweist sich das Holocaust Memorial Center aber als ein Hort der schonungslosen selbstkritischen Aufarbeitung ungarischer Mitverantwortung für den Holocaust – unabhängig davon, dass ein Symbol für die „Anrufung Europas“ im Zuge des EU-Beitritts entstanden war.
Der Versuch, dem Holocaust einen aktuellen Sinn, die moralische Legitimierung der EU, zuzuweisen, birgt jedoch mehrere Gefahren. Das komplexe Ereignis wird in der identitätsstiftenden Betrachtung aus dem historischen Kontext gelöst. Dabei wird meist von den konkreten Opfern und TäterInnen ebenso abstrahiert wie von der besonderen Rolle Deutschlands und Österreichs. Der Fokus auf das individuelle Opfer befördert ferner die Tendenz, alle im Zweiten Weltkrieg Getöteten ohne Rücksicht auf den Kontext als „gleichermaßen“ unschuldige Opfer zu deuten – etwa die deutschen Vertriebenen und Bombenopfer. Die Ereignisse des Zweiten Weltkrieges werden also einerseits enthistorisiert und andererseits als moralische Lehre verstanden: Weil man aus dem Holocaust gelernt habe, begreift man Opfer heutiger Konflikte, etwa „die Muslime“, „die Bosnier“ oder „die Palästinenser“ als „Juden von heute“. Damit wird aus der sinnlosen Vernichtung eine lehrreiche, sinnvolle Erfahrung, die somit auch einen positiven Effekt gehabt habe: ein neues, geeintes Europa. Die Annahme, man habe seine eigene Vergangenheit nun selbstkritisch „bewältigt“, erlaubte es deutschen PolitikerInnen und PublizistInnen, die Devise „Nie wieder Auschwitz“ für gegenwartspolitische Zwecke zu gebrauchen. So wurde im Zuge der Jugoslawien-Kriege mit aus dem Holocaust stammenden Ausdrücken wie „Rampe von Srebrenica“ und „ein neues Auschwitz im Kosovo verhindern“ operiert. Die Deutung der Trennung der Männer von den evakuierten Frauen und Kindern in Srebrenica 1995 als Selektion ähnlich jener an der Rampe von Auschwitz diente so später als Legitimation für den NATO-Krieg im Kosovo 1999, der ohne ein Mandat der Vereinten Nationen (UNO) stattfand.
Parallel zu dieser „Europäisierung des Holocaust“[5] kam es in den post-sozialistischen Staaten nach 1989 zu einem Neuaushandeln von Geschichte. Zusammen mit der staatssozialistischen Gesellschaftsordnung wurde auch die Geschichtserzählung vom „heldenhaften antifaschistischen Kampf“ delegitimiert. Im Zentrum der Erinnerung steht dort das Trauma der kommunistischen Verbrechen. Symbole, die hierzulande mit der Shoa assoziiert werden, wie etwa Eisenbahngleise, stehen in diesen Ländern für die Deportation in den Gulag. VertreterInnen post-sozialistischer Staaten fordern heute, die kommunistischen Verbrechen „in gleichem Maße“ zu verurteilen wie den Holocaust. Im Haus des Terrors in Budapest werden die Pfeilkreuzler, die mit dem Dritten Reich kollaborierten, mit den danach an die Macht gelangten Sozialisten zunächst gleichgesetzt. Diese vorgebliche Kontinuität wird sogar plakativ in einem Video in Szene gesetzt, in dem ein Darsteller die Pfeilkreuzler-Uniform aus- und die kommunistische anzieht. Bei näherer Analyse jenseits der gleichsetzenden Symbolik von Pfeilkreuz und rotem Stern zeigt sich jedoch, dass die sozialistische Ära als das weitaus größere Übel dargestellt wird.
Im Sinne der Totalitarismustheorie erklärte im Sommer 2009 das EU-Parlament den Jahrestag des Hitler-Stalin-Paktes von 1939, den 23. August, zum Tag des Gedenkens an die Opfer von Nationalsozialismus und Kommunismus. Damit wird nicht bloß das Gedenken an die Opfer des Stalinismus in den europäischen Kanon aufgenommen, sondern es werden ausdrücklich beide Regime miteinander gleichgesetzt. Das „eigene Volk“ wird erneut als ein unschuldiges Opfer grausamer Unterdrückung von außen (durch Stalin und Hitler) begriffen. Dadurch wird die Beteiligung der eigenen Gesellschaft am staatssozialistischen Herrschaftssystem geleugnet, die Verantwortung für die begangenen Verbrechen externalisiert, von sich weggeschoben.
In Kroatien als einem Nachfolgestaat des seit 1948 „blockfreien“ Jugoslawien geht es naturgemäß nicht um die Aufarbeitung sowjetischer Verbrechen, sondern um jene der Tito-Partisanen und späteren Kommunisten. Da die Vernichtungslager von den Ustascha betrieben wurden, bildet die Erinnerung an den „Unabhängigen Staat Kroatien“ den anderen Pol des Kampfes um die Erinnerung. Im Zentrum steht die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg, an Jasenovac und die von den Partisanen im Mai 1945 an der österreichisch-slowenischen Grenze bei Bleiburg begangenen Verbrechen an den flüchtenden Ustascha, Soldaten und ZivilistInnen. Im zweiten Teil des Textes wird deshalb erörtert, wie sich der Umgang mit dem Zweiten Weltkrieg im Zuge der Demokratisierung und Annährung Kroatiens an die EU veränderte. Wie entwickelte sich die kroatische Vergangenheitspolitik vom Revisionismus und einer defekten Demokratie der 1990er-Jahre zur Eröffnung eines mit – mehr geahnten als irgendwo ausformulierten – europäischen „Standards“ kompatiblen Gedenkmuseums Jasenovac in einer konsolidierten Demokratie?
Der Bruch mit dem antifaschistischen Narrativ der sozialistischen Ära führte auch in Kroatien zu einer – teils aus der Abgrenzung zum Vorgängerstaat verständlichen, größtenteils aber revisionistischen – Umkehrung der vergangenheitspolitischen Inhalte, deren wichtigstes Merkmal die Verharmlosung des „Unabhängigen Staates Kroatien“ war. Dieser sei laut dem in den 1990er-Jahren semi-autoritär regierenden Präsidenten Franjo Tuđman „nicht bloß eine faschistische Schöpfung, sondern auch der Ausdruck des jahrhundertelangen Strebens des kroatischen Volkes nach einem unabhängigen Staat“[6] gewesen. Der Dreh- und Angelpunkt der Vergangenheitspolitik wurde Tuđmans Projekt einer „nationalen Versöhnung“: Seinem Verständnis nach hätten Ustascha und Partisanen im Zweiten Weltkrieg beide auf ihre je eigene Art für die kroatische Sache gekämpft. Die beiden politischen Gegenpole, die sich im Zweiten Weltkrieg blutig bekämpft hatten, wurden nun im Sinn der kroatischen Sache als miteinander vereinbar dargestellt. Die Umdeutung der beiden Bewegungen hatte realpolitisch eine fast vollständige Delegitimierung der PartisanInnen aufgrund der von ihnen nach Kriegsende begangenen Verbrechen und eine vollständige Rehabilitation der Ustascha unter Leugnung oder Verharmlosung ihrer Verbrechen zur Folge. Dies führte zwar zu einer formellen Verankerung des Antifaschismus in der Verfassung. Alle konkreten Handlungen abseits dieses Lippenbekenntnisses, wie die Entfernung von fast 3000 PartisanInnendenkmälern, zahlreiche Straßenumbenennungen und der Rückgriff auf Ustascha-Symbole, beförderten jedoch einen Geschichtsrevisionismus und eine positive, nationale Identität stiftende Bezugnahme auf das Ustascha-Regime. Entsprechend seiner Versöhnungs-These entwickelte Tuđman ferner den Plan einer „nationalen Gedenkstätte“[7] Jasenovac: Die Opfer von Bleiburg und Jasenovac, in manchen Versionen auch jene der Kriege in den 1990er-Jahren, sollten gemeinsam auf dem KZ-Gelände begraben werden. Aufgrund internationaler Proteste vor allem aus den USA sowie der Kritik der wenigen freien Medien im Lande wurde dieser Plan jedoch nie realisiert.
Im Jahr 2000 brachte der Wahlsieg der von den Sozialdemokraten angeführten Koalition eine Demokratisierung mit sich: Die Befugnisse des Präsidenten wurden nach dem Tod Tuđmans beschnitten und die Medienlandschaft liberalisiert. Auch brach Premier Ivica Račan weitestgehend mit dem Geschichtsrevisionismus der Tuđman-Ära. Die symbolträchtigste Rücknahme der vergangenheitspolitischen Akte des Vorgänger-Regimes war die Umbenennung des Platzes der Opfer des Faschismus, jenem Platz, auf dem sich im Ustascha-Regime die Gestapo- und die Zentrale der Ustascha-Polizei befunden hatten. Dieser Platz war noch 1990 in Platz der kroatischen Größen umbenannt worden und erhielt im Jahr 2000 seinen früheren Namen zurück, womit den Protesten auf den jährlichen Kundgebungen gegen die Umbenennung von 1990 Folge geleistet wurde.
2003 gewann wieder die ehemalige Tuđman-Partei, die Hrvatska demokratska zajednica (HDZ, dt. Kroatische Demokratische Union), die Wahlen in Kroatien. Premier Ivo Sanader verfolgte nun jedoch einen europa-orientierten Kurs, was sich auch im Umgang mit dem Zweiten Weltkrieg auswirkte: 2005 trat Kroatien der Task Force for International Cooperation on Holocaust Education, Remembrance and Researchbei. Sanaders Regierung entfernte die Denkmäler für zwei Ustascha-Größen, Mile Budak und Jure Francetić, und startete eine Initiative zur Umbenennung jener siebzehn Straßen, die kroatienweit den Namen des Ustascha-Bildungsministers Mile Budak trugen. 2004 brach Sanader als erster HDZ-Spitzenpolitiker mit der Tradition, in Jasenovac neben den dort ermordeten Opfern auch die von Bleiburg zu erwähnen. 2005 stellte er bei der Gedenkveranstaltung in Jasenovac aber auch seine Kompatibilität mit den internationalen „Erinnerungsstandards“ unter Beweis, die den Begriff Holocaust zusehends als moralische Kategorie definieren, mit der auch andere Massenmorde bezeichnet werden. Er führte aus, dass auch „der Heimatländische Krieg [1991–1995] ein Kampf gegen eine Art von Faschismus“[8] war. Ähnlich argumentierte er bei seinem Besuch in der israelischen Shoa-Gedenkstätte Yad Vashem im selben Jahr, als er das „kroatische Leiden“ mit dem Holocaust gleichsetzte, denn „wir wurden Opfer eines so schrecklichen Wahnsinns, wie es der Nationalsozialismus und der Faschismus waren und wir, die Bürger Kroatiens, wissen am besten, was es bedeutet, Aggression zu ertragen“.[9] Die Holocaust-Gedenkstätte inspirierte ihn sogar dazu, über ein Museum des „Heimatländischen Krieges“ in Kroatien nachzudenken. Die Tatsache, dass diese Aussagen keinerlei Kritik nach sich zogen, zeigt, wie sehr sie im internationalen Trend liegen.
Die Wirkung der „Europäisierung der Erinnerung“ lässt sich jedoch am besten anhand der Debatten um die im November 2006 nach einigen Konflikten mit Verspätung eröffnete Ausstellung in der Gedenkstätte Jasenovac diskutieren. Einer der Hauptkritikpunkte war die zu Beginn ausgeführte Tatsache, dass dem Schicksal der Jüdinnen und Juden mehr Aufmerksamkeit gewidmet wurde als dem Massenmord an der serbischen und Roma-Bevölkerung. Auch die Übernahme des internationalen Trends, sich auf die einzelnen Opferschicksale zu fokussieren, wurde in den kroatischen Medien kritisiert, da die TäterInnen, also die Ustascha, nicht ausreichend thematisiert würden, ebenso wenig wie die Frage, welcher Nation oder ‚Rasse‘ die Ermordeten angehört hatten, wie und womit gemordet worden war (da Tötungen mit besonders brachialen Werkzeugen wie Hämmern üblich waren, wird Jasenovac vielfach als „Manufaktur des Todes“ bezeichnet, es gab nur selten Erschießungen und keine Gaskammer.) Es wurde gefordert, die geplante Namensliste der Opfer müsse Nationalitätenangaben, Alter und Geburtsort enthalten, um klarzustellen, dass dort nicht etwa nur „politische Gegner“ ermordet worden waren, wie dies in den 1990er-Jahren oft behauptet worden war.[10]
Die Direktorin verteidigte die Ausstellung für gewöhnlich mit dem Argument, sie sei von internationalen Holocaust-Experten gutgeheißen und gemäß „internationaler Standards“ entwickelt worden. Als besondere Qualität des Konzepts nennt sie die Orientierung am United States Holocaust Memorial Museum in Washington und dem Anne Frank Haus in Amsterdam. Nirgendwo in den Debatten wird jedoch die Tatsache reflektiert, dass sich die Aufgaben eines Museums auf einem KZ-Gelände von denen eines memorial museums in den USA, in Israel oder dem Versteck einer später deportierten Familie in Amsterdam wesentlich unterscheiden. Das Ergebnis ist eine Ausstellung, bei der die Opfer im Vordergrund stehen, aber leider so weit, dass der Tatsache, dass das Museum auf dem historischen KZ-Gelände steht, fast keinerlei Rechnung getragen wird. Der Lageralltag wird ebenso wenig beleuchtet wie die komplizierte Entwicklung und die wechselnden Lokalitäten des KZ-Komplexes. Ein wichtiger Schritt ist jedoch zweifelsohne, dass die Namen der Opfer (nun samt Nationalität und Geburtsjahr) erfasst und die Überhöhung der Opferzahlen im jugoslawischen und später serbischen Diskurs sowie die starke Untertreibung in der Tuđman-Ära behandelt werden.
In einem Land, in dem eine kritische Auseinandersetzung mit den Verbrechen des immer noch zu oft verharmlosend dargestellten Ustascha-Regimes erst am Anfang steht, hat die Ausrichtung an internationalen „Erinnerungsstandards“ eine paradoxe Wirkung: Der Fokus auf individuelle Opferschicksale, ZeitzeugInnenberichte und persönliche Gegenstände befördert eine Identifikation mit den Opfern und spart eine Aufarbeitung der TäterInnen-Perspektive aus, wie sie vor allem in einigen deutschen KZ-Gedenkstätten betrieben wird. „Die Ustascha“ werden zwar als TäterInnen benannt. Aber die „Europäisierung des Holocaust“ kulminiert in der ersten Fotografie der Ausstellung. Sie zeigt, wie der Ustascha-Führer Ante Pavelić Hitler im Juni 1941 die Hand schüttelt und ist mit diesen Worten untertitelt: „Bei dieser Gelegenheit gab Hitler Pavelić seine volle Unterstützung für die genozidale Politik gegen die serbische Bevölkerung.“ Wäre hier die Vernichtung der kroatischen Jüdinnen und Juden sowie Romnija und Roma in den europäischen Kontext gestellt worden, so entspräche das den historischen Tatsachen. Der Massenmord an den SerbInnen war jedoch eine Eigeninitative der Ustascha, die bei den Nationalsozialisten zum Teil auf Kritik stieß, weil sie für großen Zulauf zu den PartisanInnen sorgte.
In diesem Sinne könnte man sagen, diese Ausstellung in einem post-sozialistischen Land vor dem EU-Beitritt sei „zu europäisch“ bzw. erlaubt der Bezug auf den größeren europäischen Kontext eine Externalisierung der Verantwortung. Ein anderes Beispiel dafür ist die Übernahme des 27. Januar als kroatischem Holocaust-Gedenktag: Obwohl bei Weitem mehr Jüdinnen und Juden von den Ustascha innerhalb Kroatiens ermordet wurden und Deportationen nach Auschwitz erst spät einsetzten, wurde nicht etwa ein „national bedeutsames Datum“, etwa der Tag der Befreiung von Jasenovac, oder der Jahrestag des Ausbruchsversuchs aus dem Lager am 22. April 1945 als Gedenktag gewählt. Stattdessen übernimmt die kroatische Vergangenheitspolitik den europäischen Kanon und enthistorisiert die Spezifika der eigenen Geschichte.
Wenn man jedoch die Frage ernst nimmt, wie eine europäische Erinnerungskultur aussehen könnte, so lassen sich zwei unterschiedliche Tendenzen beobachten: Einerseits wurde in Brüssel ein Haus der europäischen Geschichte eröffnet und es gibt Versuche, ein europäisches Geschichtsbuch zu entwerfen. Dabei stellt sich jedoch die Frage, ob die Festschreibung einer Geschichte auf europäischer Ebene nicht die gleichen Gefahren mit sich bringt, wie dies nationale Geschichtserzählungen tun: Zum Zwecke der Schaffung einer gemeinsamen Identität wird ein minimaler Konsens über einen Geschichtskanon erzielt, der für alle, die ein Mitspracherecht haben, tragbar ist. Dabei müssen zwangsläufig die Erinnerungen bestimmter ethnischer Gruppen und gesellschaftlicher Schichten marginalisiert werden. Außerdem bleibt die Gefahr, dass das Erinnern bei einem derartigen Vorgehen in einen Kampf um Opferhierarchien umschlägt, der zu einer Verschärfung der Gegensätze zwischen Ost und West führen kann.
Eine andere Strategie könnte damit beginnen, sich in Ost- wie Westeuropa um eine bessere wechselseitige Kenntnis der Leidens- und Opfererfahrungen im 20. Jahrhundert zu bemühen. Dabei müssten jedoch Tendenzen wie die Gleichsetzung von Opferschicksalen (mit dem Holocaust) und die damit gegenwärtig verbundene Hierarchisierung der Opfer kritisch beleuchtet werden. Eine „europäische Erinnerungskultur“ könnte dann als selbstkritische Auseinandersetzung eines jeden Landes mit seiner eigenen Vergangenheit unter Ausrichtung an gemeinsamen europäischen Normen gedacht werden – als bewusste Distanzierung von traditionellem Nationalismus: im Sinne einer Vereinheitlichung von Praktiken und selbstkritischen politischen Positionierungen, nicht im Sinne einer Gleichmacherei von historisch-kulturellen Inhalten. Auch an scheinbar beliebigen Orten entkontextualisiert thematisierte individuelle Opferschicksale in sich gleichenden Ausstellungen sind somit zu hinterfragen.
[1] Essay zur Quelle: Juden – Eine Ausstellung über die Entwicklung des Judentums und ihre zerstörerische Arbeit in Kroatien vor dem 10. April 1941. Lösung der Judenfrage: Plakat in der ständigen Ausstellung des Jasenovac-Gedenkmuseums, Kroatien. Essay und Quelle sind in einer früheren Fassung online erschienen im Themenportal Europäische Geschichte, URL: .
[2] Übersetzung von L.R.
[3] Rousso, Henry, Das Dilemma eines europäischen Gedächtnisses, in: Zeithistorische Forschungen 1 (2004), S. 363–378.
[4] Diner, Dan, Gegenläufige Gedächtnisse. Über Geltung und Wirkung des Holocaust (Essays zur jüdischen Geschichte und Kultur; 7), Göttingen 2007, S. 7.
[5] Judt, Tony, Geschichte Europas. Von 1945 bis zur Gegenwart, München 2006.
[6] Franjo Tuđman 1990, zit. nach Goldstein, Ivo, Holokaust u Zagrebu [Holocaust in Zagreb] Zagreb 2001, S. 597, Übersetzung von L.R.
[7] N.N., Tuđman: Bez pomirbe ne bi bilo Hrvatske [Tuđman: Ohne Versöhnung gäbe es kein Kroatien], in: Vjesnik, 23.4.1996, S. 1, 5, Übersetzung von L.R.
[8] Lipovac, Marijan, 60. godina proboja: Sanader: Važno je da se zločini ne zaborave [60 Jahre nach dem Ausbruch: Sanader: Es ist wichtig, die Verbrechen nicht zu vergessen], in: Vjesnik, 25.4.2005, S. 4, Übersetzung von L.R.
[9] Körbler, Jurica, Drugi dan boravka u Izraelu, Sanader najavio: Hrvatska dobiva Muzej za žrtve Domovinskog rata [Zweiter Tag des Israel-Aufenthalts, Sanader kündigt an: Kroatien bekommt ein Museum für die Opfer des Heimatländischen Krieges], in: Vjesnik, 29.6.2005, S. 1, 3, Übersetzung von L.R.
[10] Vgl. Pavelić, Boris, Povjesničarka Zorica Stipetić govori za naš list o grubo općenitoj rezoluciji Vijeća Europe te uklanjanju povijesnog ambijenta iz novog postava Muzeja Jasenovac [Die Historikerin Zorica Stipetić spricht für unser Blatt über die grob verallgemeinernde Resolution des Europarates und die Entfernung des historischen Ambientes aus der neuen Ausstellung des Jasenovac-Museums], in: Novi list, 29.1.2006, S. 7, Übersetzung von L.R.